Schweitzer Fachinformationen
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Als Magnus Hirschfeld 1919 sein Institut im Berliner Tiergarten eröffnete, schien der jungen Disziplin der Sexualwissenschaft die Zukunft zu gehören. Die umfangreiche Bibliothek, die vielfältigen Sammlungen, Beratungs- und Therapieangebote lockten Patienten und Besucherinnen aus der ganzen Welt an. Menschen aller Schichten konnten sich vor Ort über Empfängnisverhütung oder den Schutz vor Geschlechtskrankheiten informieren. Doch das Institut sollte lange die einzige Einrichtung mit dem Ziel bleiben, das Thema Sexualität in seiner ganzen Breite zu behandeln. Hirschfeld und seine Mitarbeiter waren dabei stets Anfeindungen durch politische und wissenschaftliche Gegner ausgesetzt, die 1933 in der Plünderung des Instituts durch die Nationalsozialisten und seiner Schließung mündeten.
In Der Liebe und dem Leid erzählt Rainer Herrn erstmals die wechselvolle Geschichte dieser berühmten Institution. Er stellt die Protagonisten vor, die sie prägten, schildert die Kämpfe um die Abschaffung des »Homosexuellenparagraphen« 175, folgt den Schicksalen der Menschen, die im Institut Hilfe suchten, und lässt, wie nebenbei, den Geist der Weimarer Republik lebendig werden.
Wenn Alfred Kerr 1899 ironisch fragt: »Wo liegt Berlin?«, so lässt sich das mit Blick auf die Geschichte der Sexualwissenschaften beantworten: im Zentrum der Entwicklung. In Berlin fand, wie Michel Foucault formulierte, die »Einpflanzung der Perversionen« in Boschs Garten der Lüste statt. Hier wirkten Pioniere und Pionierinnen der Sexualwissenschaft, von Johann Ludwig Casper, Carl Westphal über Albert Moll, Albert Eulenburg, Iwan Bloch, Helene Stöcker bis Max Hirsch, Max Marcuse oder Karl Abraham. Erste maßgebliche akademische Beiträge, die das moderne Verständnis von Sexualität im abendländischen Kulturkreis prägten, entstanden nicht zufällig an der Berliner Universität, und in Berlin wurden 1913 sowohl die Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft (ÄGeSe) als auch die Internationale Gesellschaft für Sexualforschung (INGESE) als erste Fachorganisationen gegründet.
Das Berlin der Jahrhundertwende war nicht nur ein Zentrum wissenschaftlicher Innovationen und wirtschaftlicher Expansion, sondern als moderne Metropole ebenso eines des kulturellen Wandels und der Vielfalt, des intellektuellen und künstlerischen Lebens. Allein die zahlreichen, aus der Urbanitätskritik heraus entstandenen, nahezu alle Lebensbereiche umfassende Lebensreformbewegung, von der Vegetarischen Obstbau-Kolonie Eden im Norden Berlins bei Oranienburg über den Ausdruckstanz bis zur FKK-Bewegung am Motzender See, sind Legende.1 Auch wer aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse kriminalisiert oder diskriminiert wurde, fand hier Schutz und Unterschlupf. Im Vorwort seines Bandes Berlins Drittes Geschlecht, der 1904 in der von Hans Ostwald herausgegebenen Reihe Großstadt-Dokumente erschien, verweist Magnus Hirschfeld darauf, dass »bewußt oder unbewußt diejenigen, welche von der Mehrzahl in nicht erwünschter Form abweichen, dorthin streben, wo sie in der Fülle und dem Wechsel der Gestalten unauffälliger und daher unbehelligter leben können. Das ist ja gerade das Anziehende und Merkwürdige einer Millionenstadt, daß das Individuum nicht der Kontrolle der Nachbarschaften unterliegt«, schließlich »wissen in Berlin die Leute oft im Vorderhause nicht, wer im Hinterhaus wohnt, geschweige denn, was die Insassen treiben. Gibt es hier doch Häuser, die an hundert Parteien, an tausend Menschen beherbergen.«2
Hirschfelds Gang durch Berlin gewährt dem uneingeweihten Leser Einblicke in eine »neue Welt«, die sich »innerhalb der ihm bekannten Welt« auftue, eine Welt, »deren Ausdehnung und deren Gebräuche ihn mit Staunen erfüllen werden«.3 Er beschreibt Orte - Parks und Straßenstriche, Kneipen und Lokale, Schwimmbäder, Turnhallen und Sportplätze, Theateraufführungen und Tanzveranstaltungen -, in denen man sich anonym treffen konnte, aber auch das Vereinsleben, die Lebensweisen und -stile homosexueller Frauen und Männer unterschiedlicher sozialer Schichten bis hin zu einer inoffiziellen >schwulen< Hochzeit. Seine Monografie Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (1914) enthält knapp 80 Einträge für die Reichshauptstadt, mehr als doppelt so viele wie für jede andere Stadt Europas. Kurz: Berlin war vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Ort vitaler sexueller und geschlechtlicher Diversität - nicht nur für homosexuelle Frauen und Männer, sondern generell für neue Individualisierungs- und Lebensentwürfe - geworden.4
Das fand seinen Ausdruck in entsprechenden Netzwerken und Subkulturen diverser Bevölkerungsgruppen sowie Organisationen, die deren emanzipatorische Ziele vertraten. Die Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten etwa bemühte sich seit 1902 um einen präventiv wie therapeutisch liberaleren Umgang mit Geschlechtskranken und Prostituierten sowie um die allgemeinverständliche Aufklärung der breiten Bevölkerung; der 1904 gegründete Bund für Mutterschutz5 machte sich um die Rechte von Frauen, besonders von unverheirateten Müttern, verdient; die Gesellschaft für Sexualreform (GeSex) widmete sich ab 1913 der Aufklärung über Methoden der Geburtenkontrolle. Diese Organisationen unterstützten einander in Form von Mehrfachmitgliedschaften und gaben Zeitschriften mit wissenschaftlichem Anspruch heraus, wobei sie häufig auf denselben AutorInnenkreis zurückgriffen.
Nicht nur als Vorkämpfer für die Rechte Homosexueller, für die er sich seit 1897 als Mitbegründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) einsetzte, sondern auch durch seine zahlreichen Mitgliedschaften - unter anderem im Bund für Mutterschutz, in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft, dem Deutschen Monistenbund oder der GeSex - war Hirschfeld fest in dieses Netzwerk eingebunden.
Er hatte 1892 kurzzeitig in Berlin gelebt und hier sein Medizinstudium mit der Promotion beim »populärsten Irrenarzt von Berlin«, Emanuel Mendel, beendet. Zunächst ließ er sich jedoch mit eigener Praxis in Magdeburg-Neustadt als »Spezialist der diätetisch-physikalischen Heilmethoden« nieder und eröffnete bald darauf »Dr. med. Hirschfeld's Sanatorium«, als »die einzige concessionirte Naturheil-Anstalt in unserer Provinz«.6 Erst 1896 entschied er sich, Charlottenburg, am Rande der Reichshauptstadt, zu seinem Wohn- und Arbeitsort zu machen, und von dort übersiedelte er 1910 schließlich nach Berlin.
In den Jahren bis zur Institutsgründung war es ihm nicht nur gelungen, das Renommee als Sexualwissenschaftler mit einem Denkstil eigener Prägung aufzubauen, sondern auch, es so einzusetzen, dass er als »Spezialarzt für nervöse und seelische Leiden« - durch Honorare aus Behandlungen von Patienten, populären Vorträgen vor großem Publikum, Zeitschriften- und Buchveröffentlichungen und vor allem Gerichtsgutachten - zu einem gewissen Wohlstand gelangte. Das erlaubte es ihm, anlässlich seines 50. Geburtstages eine »Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung« einzurichten und schließlich auch, das zu ihrer Verwirklichung gedachte Institutsgebäude zu erwerben.
1896 war seine erste sexualwissenschaftliche Veröffentlichung Sappho und Sokrates (unter dem Pseudonym Th. Ramien) erschienen. In den folgenden Jahren arbeitete er die für seinen Denkstil zentrale Lehre der »sexuellen Zwischenstufen« aus, auf der Die Transvestiten. Eine Untersuchung des erotischen Verkleidungstriebs (1910) und Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (1914) aufbauen, und 1912 legte er mit Naturgesetze der Liebe eine Sexualtheorie eigener Prägung vor, auf die er insbesondere als Gerichtsgutachter zurückgreifen konnte.
Mit der Veröffentlichung seiner auf drei Bände angelegten Sexualpathologie, in der er seine bisherigen Forschungen zusammenfasste - der erste Band war 1916, der zweite 1918 erschienen -, befand sich Hirschfeld auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er sich auf das politisch, ökonomisch wie wissenschaftlich gewagte Unterfangen einließ, ein Institut für Sexualwissenschaft zu eröffnen. Dessen Adresse lautete: »In den Zelten 10 - Ecke Beethovenstraße 3«. Von dem ehemaligen Viertel mit seiner über 150 Jahre gewachsenen Bebauung ist nach seiner Zerstörung bei einem Bombenangriff gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und der Abräumung der Ruinen in der Nachkriegszeit fast nichts mehr zu erkennen. Nach heutigem Stadtplan läge die Adresse am südlichen Spreebogen zwischen Kanzleramt und Schloss Bellevue, etwa in Höhe des heutigen Hauses der Kulturen der Welt. Seit 1994 erinnert eine als Stehpult gestaltete Stele in der Nähe des ehemaligen Instituts-Standortes an diese Einrichtung, 2008 wurde die Promenade auf der gegenüberliegenden Spreeseite in Magnus-Hirschfeld-Ufer umbenannt.
Der Name »In den Zelten«7 wurde Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt, nachdem Friedrich der Große den Tiergarten von einem fürstlichen Jagdgehege in einen öffentlichen Lustpark umgewandelt hatte und einige Hugenotten die Erlaubnis erhielten, in diesem unbebauten Gelände außerhalb der Stadtgrenze im Sommer temporäre Schankwirtschaften zu errichten. »Eigentlich sollte man diese Zelte Hütten nennen«, heißt es in einer Schilderung des Berlin im Jahre 1786, »denn nur selten steht ein aufgeschlagenes Zelt da, sondern der Saal, welcher errichtet ist, hat...
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