Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Herausforderungen für Energieunternehmen sind so hoch wie nie zuvor. Nationale und europäische Energiewenden verlangen eine ambitionierte Dekarbonisierung. Geopolitische Verwerfungen rücken das Thema Versorgungssicherheit verstärkt ins Blickfeld. Industrieunternehmen wie Verbraucher reagieren teils sensibel auf Preise. Und die immer umfassendere Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten, birgt aber auch Gefahren für angestammte Geschäftsfelder. Anhaltender unternehmerischer Erfolg ist in solchen Konstellationen keine Selbstverständlichkeit, sondern erfordert vorausschauende strategische Entscheidungen.
Dieses Buch analysiert unter den besonderen Bedingungen der Energiewirtschaft, wie strategische Entscheidungen in dynamischen Zeiten erfolgreich getroffen werden und welche Instrumente dafür genutzt werden können. Entwicklungen im Umfeld der Energiewirtschaft spielen dabei eine ebenso zentrale Rolle wie die Berücksichtigung von Ressourcen und Fähigkeiten innerhalb der einzelnen Unternehmen.
»Wie teuer müsste Strom sein, damit Sie bereit wären, auf Ihr Smartphone zu verzichten? Oder konkret: Wären Sie bereit, einen Euro für das Aufladen Ihres Smartphones zu bezahlen, wenn es Strom nicht günstiger gäbe?«
Meine Studenten nicken meist einhellig auf letztere Frage. Und ich nicke mit. Die Vorstellung eines Lebens ohne Smartphone erscheint uns mittlerweile wie aus einer grauen Vorzeit. Und eine Welt ohne Lichtschalter, Fernseher, Kühlschrank oder Computer katapultierte uns hinaus aus der bekannten Zivilisation, in der mittlerweile selbst Fahrräder motorisiert sind.
Ein Euro für eine Smartphone-Ladung entspräche einem Preis von 80 Euro (oder 8.000 Cent) je Kilowattstunde (bezogen auf die Batteriekapazität eines Smartphones, die nur einen Bruchteil einer Kilowattstunde beträgt).22 Das ist das Zweihundertfache des auf 40 Cent je Kilowattstunde gedeckelten Strompreises, den die Bundesregierung nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine als eine Art politisch zumutbaren Höchstpreis eingeführt hat. Der Nutzen, den Haushalte aus Elektrizität ziehen, liegt in vielen Anwendungen also deutlich über dem Preis, den sie tatsächlich dafür zahlen. Die Differenz zwischen ihrer maximalen Zahlungsbereitschaft und dem tatsächlich realisierten Preis ist die Konsumentenrente, die für Energie insgesamt und für Strom im Besonderen außergewöhnlich hoch ausfällt.23 Dies ist eine von verschiedenen Besonderheiten der Energiewirtschaft, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt.
Erst die Bereitstellungen von Energiedienstleistungen in Form von Wärme, Beleuchtung, Mobilität, technischen Haushaltshilfen oder Kommunikation ermöglichen unseren modernen Lebensstil. Analoges gilt für Produktionsprozesse in Industrie und Gewerbe und für die Staatstätigkeit. Energie stellt in diesem Sinne ein essenzielles Gut dar, dessen Nichtverfügbarkeit zu gravierenden gesellschaftlichen Folgen führt und dessen Bereitstellung deshalb immer auch staatliche Interessen berührt.24 Die Reaktion der Nachfrage auf Preisveränderungen fällt bei Energie anders aus, als es bei den meisten anderen Produkten üblich ist. Auch bei steigenden Preisen bleibt die Nachfrage nach Energie häufig (weitgehend) konstant. Normale Produkte weisen in ökonomischer Umschreibung hingegen eine preiselastische Nachfrage auf, bei ihnen reduzieren die Konsumenten ihre Einkaufsmengen mit steigenden Preisen. Passiert dies nicht, liegt eine preisunelastische Nachfrage vor.25
Russlands Überfall auf die Ukraine verknappte in Folge von Liefereinstellungen und Sanktionen das globale Angebot an Gas und Öl und verunsicherte die Energiemärkte hinsichtlich der weiteren Entwicklungen. Daraus resultierten Rekordpreise auf den europäischen Gasmärkten, die aufgrund des Einsatzes von Erdgas zur Stromerzeugung auch auf die Strommärkte abstrahlten. Die deutschen Verbraucherpreise folgen den internationalen Märkten zwar etwas abgeschwächt, da Netzentgelte und staatliche Preisbestandteile einen merklichen Anteil an ihnen ausmachen, gleichwohl kletterten sie 2022 auf bislang nicht gekannte Höhen. Um rund 300 Prozent stiegen die Gaspreise für Haushaltskunden im vierten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahr.26 Der Verbrauch der Haushalte reduzierte sich in diesem Zeitraum, unter Berücksichtigung der Witterung, aber lediglich um sechs Prozent. Eine Verdreifachung des Preises ging (kurzfristig) nur mit einer marginalen Reduzierung des Gasverbrauchs einher.
Viele Menschen waren bereit, für eine behagliche Wohntemperatur deutlich mehr zu bezahlen, als sie dies bislang mussten. Sie ließen sich auch nicht nennenswert durch politische oder moralische Argumente davon überzeugen, Energie einzusparen, was unter anderem durch die Absenkung der Heiztemperatur möglich gewesen wäre. Europa rang um die Unterstützung der Ukraine und um Sanktionen gegenüber Russland und Russland setzte dieses Europa mit reduzierten Energielieferungen erheblich unter Druck. Niemand wusste im Vorfeld, ob der Winter mild oder streng und das Gas am Ende knapp werden würde. Ende September traten die Spitzen der Regierungskoalition gemeinsam vor die Presse und schilderten eine schwerwiegende Konfrontation Russlands mit Deutschland und Europa: Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, Russland setze »Energielieferungen als Waffe« ein, Finanzminister Christian Lindner sah Deutschland »in einem Energiekrieg um Wohlstand und Freiheit« und Wirtschaftsminister Robert Habeck unterstrich »die Notwendigkeit, Energie einzusparen«.27 Eine entschlossene Antwort der Bevölkerung blieb jedoch aus, wenn die tatsächlichen Einsparungen als Maßstab gelten und die ohnehin überschaubaren sechs Prozent Einsparungen in weiten Teilen aus Preissteigerungen resultierten. Frei nach Brecht ließe sich fragen: Denn wovon lebt der moderne Mensch? Erst kommt die Energie, dann kommt die Moral.28
Noch deutlicher akzentuierten die Besitzer von Ölheizungen ihre Prioritäten. Sie bezogen neun Prozent mehr leichtes Heizöl als im vorangegangenen Jahr - trotz Preissteigerungen von 40 Prozent, eines milden Winters und einer insgesamt rückläufigen Verbreitung von Ölheizungen zugunsten von Erdgas-Brennwertgeräten und Wärmepumpen.29 Ölheizungen verfügen über einen eigenen Ölspeicher, der das per Tanklastwagen angelieferte Öl einlagert und der nun zur Krisenvorsorge genutzt wurde.
Die europäischen Regierungen priorisierten ebenfalls die Versorgungssicherheit, etwa bei der Beschaffung von neuen Flüssigerdgas-Kapazitäten (LNG) im Zuge der Russlandkrise. Überwogen zuvor noch politische Vorbehalte gegen die Umweltauswirkungen amerikanischen Fracking-Erdgases, spielten diese plötzlich keine Rolle mehr.30 Mit politischer Unterstützung zeichneten die europäischen Importgesellschaften hierfür nun gerne langlaufende Lieferverträge.
Hierin zeigt sich der essenzielle Charakter von Energie: Wenn es hart auf hart kommt und Zielkonflikte bestehen, hat die Versorgungssicherheit für Kunden wie für Regierungen Vorrang. 88 Prozent der Bevölkerung gaben an, ihnen sei entweder Versorgungssicherheit am wichtigsten beim Thema Energie (48 Prozent) oder niedrige Preise (40 Prozent), die letztlich wiederum Versorgungssicherheit voraussetzen.31 Umwelt- und Klimaschutz führten zwölf Prozent als wichtigsten Aspekt an. Andersherum betrachtet: Das energiepolitische Ziel Umwelt- beziehungsweise Klimaverträglichkeit wird nur erfolgreich sein, solange Versorgungssicherheit und hinreichende Preisgünstigkeit als Nebenbedingungen gewährleistet bleiben.
Günstige Strompreise sind für die Wettbewerbsfähigkeit insbesondere der energieintensiven Industrie hochgradig relevant. Anders als Haushalte und Gewerbe agieren stromintensive Industriebetriebe üblicherweise im internationalen Wettbewerb, weshalb sie elastischer auf steigende Preise reagieren und ihre Produktion bei fehlender Konkurrenzfähigkeit herunterfahren oder dauerhaft verlagern. Während die Gewerbe- und Haushaltskunden ihren Stromverbrauch 2022 trotz neuer Rekordpreise leicht erhöhten, sank der Verbrauch der Industrie deutlich.32 Die Reduktionen differierten je nach Branche, am größten waren sie bei der Grundstoffchemie mit 25 Prozent.
Eine Zahlungsbereitschaft von 8.000 Cent je Kilowattstunde aus dem Smartphone-Beispiel mag gleichwohl konstruiert wirken. Schließlich hätte ich auch 20 oder 50 Cent statt einem Euro aufrufen können. Zu Beginn der Elektrifizierung lagen die Preise aber tatsächlich nicht weit davon entfernt. Die Pariser Weltausstellung von 1881 präsentierte die zwei Jahre zuvor von Thomas Edison entwickelte Glühlampe erstmalig der staunenden europäischen Öffentlichkeit. Das elektrische Licht und seine Vermarktungsperspektiven begeisterten auch Emil Rathenau, der im Nachgang die Nutzungsrechte von Edisons Patenten für Deutschland erwarb und die »Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität« gründete, die spätere AEG. Auf Basis eines Vertrags mit der Stadt Berlin errichtete die Deutsche Edison 1884 die erste öffentliche Elektrizitätsversorgung im Lande, die sich als »Actiengesellschaft Städtische Electricitäts-Werke« in der Anfangszeit ganz auf Strom zu Beleuchtungszwecken fokussierte. Für das begehrte neue Licht berechneten die Elektrizitätswerke den Berlinern einen Strompreis, bei dem ihre eigenen Arbeiter für neun Lampen, die täglich drei Stunden leuchteten, 1.400 Stunden im Jahr hätten arbeiten müssen, um sich das eigene Produkt leisten zu können.33 Umgerechnet auf heutige Stundensätze entspricht dies 7.700 Cent je Kilowattstunde. Strom war in der Anfangszeit ein Luxusgut für vornehme Cafés, repräsentative Bankgebäude oder wohlhabende Privatleute.
Auch der heutige eine Euro für das Laden eines Smartphones überstiege schnell das verfügbare Einkommen von Normalverdienern, wenn der gleiche Elektrizitätspreis für Kühlschrank, Licht und Herd...
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