Schweitzer Fachinformationen
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Was ist »zu Hause«? Der Ort, an dem wir jetzt leben? Oder der Ort, an dem wir als Kind aufgewachsen sind? Das fragt sich Saskia, während sie unfreiwillig sechs Wochen in ihrem Heimatstädtchen verbringt, weil sie sich um ihren kranken Vater kümmern muss. Was als Notfalleinsatz geplant war, entwickelt sich jedoch zu einer Erfahrung, die Saskias gesamtes bisheriges Leben umkrempelt und sie schließlich vor eine große Entscheidung stellt: gehen oder bleiben? Eine Frage, die sich nicht nur mit dem Kopf beantworten lässt, sondern vor allem: mit dem Herzen.
Anne Hertz ist das Pseudonym der Schwestern Frauke Scheunemann und Wiebke Lorenz. Bevor die Autorin 2006 in Hamburg zur Welt kam, wurde sie 1969 und 1972 in Düsseldorf geboren. 50 Prozent von ihr studierten Jura, die andere Hälfte Germanistik und Anglistik. Danach arbeiteten 100 Prozent als Journalistin. Anne Hertz hat im Schnitt 3,5 Kinder, 1,0 Männer und 0,3 Haustiere, sie ist 170,5 cm groß und wiegt - je nach Jahreszeit - zwischen 58,6 und 69,5 kg. Ihre Romane haben sich weltweit über 2 Millionen Mal verkauft.
»Also nur, damit ich es jetzt richtig verstehe, Papa: Du hast zwei wildfremde Frauen angesprochen, weil du verfolgt wurdest? Und wolltest, dass sie dir helfen?«
Mein Vater hebt die Hände.
»Was heißt schon wildfremd? Sie heißen Chantal und Michelle. Und sie sind sehr freundlich.«
Ich kann einfach nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passiert.
»Ja, die mögen sehr nett sein. Aber vor allen Dingen sind es zwei Prostituierte, die du in einer Seitenstraße der Reeperbahn aufgegabelt hast. Oder sie dich. Was weiß denn ich!«
Papa sieht mich mit großen Augen an.
»Wieso glaubst du, dass die beiden . ähm . na, du weißt schon, was sind?«
Ein Blick auf die Damen, die bei dem Polizeibeamten am Nachbartisch eben ihr Protokoll unterzeichnen, und ich muss grinsen. Na, du weißt schon, was . Seit wann ist mein Vater denn so prüde? Und so stark kurzsichtig? Denn dass es sich bei Chantal und Michelle nicht um zwei Versicherungsvertreterinnen handelt, ist offensichtlich. Beide haben ihre zugegebenermaßen sehr langen Beine in goldschimmernde Nylons und äußerst hotte Hotpants gesteckt, Michelle - oder war es Chantal? - trägt dazu hochhackige weiße Stiefelchen mit Stulpen, ihre Kollegin hat sich für eine Mischung aus Plateau (vorne) und Stiletto (hinten) entschieden, und zwar aus schwarzem Lack. Komplettiert wird der Look bei beiden von einem pinkfarbenen Stretch-Bustier, bauchfrei und mit sehr hohem Polyesteranteil. Nein, kein Zweifel, mein Vater ist auf seiner Flucht an Mitglieder einer der größten Touristenattraktionen von St. Pauli geraten.
Er schluckt trocken.
»Wie auch immer. Ich war sehr froh, als ich endlich jemand Vertrauenswürdigen gefunden habe, den ich um Hilfe bitten konnte. Du kannst dir ja nicht vorstellen, was für ein Volk hier ansonsten auf der Straße unterwegs ist!«
Oh doch. Das kann ich mir genau vorstellen. Gerade in den Sommermonaten ist die Reeperbahn gedrängt voll mit jungen Leuten aus dem Umland, die hier den Beginn der Ferien, einen Junggesellenabschied oder sonst was feiern wollen. Wichtige Begleiter sind dabei in der Regel ein bis drei Flaschen Wodka, ein Bauchladen mit Schnapsminiaturen sowie Strapse für alle Beteiligten. Verständlich, dass meinem Vater niemand darunter seriös genug für sein Anliegen vorgekommen war. Der Beamte, der eben die Aussagen von Chantal und Michelle aufgenommen hat, wendet sich nun uns zu.
»Herr Hellmann, Frau Gutierez und Frau Meyerhoff haben ausgesagt, dass sie keinen Verfolger gesehen haben, als sie von Ihnen angesprochen wurden. Vielmehr hätten Sie ein bisschen verwirrt gewirkt. Sind Sie sicher, dass Sie bei Ihrer Aussage bleiben wollen?«
Mein Vater nickt energisch, ich kann mir ein Seufzen nicht verkneifen.
»Natürlich bleibe ich dabei. Wissen Sie, ich bin hier ein paar Tage zu Besuch bei meiner Tochter. Und da bin ich heute Abend auf dem Sofa eingeschlafen. Beim Fernsehen. Wer wird Millionär?. Die jungen Leute haben ja überhaupt keine Allgemeinbildung mehr. Wollen Sie hören, was die 16 000-Euro-Frage war?«
»Papa!«, unterbreche ich ihn. »Es ist mitten in der Nacht, und wir sitzen auf der Davidwache, weil du Gespenster siehst. Also komm endlich zum Punkt!«
Er wirft mir einen bösen Blick zu, fährt aber wie geheißen mit seiner Erzählung fort.
»Ja, gut, ich wurde von einem Geräusch geweckt. Als ich die Augen aufmachte, saß im Sessel gegenüber eine mir unbekannte Person und starrte mich feindselig an. Ich wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte!«
»Und zwar?«, hakt der Polizist nach. Die Art, wie er das tut, sagt mir genau, was er von der ganzen Geschichte hält. Nämlich rein gar nichts. Und damit sind wir uns völlig einig.
»Der Typ wollte mich entführen!«
»Dann war es ein Mann.«
»Ja. Ein Mann. Mittelalt, mittelgroß.«
»Und er war allein.«
»Ich glaube schon.«
»Den beiden Zeuginnen gegenüber haben Sie allerdings auch eine Frau und ein Kind erwähnt, die sich in der Wohnung Ihrer Tochter aufgehalten haben sollen.«
Papa scheint etwas sagen zu wollen, hält dann aber inne und denkt nach.
»Sie haben recht. Vielleicht wurde der Mann von einer Frau und einem Kind begleitet. Ich bin mir jetzt nicht mehr ganz sicher. Schließlich war es dunkel, und ich musste mich sehr schnell in Sicherheit bringen.«
Nun ist es der Polizist, der seufzt.
»Herr Hellmann, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aber warum sollte nachts gegen halb zwei eine Ihnen unbekannte Familie in der verschlossenen Wohnung Ihrer Tochter erscheinen und versuchen, Sie zu entführen?«
Ich kann dem Mann nur zustimmen. Die Geschichte ist einfach zu verrückt. Mein Vater hingegen schnappt nach Luft und kneift seine Augen zusammen, was ihn sehr ungehalten aussehen lässt.
»Woher soll ich denn wissen, warum die das sollten? Tatsache ist, dass sie es wollten. Und warum die das wollten - das herauszufinden ist doch wohl Sache der Polizei! Um ein Haar wäre ich Opfer eines Verbrechens geworden!«
»Natürlich, Herr Hellmann, das habe ich doch verstanden. Was halten Sie davon, wenn Sie hier in Ruhe ein Wasser oder einen Tee trinken und ich die Formalien schnell mit Ihrer Tochter durchgehe? Ich sage den Kollegen Bescheid, dass sie Ihnen etwas bringen.«
Mein Vater murmelt etwas Unverständliches, das der Beamte anscheinend als Zustimmung auslegt, denn er bedeutet mir mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, während sich Papa wieder auf seinen Stuhl setzt.
»Frau Hellmann, ich will ganz offen mit Ihnen sein«, sagt der Polizist, als wir an den Tresen treten, der den hinteren Teil der Wache vom Eingangsbereich trennt. »Ich glaube, Ihr Vater bildet sich die ganze Sache ein. Er war wirklich sehr verwirrt und aufgeregt, als die Frauen ihn hierhergebracht haben. Er konnte sich weder an seinen Namen erinnern noch wie er überhaupt auf die Reeperbahn gekommen ist. Es hat über eine Stunde gedauert, bis wir ihn wieder beruhigt hatten. Die beiden Damen wollten schon längst gehen, aber ohne sie hätten wir es gar nicht geschafft. Kann es sein, dass Ihr Herr Vater . äh . erkrankt ist?«
»Erkrankt?«, wiederhole ich überrascht.
»Na ja«, der Beamte windet sich, er fühlt sich sichtbar unwohl, offen auszusprechen, was er denkt, »ich meine so, mental erkrankt. Irgendwie . psychisch nicht ganz auf der Höhe?« Er holt Luft. »Also, meine Großmutter, die hatte häufiger mal Halluzinationen. Das hing tatsächlich mit ihrer Altersverwirrtheit zusammen. So alzheimermäßig, verstehen Sie?«
Ich verziehe den Mund zu einem schiefen Grinsen.
»Ach, sind Sie auch als Neurologe tätig?«
»Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich dachte nur .« Der Polizist lässt den letzten Satz in der Luft hängen, aber was er meint, ist mir auch so klar.
»Ja, vielen Dank für den Hinweis. Ich werde dem nachgehen. Aber als Erstes nehme ich jetzt meinen Vater wieder mit und hoffe, dass wir auf dem Heimweg nicht doch noch entführt werden. Grüßen Sie Chantal und Michelle von mir und richten Sie den Damen meinen Dank aus.«
* * *
Für ein Entführungsopfer schläft Papa nach unserer Rückkehr bemerkenswert tief und fest. Als ich ihm am nächsten Morgen einen Kaffee ans Bett bringe, ist er zudem erstaunlich guter Dinge. Fast scheint es, als könne er sich gar nicht an die turbulente Nacht erinnern. Ich beschließe, ihn nicht darauf anzusprechen. Stattdessen habe ich mich für heute im Büro abgemeldet und einen Arzttermin für meinen Vater gemacht. Da ich meine Hausärztin schon seit vielen Jahren kenne, habe ich nach einer kurzen Schilderung von Papas Zustand auch sofort einen Termin für ihn bekommen, obwohl er natürlich kein Patient in ihrer Praxis ist. Eigentlich hatte sich meine Schwester Miriam schon zu Hause in Lenzenburg um einen Termin beim Arzt für Papa kümmern wollen, hat es aber vor ihrem Urlaub nicht mehr geschafft. Das bleibt nun also an mir hängen, denn nach der gestrigen Nacht steht eindeutig fest: Ein Arztbesuch ist mehr als überfällig!
Überhaupt, der Urlaub meiner Schwester: Klar, ich kann verstehen, dass sich Miriam damit einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Aber müssen es wirklich sechs Wochen Kanada sein, ausgerechnet zu einer Zeit, in der es Papa so schlecht geht? Ich habe noch nie länger als zwei Wochen am Stück Urlaub genommen, selbst wenn gerade alle Familienmitglieder gesund und munter waren. Nun wird mein Vater sechs Wochen bei mir in Hamburg wohnen, und das geht schon nach einer Nacht schief!
»Du willst zum Arzt?« Papa kommt im Schlafanzug in die Küche geschlurft. »Bist du krank? Hast du nicht gut geschlafen? Und wieso musst du überhaupt zu dieser Ärztin? Du bist doch selbst eine.«
Ich starre ihn an. Er kann sich echt nicht mehr erinnern? Aber vielleicht ist es auch besser so. Ja, vielleicht ist es sogar gut, wenn meinem Vater nicht klar ist, dass ich den Arzttermin nicht für mich, sondern für ihn gemacht habe. Möglicherweise würde es ihn nur aufregen. Ich nicke also.
»Äh, ja, ich habe in letzter Zeit häufiger Kopfschmerzen. Und da ich von Selbstdiagnosen nicht viel halte und mein Studium schon hundert Jahre her ist, würde ich gern mit einer Kollegin darüber...
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