Schweitzer Fachinformationen
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Der VW Touran parkte vor der Garage. Wie immer war Valeries Bruder früher bei ihren Eltern eingetroffen. »Leg dich bloß nicht mit meinem Papa an«, mahnte ein Sticker in Warndreiecksform, den Vincent auf der Familienkutsche in Standardlackierung vermutlich für witzig gehalten hatte. Das Auto war heillos überladen - er schien mit seiner Bagage länger bleiben oder im Anschluss auf einen Trödelmarkt fahren zu wollen.
Valerie stellte ihren Mini Cooper in British Racing Green vor dem Haus ab, kramte ihre Handtasche aus dem Fußraum hervor und zückte ihr Handy. Noch mal tief durchatmen, in Ruhe einen Blick auf die Jobmails werfen, ehe gleich der Sturm über sie hereinbrechen würde. Ihre Chefin hatte sich ihre mit heißer Nadel gestrickte Präsentation angeschaut und wollte nun Feedback geben.
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tippte Valerie in ihr Handy und fragte sich, was ihr jetzt lieber wäre - der Austausch mit ihrer arbeitssüchtigen Chefin oder der Wahnsinn, der sie im Haus ihrer Eltern erwarten würde.
»Tante Veeeriiie!«, schallte es da schon vom Gartentor.
»Auf geht's«, sagte Valerie laut zu sich selbst und griff nach dem Blumenstrauß.
»Wie schön, dass du auch endlich kommst«, begrüßte ihre Mutter sie mit dem für sie typischen Unterton, der in Valerie den Drang auslöste, auf dem Absatz kehrtzumachen. Endlich - was sollte das denn heißen? Es war von Kaffee und Kuchen die Rede gewesen, und jetzt war Nachmittag. Kann ja nicht jeder so organisiert sein wie mein Superbruder mit seiner Superfrau, dachte sie.
Ihre Mutter war in dieser Woche einundsechzig geworden, und Vincent, der mit seiner Familie in Essen lebte, hatte am Vormittag einen Termin im nahe gelegenen Münster gehabt. So war die Idee eines gemeinsamen Kaffeetrinkens entstanden, zu dem Valeries Mann Tom es heute wohl nicht schaffen würde.
Valerie reichte ihrer Mutter den Blumenstrauß und bemühte sich, ihren dreijährigen Neffen Paul nicht über den Haufen zu rennen, der sich - sie kannte das von früheren Begegnungen - für den Angriff auf seine Tante bereit machte. Schon hatte er ihr rechtes Bein umschlungen, während ihr linkes noch einen Schritt nach vorne machte. Valerie geriet ins Straucheln. Ihre sündhaft teure Strickjacke verfing sich im ausladenden Trockenblumenstrauß, dessen Platzierung im Eingangsbereich Valerie noch nie verstanden hatte. Sie wankte, die Bodenvase auch. Dann gingen beide zu Boden.
»Paul!« Entsetzt eilte ihre Schwägerin Johanna zu Hilfe, warf wegen der zerstörten Porzellanvase einen nervösen Blick zu Valeries Mutter und begann, eine kleine Scherbe aus der roséfarbenen Strickjacke mit Seidenanteil zu zupfen. »Alles klar bei dir?«, fragte sie. Paul fing an zu brüllen.
Valerie verfluchte, dass ihre Eltern beim Hausbau in den Neunzigern auf damals schon nicht mehr aktuellen Waschbeton als Bodenbelag gesetzt hatten. Fassungslos starrte sie auf einen weiteren Porzellansplitter, der gerade aus ihrer Jacke gezogen wurde, gefolgt von einem langen Faden.
»Pass doch auf - die war teuer!« Schnaufend rappelte sich Valerie vom Boden auf.
»Die war teuer?« Der Schnappatmung nahe, weil ihre Bodenvase zerstört war, stürzte sich jetzt auch Valeries Mutter auf den Scherbenhaufen, um die größten Stücke herauszupicken. »Du musst mehr auf Qualität achten, Valerie! Der Preis allein ist es nicht.«
»In meiner Jacke stecken Scherben, Mama. Welcher Strick soll das mitmachen?«
»Schaff doch jemand die Kinder hier weg!«, polterte in diesem Moment Vincent, der aus dem Wohnzimmer kam.
»Bruderherz - schön, dich zu sehen«, begrüßte ihn Valerie.
Während Paul noch immer wie am Spieß schrie und seine Schwester Sophia aus Solidarität in das Geheul mit einstimmte, rettete sie sich in die deutlich ruhigere Küche.
»Ich mach mir schon mal einen doppelten Espresso«, kündigte sie an und beobachtete ihre Mutter, die gerade kopfüber im Vorratsschrank verschwand, um nach dem Handfeger zu suchen. »Wo ist Papa?«
»Im Garten. Geh doch mal raus zu ihm.«
Mit dem dampfenden Espresso in der Hand stellte sich Valerie in die Tür zur Terrasse und atmete tief durch. Wann immer sie von Düsseldorf ins Münsterland kam, hatte sie das Gefühl, die Landluft möglichst tief einsaugen zu müssen, um sie sich langfristig zu bewahren. Ihr Blick schweifte über das Grundstück ihrer Eltern und die Felder dahinter. Hier war, von der Jugenddisco im Pfarrheim mal abgesehen, wirklich nichts los. Entsprechend froh war sie gewesen, als sie das Abitur geschafft hatte und zum Studieren nach Münster gezogen war. In einer WG im beliebten Kreuzviertel hatte sie schnell Anschluss zu anderen Studierenden gefunden und das Leben in der Studentenstadt in vollen Zügen genossen.
Auch wenn sie Münster noch immer ein wenig vermisste, hatte sie an ihrem neuen Wohnsitz Düsseldorf auch bald Gefallen gefunden. Nach ihrem Abschluss in Kommunikationswissenschaften hatte sie bei better brands angefangen, einer der größten Werbeagenturen der Stadt, die weltweit bekannte Marken vertrat. Ihr Büro auf der Königsallee, die vielen Restaurants und Geschäfte, das Kulturangebot und die Lage direkt am Rhein - all das gefiel ihr. Sie arbeitete viel, feierte viel und schlief wenig. Das war mit Ende zwanzig kein Problem gewesen, doch in letzter Zeit merkte sie, dass die Agenturjahre Spuren hinterlassen hatten. Wenn sie morgens aufstand, fühlte sie sich alles andere als ausgeruht, schon beim Eintreffen im Büro war sie gestresst, und wenn sie nach einem langen Tag im Dienst anspruchsvoller Kunden nach Hause kam, völlig ausgelaugt. Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, die Nächte durchzuarbeiten. In letzter Zeit schon.
Daher genoss sie die Stille, während sie den Garten ihrer Eltern anschaute. Etliche Beete blühten noch bunt, obwohl es heute schon kühler war als noch vor einigen Tagen. Der Sandkasten strahlte frisch lackiert und machte beinahe Lust, sich selbst hineinzusetzen. Förmchen, Gießkannen und Eimer waren über den Rasen verteilt. Gerade bemühte sich ihr Vater, den Schutz am Gartenteich noch etwas sicherer zu gestalten.
Alles für die Enkelkinder, dachte Valerie lächelnd und erinnerte sich zurück an die Zeit, als auch sie hier Sandkuchen gebacken und Federball gespielt hatte, aus der Hängematte gefallen und ins Planschbecken gesprungen war. Sie nippte an ihrem Espresso und stellte sich vor, wie es wäre, wenn eines Tages ihr eigener Nachwuchs hier friedlich spielen würde. Seit ihr Neffe vor drei Jahren auf die Welt gekommen war, hatte es allerdings kaum noch eine entspannte Familienzusammenkunft gegeben. Koliken überschatteten das erste Weihnachtsfest mit Kind, der erste Zahn lag wie ein Fluch über Ostern, und nach dem Geburtstag ihrer Mutter bekam die halbe Familie eine Magen-Darm-Infektion, weil Paul seinen Virus während des Kaffeetrinkens über die festlich gedeckte Tafel gespuckt hatte. Valerie musste lachen, als sie daran zurückdachte. Ihr Neffe hatte nur irritiert von einem zum anderen geschaut, während alle um ihn herum versuchten, der Lage Herr zu werden. Irgendwas musste bei ihrem Bruder und seiner Frau schieflaufen. Es konnte unmöglich immer so anstrengend sein, Kinder zu haben.
»Hast du heute früher Feierabend?« Johanna kam aus der Küche. Sie sah sichtlich erleichtert aus, dass ihre Schwiegermutter sich mit dem Bodenvasen-Dilemma beschäftigte und Paul mit eigentlich unerlaubten Süßwaren erfolgreich zum Schweigen gebracht hatte.
Wie immer wenn Valerie ihrer Schwägerin begegnete, fühlte sie sich schlecht gekleidet, was nicht nur an Johannas perfekter Figur lag. Sie hatte auch ein verdammt gutes Händchen, was Kleidung betraf. Die aufribbelnde Strickjacke und das vom Waschbeton aufgeschürfte Knie verschärften diese Umstände dramatisch, wie Valerie leidvoll feststellen musste. Wie schaffte Johanna es nur, als Mutter zweier kleiner Kinder zu jeder Zeit wie aus dem Ei gepellt auszusehen?
»Ich bin heute eher rausgekommen«, erwiderte Valerie und verschwieg, dass sie sich nur mithilfe eines Arzttermins aus den Fängen der Werbeagentur hatte retten können.
»Was beschäftigt dich denn gerade bei der Arbeit?«, erkundigte sich Johanna, während ihr Blick schon wieder in Richtung Paul abschweifte.
Valerie verspürte wenig Lust, von den Herausforderungen ihres Agenturalltags zu berichten, da Johanna selbst zwar ausgebildete Redakteurin war, dank Vincent jedoch weder für ihr Markenjäckchen noch für die Familienkutsche vor der Garage oder den teuren Kinderwagen auch nur einen Handschlag getan hatte. Dann entschied sie sich doch, etwas mehr zu berichten, um ihrer Schwägerin, wenn schon nicht modisch, wenigstens beruflich etwas entgegenzusetzen. »Wir sind gerade im Wettbewerb um einen Großkunden aus der Telekommunikationsbranche. Nächste Woche muss ich ihm unser Konzept präsentieren. Meine Chefin macht mich wegen der Layouts schon den ganzen Tag verrückt.«
»Klingt spannend.« Johanna lächelte ihr schönstes Zahnarztgattinnenlächeln, obwohl ihr Mann Unternehmensberater war. Dann seufzte sie. »Ich wünschte, bei mir würde kommende Woche auch irgendetwas Besonderes anstehen.«
»Guck mal, Mama!« Paul kam aufgeregt vom Gartenteich angelaufen, weil er an Opas Seite auf einen Regenwurm gestoßen war, den er jetzt stolz präsentierte.
»Oh, da hast du aber ein besonders schönes Exemplar gefunden«, freute sich seine Mutter mit ihm, nachdem sie ihn auf den Arm genommen hatte. Gemeinsam inspizierten sie den Fund, bevor Paul den Wurm wieder in die Freiheit...
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