Schweitzer Fachinformationen
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Königreich der Krähen
Als ich Brightstone zum ersten Mal sehe, klopft mein Herz wie verrückt. Ein altes Schloss aus großen Sandsteinquadern mit vier Rapunzeltürmen an den Ecken und einem prächtigen barocken Eingangsportal. Dort hinauf führt eine breite Treppe, davor eine Auffahrt, die ursprünglich für Kutschen angelegt wurde. Die schönsten, prächtigsten Rosen, die ich je gesehen habe, klettern die Fassade empor und ranken sich um die Pfeiler des Portals. Sie müssen uralt sein, denn ihr Duft erinnert an Sommernachmittage am See, Earl-Grey-Tee im Herbst und gebügelte Taschentücher in vergessenen Schubladen.
Ob Brightstone wohl schon immer so hieß? Ich lasse den Anblick auf mich wirken. Es könnte der Beginn eines viktorianischen Liebesromans sein, würde ich nicht in einem Auto sitzen und mir schlicht der Mut fehlen, endlich auszusteigen. Außerdem hat das Schloss links und rechts zwei moderne Anbauten, riesige Flügel aus den Sechzigerjahren, als man das noch ohne viel Aufhebens durfte. Auf der Website von Brightstone steht, dass sich in ihnen die Schlafsäle der jüngeren und die Zimmer der älteren Schüler befinden. Die Klassenräume, der Speisesaal und die Verwaltung sind im Haupthaus. Aus der Nähe wirkt Brightstone fast noch imposanter mit diesen Türmen, in denen sich enge Wendeltreppen hochwinden, wo es in den Pausen und nach Schulschluss zu einem heillosen Gedränge kommen muss.
Doch an diesem Vormittag ist es ruhig. Der Unterricht hat bereits begonnen, als der Wagen vor wenigen Minuten in der Auffahrt zum Stehen gekommen ist. Nun steigt Connor, mein Chauffeur, aus und öffnet den Kofferraum. Kurz darauf stapeln sich drei Koffer und zwei Taschen neben der Limousine, und es wird auch für mich Zeit, auszusteigen. Ich fühle mich fremd in der Schuluniform, und als Connor vor meinen Augen das gesamte Gepäck auf einmal die Treppen hochträgt, auch noch überflüssig.
Geräusche nähern sich. Ein Schleifen, Fluchen und Zerren. Ich drehe mich um und sehe noch einen Rookie. Sie muss etwa so alt sein wie ich, mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken und einem ruckelnden Rollkoffer, den sie hinter sich herzieht und der es auf dem alten Kopfsteinpflaster schwer hat. Sie trägt Jeans und ein durchgeschwitztes knallblaues T-Shirt. Ihre Haare sind kurz und lockig, sie hat dunkle, leicht mandelförmige Augen und ein schmales Gesicht.
»Oh mein Gott! Ich bin nicht die Einzige, die zu spät ist! Eigentlich hat das Schuljahr ja schon vor vier Wochen angefangen . Hätte ich in Uniform kommen sollen?«
Ich habe keine Ahnung.
»Ich bin Shanti.« Sie lässt den Koffer los und reicht mir die Hand. »Ashanti, eigentlich. Stipendiatin. Neu hier. Abijahrgang. Und du?«
Sie will es nicht, aber ihr Blick wandert kurz zu dem riesigen, dunklen Wagen, mit dem ich gekommen bin.
Jetzt ist er da, der große Augenblick. Ich werde den Satz zum ersten Mal sagen, den ich so lange vor dem Spiegel, im Bett, im Bad und sogar noch auf der Fahrt hierher geübt habe.
»Ich bin Jennifer Curlandt. Nenn mich Jen.« Es kommt ungefähr so hochnäsig heraus, wie es klingen sollte. »Ich habe heute auch meinen ersten Tag.«
Letzteres war nicht geübt. Es hört sich trotzdem so an wie: Zwischen dir und mir liegen Welten.
Aber Shanti hat entweder kein Gespür für Untertöne oder ist einfach nur zu fertig, um auf sie zu achten. »Gibt's hier irgendwas zu trinken? Ich sterbe vor Durst. Die Bushaltestelle ist meilenweit entfernt.«
Ich sehe mich um. »Bestimmt. Da müssen wir reingehen, glaube ich.«
»Dann sollten wir das tun.«
Sie greift nach ihrem Koffer und läuft leichtfüßig damit die Treppe hinauf. Oben bleibt sie stehen und sieht sich nach mir um. Ich habe das Gefühl, hölzern und ungelenk hinter ihr herzustaksen. In diesem Moment kommt Connor aus dem Haus und hält uns mit einem grimmigen Gesichtsausdruck, der bei ihm normales Wohlbefinden signalisiert, die Tür auf.
»Vielen Dank!« Shanti huscht hinein.
»Danke«, sage ich leise.
Am liebsten würde ich kehrtmachen und wieder zurückfahren. Das Gefühl von eben ist neu. Ich mag mich nicht.
»Soll ich noch etwas ausrichten?«, fragt Connor höflich.
»Sagen Sie ihnen .«
Die Einfahrt, über die wir gekommen sind, führt, gesäumt von uralten Buchen, schnurgerade auf Brightstone zu. Oder davon weg, je nach Perspektive. Eine hohe Mauer schirmt das Anwesen vor neugierigen Blicken ab. Das gewaltige schmiedeeiserne Tor zur Außenwelt steht noch offen. Es wird sich wie von Geisterhand schließen, sobald die Limousine der Curlandts mit Connor am Steuer hindurchgefahren ist.
»Sagen Sie ihnen .« Ich atme tief durch. »Nichts. Außer, dass ich gut angekommen bin und jetzt alles so läuft, wie es soll.«
Falls ihn diese Auskunft irritiert, lässt er es sich nicht anmerken. Ich glaube, Chauffeure kriegen eine Menge mit - genau wie Securityleute -, und die besten von ihnen sind nicht immer die, die auch am besten fahren.
»Alles Gute«, knurrt er noch und läuft die Treppen hinunter.
Die riesige hölzerne Eingangstür lässt sich hinter uns erstaunlich leicht schließen. Nach der Helligkeit draußen müssen sich meine Augen erst einmal an den dunklen Eingangsbereich gewöhnen. Ich stehe in diesem breiten Flur, von dem links und rechts kleinere Türen abgehen. Nach ein paar Metern allerdings mündet er in eine für mein Empfinden riesige Halle, in der Shanti steht und erstaunt die Blicke schweifen lässt.
Sie hört, dass ich näher komme, und dreht sich um. Der Rucksack überragt sie um Haupteslänge. »Krass, oder? Ich wusste ja, dass Brightstone 400 Jahre alt ist und einige Teile sogar noch älter. Aber das ist der Wahnsinn.«
Ich komme zu ihr. Vom Alter ausgedunkelte hölzerne Wandvertäfelungen glänzen matt in dem Licht, das durch bleiverglaste Fenster ins Innere fällt. Zwei Erker auf jeder Seite unterbrechen die Strenge, auch wenn die spiegelblank polierten eingebauten Bänke nicht sehr gemütlich aussehen. Links und rechts von ihnen führen Treppen hinauf in den ersten Stock, an denen sich spätmittelalterliche Steinmetze mit allem austoben konnten, was Verzierungen und Ornamente hergaben. Riesige Ölgemälde hängen so weit oben, dass man sich den Hals verrenken muss, um zu sehen, was auf ihnen abgebildet ist. Landesherren vermutlich, mit hohen weißen Perücken, Prunkjacken und Kniebundhosen über weißen Strümpfen. Manche sitzen auf einem Pferd, andere stehen, majestätisch auf einen Stock gestützt, in Landschaften herum.
Ein gewaltiger Kronleuchter hängt direkt über uns. Ich trete unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Zu den wenigen ausgewählten Malen, die Mom es sich leisten konnte, mit mir irgendwohin zu gehen, hatte ein Besuch des Musicals Das Phantom der Oper gehört. Der spektakuläre Moment, wenn der Kronleuchter ins Publikum segelt, hat sich mir für immer eingebrannt.
»Ja«, sage ich. »Der Wahnsinn.«
Und ich meine nicht den Kronleuchter, sondern mich, hier, in diesem Haus.
»Jennifer Curlandt?«
Die helle, scharfe Stimme kommt von links, wo eine unscheinbare Tür fast mit der Wandvertäfelung verschmilzt. Dort steht eine hoch aufgerichtete Frau, die mich irgendwie an die todlangweiligen Poolpartys von Jennifers Mutter erinnert. Nicht, dass das Wort Poolparty bei Caren irgendetwas mit Wasser zu tun gehabt hätte. Die Curlandts haben zwar einen Pool, aber von dem hält man sich fern und sitzt allenfalls dekorativ in seiner Nähe herum, das Cocktailglas lässig in der Hand. Man schlürft Champagner und Langeweile.
Statt einem Glas hält die Frau ein Klemmbrett und wirft nun einen Blick durch ihre extrem seltsam geschnittene eckige Brille darauf. Ihr strenges Kostüm in den Schulfarben von Brightstone umschließt sie wie eine Rüstung. Dunkelblau, weinrot, Goldknöpfe. Ich in meiner Uniform und sie in ihrem Kostüm wären optisch ein unschlagbares Match.
»Jennifer Curlandt!«
»Ja!«, sage ich schnell.
Meinen Namen müsste ich doch mittlerweile kennen. Die Frau nickt und sieht nun missbilligend über den Rand ihrer Brille hinweg auf Shanti.
»Ashanti Wanjola?«
Jede andere wäre vermutlich bei diesem Blick zu einem Fleck auf den Steinfliesen geschmolzen. Nicht so Shanti.
»Jep«, sagt sie. »Wanjala.«
»Bitte?«
»Wanjala. Mit drei A.«
Sie hat den Rollkoffer direkt vor der Treppe abgestellt und schnappt ihn sich nun hastig. Die Frau kritzelt etwas auf ihr Klemmbrett und vermittelt nicht den Eindruck, als würde sie Fehler gerne zugeben.
»Ich bin Camilla Freude, Executive Secretary. Herzlich willkommen.« Es wundert mich, dass ihr bei dieser Stimme keine Eiszapfen an der Nase hängen. »Der Direktor will Sie sprechen. Es sind zudem noch einige Formalitäten zu erledigen. Kommen Sie bitte mit.«
Shanti und ich sehen uns an - und folgen diesem Spazierstock auf zwei Beinen durch die Tür in einen nicht ganz so spektakulären Flur. Linker Hand wurden nachträglich...
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