Schweitzer Fachinformationen
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Der Geschmack von Honiglebkuchen und der Geruch von Schnee - diese Mischung war für Elise Lusin seit Kindertagen der Inbegriff der Winterzeit. Auch am heutigen Januarnachmittag, an dem die Achtzehnjährige zum Wöhrder See gekommen war, um über die glitzernde Eisfläche zu gleiten, hatte sie zur Stärkung ein Stück Lebkuchen dabei.
Lächelnd zog sie das Gebäck hervor und betrachtete das Motiv, das darauf zu sehen war: Wilhelm Lusin hatte ihr natürlich einen Eisläufer-Lebkuchen mitgegeben; die Prägung entstammte einer Stanzform, einem sogenannten Model, das er eigens für seine eislaufbegeisterte Tochter geschnitzt hatte. Hungrig biss sie hinein und genoss den vertrauten Geschmack auf ihrer Zunge. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass dieses Gebäck im Vergleich mit dem Biskuit, den sie gestern heimlich bei der Konditorei Beer in der Breiten Gasse gekauft hatte, etwas hart und zäh schmeckte. Der Biskuit war so herrlich luftig gewesen! Sie hoffte nur, dass sie niemand bei ihrem Kauf gesehen hatte, sie konnte sich die Reaktion ihres Vaters schon ausmalen. Wie die meisten Lebküchner war Wilhelm Lusin nicht gut auf die Zuckerbäcker, die ihnen schwere Konkurrenz machten, zu sprechen. Aus Erzählungen wusste sie, dass es um den richtigen Lebkuchenteig - und vor allem um die Frage, wer ihn backen durfte - in Nürnberg einst eine regelrechte Fehde zwischen den Lebküchnern und Zuckerbäckern gegeben hatte, den sogenannten Nürnberger Lebkuchenkrieg, in dem auch ihr Großvater für die Rechte der Lebküchner eingetreten war. Ihr Vater zählte sich zur Zunft der echten Lebküchner, die nach einer im 15. Jahrhundert erlassenen Zunftordnung Lebkuchen, Met, Kerzen und Wachsbilder herstellten. Und wie Wilhelm nicht müde wurde zu erzählen, hatte sein Vater als Lebzelter und Wachszieher noch ein gutes Leben gehabt. Denn bis vor einigen Jahren hatte es noch nicht so viel Naschwerk gegeben wie heutzutage, Lebkuchen waren die Süßigkeit des einfachen Volkes gewesen und die Lebküchner damit außer Konkurrenz. Der Kerzenverkauf tat ein Übriges. Licht brauchte schließlich jeder.
Doch dann hatte der Zucker seinen Siegeszug angetreten und den Honig immer mehr verdrängt. Und damit hatte der Untergang der klassischen Lebküchner begonnen, denen die Zuckerbäcker nun das Leben schwer machten.
Elise nahm noch einen Bissen von ihrem Lebkuchen und packte ihn dann entschlossen in ihre Tasche. Sie wollte sich den schönen Tag wirklich nicht mit trüben Gedanken verderben! Zu verlockend sah der zugefrorene See aus, obendrein hatte es zu schneien begonnen. Sie wollte jetzt endlich aufs Eis! Elise ließ sich auf einem Baumstumpf am Rande des Sees nieder und schnallte ihre Schlittschuhe an. Dann stapfte sie durch die Schneedecke die letzten Meter bis zum See - und stand endlich auf dem Eis. Wie herrlich es sich unter den Kufen anfühlte! Elise fuhr ein Stück weiter hinaus, schneller und immer schneller, legte den Kopf in den Nacken und genoss das Gefühl ihres dahingleitenden Körpers und der Schneeflocken auf ihrem Gesicht.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie in der Nähe eine junge, elegante Frau in ihrem Alter, die sich besonders grazil auf dem Eis bewegte. Elise erkannte sie sofort: Das war Helene von Tucher aus der berühmten Brauerei-Dynastie. Die Familie besaß hier in Nürnberg sogar ein Schloss. Die beiden jungen Frauen waren einander schon einige Male begegnet - oder besser: Elise hatte die andere dann und wann gesehen, bezweifelte aber, dass Helene sie bemerkt hatte, geschweige denn etwas von ihrer Existenz wusste. Insgeheim bewunderte sie die Tuchertochter, die immer so elegant aussah und obendrein mit ihrem blonden Haar und den strahlend grünen Augen eine Schönheit war.
In diesem Moment ertönte aus der Richtung, in der Helene glitt, ein bedrohliches Knacken, gefolgt von dem eigentümlich hallenden Klopfgeräusch, das ertönte, wenn Eis zu brechen drohte. Und dann ging alles ganz schnell: Helene von Tucher gab einen erschrockenen Schrei von sich, da brach sie auch schon ein. Sofort versank die junge Frau in dem entstandenen Eisloch. Die anderen Schlittschuhläufer standen nur wie erstarrt da, machten erschrockene Gesichter oder schrien herum.
»Warum hilft ihr denn keiner?«, rief Elise und fuhr, so schnell sie nur konnte, zum Eisloch. »Halten Sie meine Füße fest!«, rief sie einem tatenlos dastehenden Herrn zu, während sie sich flach auf das Eis legte.
Der Mann erwachte aus seiner Erstarrung und schnappte sich ihr linkes Bein, während ein zweiter hinzukam und sich ihr rechtes griff. Dann legten sich die beiden Männer ebenfalls aufs Eis und schoben Elise näher an das Loch heran, zögerten dann aber.
»Na, machen Sie schon! Weiter! Ich versuche, sie rauszuziehen«, schrie sie und holte einmal tief Luft, bevor die Männer sie weiterschoben, sodass sie mit dem Oberkörper untertauchte. Das eisige Wasser stach wie tausend Nadeln, die Luft blieb ihr weg, doch zu ihrer unfassbaren Erleichterung war Helene nicht unter die Eisdecke abgetrieben. Sie bekam ein Stück Stoff zu fassen, dann eine Hand. Mein Gott, war das kalt! Doch sie durfte nicht aufgeben! Lang würde sie da unten nicht überleben! Wenn die Männer sie doch nur zurückziehen würden! Sie wackelte ein wenig mit den Beinen, um ihnen ein Signal zu geben. Zum Glück schienen die beiden zu verstehen und zogen sie mit aller Kraft nach hinten. Elise hielt die Hand der Tucher-Erbin fest umklammert und schnappte nach Luft. Wie durch einen Nebel nahm sie wahr, dass helfende Hände nach Helene griffen und sie ganz aus dem Loch zogen. Mit ihren schweren, eisigen Kleidern am Leib lag Elise keuchend auf der Eisfläche.
»Atmet sie?«, rief Elise in Richtung der Menschen, die sich um Helene kümmerten.
»Ja«, rief eine Frau zu ihrer Erleichterung. »Sie hat die Augen wieder geöffnet.«
Sie ließ sich aufhelfen, wobei sie zitterte und ihre Zähne wie noch nie zuvor in ihrem Leben klapperten. Die eiskalte Kleidung raubte ihr fast die Sinne. Und dann wurde es schwarz um sie.
***
Wie von fern drangen die besorgten Stimmen in Elises Bewusstsein. Sie spürte eine kühle Hand auf ihrer Stirn. Jemand wickelte feuchte Tücher um ihre Waden. »Wenn das Fieber nicht innerhalb der nächsten Stunde sinkt, müssen wir nach einem Arzt schicken«, hörte sie ihre Mutter sagen.
»Was soll der denn noch sagen oder tun?«, erklang nun die verzweifelte Stimme ihres Vaters. »Er hat doch schon die verschiedensten Tinkturen und Säfte verordnet. Aber es hilft alles nichts.«
Die Stimme des Vaters wurde leiser, driftete immer weiter fort. Elise fühlte sich wieder, als drehe sie ihre verträumten Runden auf dem gefrorenen See. In diesem Moment begann es zu schneien, lauter kleine weiße Sterne fielen sanft vom Himmel, küssten ihr Gesicht und liefen an ihr herab. Aber die Flocken waren kalt, so eisig kalt. Die Kälte vertrieb den wunderbaren Zauber. Elises Körper zitterte und bebte. Und da war sie wieder, die besorgte Stimme ihrer Mutter, panisch nun.
»Sie hat Schüttelfrost. Wilhelm, du musst etwas tun!«
Elise spürte, dass ihr eine weitere Decke über die Beine gelegt wurde.
Dann wieder die Stimme ihres Vaters. »Ich habe eine Idee«, murmelte er. »Ich bin bald wieder zurück.«
»Wo willst du denn jetzt hin?«, rief Margarethe Lusin entsetzt.
»In die Backstube hinunter.«
»Aber du kannst doch jetzt nicht ans Backen denken!«, widersprach seine Frau.
»Es ist für Elise«, erwiderte er. »Vertrau mir. Ich mache, so schnell ich kann. Du musst dafür sorgen, dass das Fieber nicht weiter steigt.«
Draußen tanzten die Schneeflocken. Wilhelm, der den Schnee und die kalte Jahreszeit sonst so liebte - schließlich waren das die Monate, in denen sich seine Lebkuchen am besten verkauften -, verzog das Gesicht, als er auf dem Weg in seine Backstube durch das Fenster auf dem Treppenabsatz nach draußen sah. Er wusste, dass der so schön und so märchenhaft aussehende Schnee mit eisiger Kälte einherging. Einer Kälte, die seiner kleinen Elise derart schwer zugesetzt hatte, dass sie sich jetzt in einem beängstigenden Zustand befand. Seine tapfere Lebensretterin, die ohne Zögern, unter Einsatz des eigenen Lebens, die Tucher-Erbin gerettet hatte.
Besorgte Zeugen hatten die völlig ausgekühlte Elise, in Decken gehüllt, nach Hause gebracht und atemlos Bericht erstattet. Margarethe hatte sie sofort ins Bett gepackt, mitsamt Wärmflaschen und bergeweise Decken. Doch Elise war einfach nicht wieder warm geworden.
Am nächsten Morgen hatte sie über schreckliche Halsschmerzen geklagt, am Abend keinen Appetit gehabt und in der Nacht hohes Fieber bekommen, das seit drei Tagen nicht mehr sinken wollte. Die Ärzte waren ratlos und Wilhelm noch nie in seinem Leben so verzweifelt gewesen. Was er nun versuchen wollte, war ein letzter Strohhalm, nach dem er verzweifelt griff. Einen ganz speziellen Lebkuchen wollte er ihr backen. Einen, der nicht dem Genuss, sondern der Gesundheit diente. Mit ganz wenig Mehl und mit besonders vielen Gewürzen. Schließlich war die heilende Wirkung dieses Gebäcks von alters her bekannt. Schon in den Klöstern, in denen sie einst hergestellt wurden, hatte man die Lebkuchen zu medizinischen Zwecken eingesetzt, wusste man doch um die schmerzstillende Wirkung der Nelke und dass Zimt Appetit und Kreislauf anregte.
Inzwischen hatte Wilhelm den hinteren Teil des Erdgeschosses erreicht, in dem sich die Backstube befand. Zunächst feuerte er den Ofen an, dann ging er in die Gewürzkammer und holte eilig Nelken, Zimt, Muskat, Kardamom und Piment aus den dafür vorgesehenen Gefäßen. Sogleich erfüllte ein herrlicher Duft den...
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