Schweitzer Fachinformationen
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Als der Vater entdeckt, dass der Sohn seine Zeit in Gent nur verbummelt, soll er seine Ausbildung an der Gartenbauschule von Vilvoorde zu Ende bringen, Willem muss also umziehen; mitten im Krieg tauscht er die Geusenstadt Gent gegen den nördlichen Stadtrand von Brüssel ein. Bei einem Bäcker findet er ein Studentenzimmer unterm Dach. Vilvoorde ist zu jener Zeit noch ländlich geprägt, aber immerhin fährt eine Pferdetram direkt bis zur Gartenbauschule. Das Hoger Instituut voor Tuinbouw gibt es heute noch, nimmt man den Zug von Brüssel nach Antwerpen, kommt man an ihm vorbei: ein großes, architektonisch reizvolles Backsteingebäude mit weißen Fenstern, davor eine weite Rasenfläche, wodurch es fast aussieht wie eine englische public school. Willem fühlt sich wohl hier, der Druck, sich wilde Nächte um die Ohren schlagen zu müssen, ist verschwunden. Der Bäcker schenkt ihm jeden Morgen einen Viertellaib Brot, was nicht zu verachten ist in den Tagen der Armut und Lebensmittelrationierung. Wenn er von der Dachkammer herabsteigt, um das Haus durch den Seiteneingang zu verlassen, sieht er die Frau des Bäckers im Laden stehen. Er findet sie anziehend; er reiht sich unter die Hungernden vor der Suppenküche und bringt ihr eine Portion des dünnen, widerlich schmeckenden Gebräus mit, die sie dankbar annimmt. Er scherzt und unterhält sich mit ihr, will vieles von ihr wissen; eines Tages streift er mit dem Finger an der Innenseite ihres Arms entlang und fragt: Bis heute Nacht?
Elsa Meissner ist eine empfindsame Frau, sie langweilt sich in ihrem Leben mit dem Bäcker, der sie nachts im Bett alleine lässt und bis in den späten Nachmittag hinein schläft. Sie kann es nicht fassen, weiß nicht, wie ihr geschieht, und schleicht trotzdem in der Nacht zu Willems Kammer hinauf. Intimitäten, leise Seufzer, hastiges Zerren an den Kleidern, das alles in der Mansarde im dritten Stock, während der Bäcker drunten im Keller den mit minderwertigem Kartoffelmehl gestreckten Teig knetet. Elsa ist dreißig, Willem fast zwanzig. Sie ist deutsch-jüdischer Abkunft, groß und mager, hat dunkelrotes Haar und Sommersprossen auf den Armen. Mich friert, sagt sie, Willem nimmt sie in die Arme, haha, du hast Hummeltitten, kommentiert er ihre Gänsehaut; er gibt den Spaßvogel, denn ihr sanft-melancholisches Lachen findet er unwiderstehlich. Am Morgen schlüpft sie zurück ins eheliche Bett, innerlich glühend und etwas schwindlig im Kopf, kurz darauf poltert ihr Mann erschöpft die Treppe herauf. Es dämmert, die Stufen quietschen; der Bäcker liegt schnarchend neben seiner Frau. Willem taucht nackt in der Türöffnung auf, ob er den Verstand verloren habe, gibt sie ihm mit Zeichen zu verstehen, und dass er schleunigst in sein Zimmer zurücksolle.
Die Romanze ist mehr als nur eine vorübergehende Liebelei; ihr Sex wird mit der Zeit ruhiger, dafür aber intensiver, über Stunden reiben sie sich aneinander, bis sie wie Ertrinkende nach Atem schnappen. Wenn sie in seinen Armen liegt, erklärt er ihr mit leise brummender Stimme seine politischen Ideale, berichtet von geheimen Versammlungen in Brüssel und von seiner Freundschaft mit dem kaum sechzehnjährigen Hendrik Elias, den er in der hiesigen Abteilung der Groeningerwacht kennengelernt habe; immer seltener hält er mit seinen Sympathien für ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung hinterm Berg. Als Deutschland schließlich kapituliert und der belgische Staat beginnt, Kollaborateure aufzuspüren, um sie vor Gericht zu stellen, gerät auch Willem ins Visier, weil er überall herumposaunt hat, dass er August Borms persönlich kenne, dass er radikaler Flandern-Aktivist sei und Belgien untergehen werde. Du und fliehen? Warum?, fragt Elsa und lacht. Nur weil du eine große Klappe hast? Er gesteht ihr, seit einiger Zeit Sekretär des flämischen Propagandabüros in Vilvoorde zu sein, weshalb er fürchte, verhaftet zu werden. Elsas Blick wird starr und leer.
Die Gerüchte über Verhaftungen und Gerichtsverfahren gegen Flandern-Aktivisten häufen sich. Der Dichter Wies Moens wird festgenommen und der Kollaboration und Volksverhetzung angeklagt. Das Netz um Willem zieht sich immer enger zusammen. Wir müssen weg, sagt er, wir müssen in die Niederlande, ich habe keine Lust, mich von den verfluchten Belgizisten verhaften zu lassen. Er ist nervös und reizbar: Nein, ihn sollen sie nicht kriegen! Noch bevor der Morgen anbricht, hat er seine Habseligkeiten gepackt. Als Elsa ihn so vor sich stehen sieht, holt sie tief Luft und sagt: Ich komme mit! Sie lässt ihren Vilvoorder Bäcker vor seiner eichenhölzernen Teigmolle stehen und tritt mit ihrem Liebhaber auf die menschenleere Straße hinaus. Ein paar hundert Meter weiter werden sie von einigen Genossen erwartet. Und da geht sie hin - die ehebrecherische jüdische Frau auf romantischer Flucht mit einem Grüppchen aufgeregter Flaminganten. Sie müssen so schnell wie möglich über die Grenze, in den Niederlanden sind sie sicher. Zunächst fahren sie mit Rädern nach Antwerpen, wo das Dutzend die Nacht im Tanzsaal von Willems Schwester Carlo verbringt. Eine andere Schwester, eine überzeugte Suf?fragette mit Sympathien für die flämische Sache, stattet die jungen Leute mit Proviant und zusätzlicher Kleidung aus. Zu Elsa sagt sie auf Deutsch: Ich hoffe, dass mein Bruder nun zur Ruhe kommt, sieh zu, dass er sich bei dir ein wenig die Hörner abstößt. Elsa lächelt etwas schwermütig und schweigt. Im Morgengrauen radeln sie weiter, dem Nordwind entgegen, bei den Wäldern von Kalmthout überqueren sie die Grenze und lassen sich erleichtert in den Straßengraben fallen. Willem ist aufgedreht, er tanzt und schreit: Voor Vlaanderen alles, voor 't Belgikske nikske - Alles für Flandern und für Belgien nichts! Die anderen fragen sich sorgenvoll, was denn nun aus ihnen werden soll.
Wie und warum ist nicht klar, doch am Ende landen sie in Den Haag.
In Gent ist Willem zum Kinoliebhaber geworden. Stundenlang kann er über Filme reden, über Regisseure, über den möglichen Nutzen des Kinos für die Propaganda, die dazu dienen sollte, sein Land vom Joch der frankofonen Beherrscher zu befreien. Expressionismus!, ruft er. Jakob van Hoddis!, ruft er. Und an den Küsten steigt die Flut! Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut! Die Eisenbahnen fallen von den Brücken!
Die Den Haager Kneipengänger amüsieren sich köstlich über den sympathischen Clown.
Er hat eine flinke Zunge und macht sich schnell beliebt, zudem ist er unternehmungslustig und nicht auf den Kopf gefallen. Er lernt den Leiter eines kleinen Kriegskinos kennen und darf einmal pro Woche nicht nur einen Film eigener Wahl zeigen, sondern vor dem zahlenmäßig gering sich einfindenden Publikum auch noch eine Einführung dazu halten. Er spricht über Belgien, weil die Holländer dieses Land so wenig begreifen; ihr Niederländer hattet ja seit 1908 einen Nichtangriffspakt mit Kaiser Wilhelm, doch unsere frankofonen Mitbürger haben uns bitter bluten und büßen lassen. Ihr habt uns schmählich im Stich gelassen. Er zitiert den Anfang von Brederos Gedicht Spaansche Brabander, zum Beweis, dass schon ein niederländischer Barockdichter Antwerpen höher schätzte als Amsterdam. Nach diesen Vorträgen stecken einige der Zuhörer, manchmal unter Kopfschütteln, dem »unterhaltsamen Flamen« ein paar Gulden zu, wodurch Willem etwas Geld verdient, genug, um sich und Elsa gerade so über Wasser zu halten. Von ihm lernt sie rauchen und trinken, es gibt Tage, da tanzen sie in den Kaschemmen bis zum frühen Morgen, sie ist ganz vernarrt in seinen Schweißgeruch, lacht, wenn sie in seinen Armen liegt, und kann nachts nicht genug von ihm bekommen. In der Morgendämmerung steht sie vor dem Fenster ihres Hinterzimmers und sagt, dass sie erst durch ihn eine richtige Frau geworden sei, worauf er gesteht: Bevor ich dich kennengelernt habe, war ich kein Mann. Sie sind bis über beide Ohren ineinander verliebt.
Auf die Frage, ob er froh sei, dass sein Land befreit wurde, antwortet er, dass Flandern noch längst nicht befreit sei, wartet nur ab, unsere Zeit wird noch kommen. Worte, die die Freunde in Den Haag verstören und einen Streit mit Elsa nach sich ziehen, die meint, er solle endlich lernen, seine große Klappe zu halten.
Irgendwann im Lauf des Jahres 1919 lernt er den flämischen Aktivisten und Dichter Richard De Cneudt kennen. De Cneudt hat sich während des Kriegs für den niederländischsprachigen Unterricht in Flandern eingesetzt und gefordert, dass die bestehenden Sprachgesetze in den Brüsseler Schulen korrekt umgesetzt werden müssten, doch als er sah, wie arrogant man in der Hauptstadt über diese hinwegging, radikalisierte er sich und wurde zum prominenten Verfechter der Flamenpolitik der deutschen Besatzer. Als Mitglied des Raad van Vlaanderen, einer Organisation, die einseitig die Unabhängigkeit Flanderns ausrief, brach er das Gesetz und wurde in Abwesenheit wegen Kollaboration zum Tode verurteilt. Er flüchtete in die Niederlande, ließ sich in Rotterdam nieder, hielt Vorträge und wurde ein ausgezeichneter Französischlehrer. Der zweiundvierzigjährige flämische Kulturherold und der junge Kämpfer verstehen sich auf Anhieb, sie reden viel über Bücher und Filme.
Natürlich, De Cneudts Gedichte! Ach herrje. Beim Aufräumen des Drongenhofer Hauses habe ich sicher fünfzehn seiner Bücher in den Container geworfen. Stockfleckig geworden durch ein undichtes...
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