Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Ich bin’s. Ich wollte dich an was erinnern. Du weißt schon. Und diesmal kannst du dich nicht drücken«, sagte die Frauenstimme durch die Gegensprechanlage.
Ich erkannte Sonia sofort und konnte mir auch schon denken, an was sie mich erinnern wollte, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob ich mich drücken sollte oder nicht. In der nächsten Woche begann die Prüfungszeit, und bevor alle in Klausur gingen, stand die letzte große Party an.
»Wie geht’s? Was machen die anderen?«, fragte sie, nachdem sie hereingekommen war und es sich auf dem Wohnzimmersofa bequem gemacht hatte, mit übereinandergeschlagenen Beinen wie eine Hollywoodschauspielerin.
»Keine Ahnung. Ist mir auch egal«, antwortete ich. Und das war die Wahrheit. Die »anderen« waren meine Mitbewohner. Ich wohnte zwar mit ihnen zusammen, aber im Grunde war es, als ob ich alleine wohnen würde. Ich kannte ihre Namen und nur wenig mehr von ihnen: dass der eine Spanisch studierte und der andere versuchte, sein Geographiestudium zu beenden. Mehr musste ich nicht wissen. Wir hatten uns miteinander arrangiert. Ich wohnte dort, es gab gemeinsame Räume, und manchmal begegneten wir uns auf dem Flur. Das war’s. Mehr war nicht nötig.
Was damals für mich zählte, war nur, dass sie mir Platz zum Atmen ließen und mich nicht störten, wenn ich die Jalousie runterließ und mich zum Lesen, Musikhören, Filme-am-Computer-Sehen oder zum Nachdenken auf dem Bett in meinem Zimmer einschloss. Dass sie mich unter keinen Umständen störten. Denn das hatte ich in dieser Wohnung gesucht, weit weg von meinem Dorf, von den ständigen Unterbrechungen durch meine Mutter, von der Überwachung durch die Nachbarn und von dieser Art häuslichem Flur, in den sich meine Straße verwandelt hatte.
Weniger klar ist mir, warum ich die Störungen von Sonia zuließ. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir nur ein, dass sie die Einzige war, die wusste, wann sie störte. Und es machte ihr nichts aus zu gehen, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Vielleicht waren wir so gute Freunde geworden, weil sie begriff, was bis dahin nie jemand verstanden hatte: wann ich Zeit für mich allein brauchte. Aber sie spürte auch – und ich weiß immer noch nicht, wie –, wann man zwar Nein sagte, aber eigentlich Ja meinte. Wenn man etwas nicht machte, ohne genau zu wissen, warum, obwohl man es eigentlich gerne machen würde. Und so ging es mir oft. Trotzdem war ich mir inzwischen sicher, dass ich am nächsten Tag nicht auf die Party gehen wollte. Deshalb versuchte ich, sie auf ein anderes Mal zu vertrösten.
»Kommt überhaupt nicht infrage. Diesen Donnerstag lässt du mich nicht hängen. Und wenn ich dich mit Gewalt aus deinem Zimmer zerren muss. Sieh dich doch mal an, du hast ja schon gar keine Farbe mehr im Gesicht.«
»Sonia, ich habe wirklich keine Lust. Ich hab’s dir doch schon so oft gesagt. Das ist nichts für mich. Mir gefällt die Musik nicht, ich vertrage keinen Alkohol, und am nächsten Tag bin ich völlig erledigt.«
»Aber manchmal wirst du richtig lustig, und am Ende hast du doch deinen Spaß.«
»Das ist nicht wahr. Und das weißt du auch. Ich fühl mich unwohl. Und ich … ich lande doch eh bei keiner. Ich habe es satt, um die Häuser zu ziehen und am Ende als Einziger leer auszugehen.«
»Das verstehe ich echt nicht.«
»Was verstehst du nicht?«
»Dass du keine rumkriegst. Mit diesem Engelsgesicht …«, sagte sie und kniff mir in die Backe.
»Ja, ich weiß, total süß. Hast du mich mal richtig angeguckt?« Und einen Moment lang betrachtete ich meinen Körper von außen. Als ich klein war, sagte meine Mutter immer, dass ich hübsch wie ein Mädchen wäre und aussähe wie ein Engel von Salzillo. Aber wenn man als junger Mann noch immer dasselbe Gesicht und fast dieselbe Größe, dazu ein Gewicht von hundert Kilo, eine rasend zunehmende Kurzsichtigkeit und eine angehende Glatze hat, sieht die Sache schon etwas anders aus. Und wenn man sich dann auch noch schwarz kleidet, im Glauben, das würde schlank machen, und Hemden anzieht, die zwei Nummern zu groß sind, damit sich die Speckröllchen nicht abzeichnen, dann ergibt das nicht gerade das Bild eines Verführers. Deshalb war ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren noch Jungfrau und überzeugt, dass die Nacht nichts für mich war.
»Beschwer dich nicht, so übel bist du gar nicht.«
»Das sagst du. Du bist schließlich …«
»Was? Eine Lesbe?«, entgegnete sie, ohne mich ausreden zu lassen. Und sofort wurde mir klar, dass ich ins Fettnäpfchen getreten war. Aus irgendeinem Grund hatte es Sonia nicht so gern, wenn man sie daran erinnerte. Nur wenige wussten davon, selbst einige enge Freunde ahnten nichts. Und ihre Mutter pries in der Gemeinde immer noch ihre hübsche, ledige Tochter an.
»Ich wollte sagen … du bist schließlich meine Freundin.« Meiner Lüge bewusst, hob ich das letzte Wort hervor.
»Ist ja auch egal. Wir haben alle unsere Probleme. Es ist nicht immer leicht.«
»Tut mir leid, entschuldige.«
»Schon gut, also am Donnerstag … du weißt schon. Und wenn ich mit einer ganzen Armee antreten muss, Sahnetörtchen, ich hol dich hier raus!«
»Du hast gewonnen«, gab ich mich schließlich geschlagen. Sonia küsste mich auf die Wange und schaute mich noch eine Weile an.
»Ach ja, noch was, du bist seit heute fertig, stimmt’s?«
»Nein, morgen erst. Mir fehlt noch die letzte Vorlesung in Gegenwartskunst.«
»Die hält Helena, nicht wahr? Du hast echt Schwein gehabt. Ich hatte diesen unfähigen Navarro. So ein Vollidiot.«
»Ich weiß, den musste ich im ersten Semester ertragen. Helena ist anders. Heute hat sie uns Bilder gezeigt, da ist es mir eiskalt über den Rücken gelaufen. Sagt dir Bob Flanagan was?«
Sonia schüttelte den Kopf.
»Willst du was Abgefahrenes sehen?«
Wir gingen in mein Zimmer und setzten uns vor den Computer. Ich suchte im Internet ein paar Fotos von Flanagan und zeigte sie ihr.
»Krass«, entfuhr es ihr, als sie Flanagans aufgeschlitzten Penis sah. »Wie manche Leute austicken!«
»Na ja, man muss das alles im Kontext sehen.« Für mehr Argumente fehlte mir die Kraft.
Ich suchte nach einem Video von Flanagans Performance, aber die meisten waren offenbar zensiert. Ich fand nur den Schlussteil des Films, der Flanagans Tod im Krankenhaus zeigte. Da er weder Sex noch explizite Gewalt enthielt, war dieser Teil problemlos im Netz zu finden. Interessanterweise fand ich diese Bilder am schrecklichsten. Und Sonia wohl auch, ihre Gesichtszüge erstarrten nach den ersten paar Sekunden.
»Ich glaube, ich habe genug gesehen. Das reicht mir für heute.«
Da fiel mir ein, woran ich hätte denken müssen, bevor ich ihr so etwas zeigte. Sonias Vater hatte das ganze Jahr im Krankenhaus verbracht, er hatte Lungenkrebs, und obwohl der Tumor zurückgegangen zu sein schien, war es verständlich, dass sie auf Krankenhäuser empfindlich reagierte.
»Ich schalte es sofort aus, kein Problem.«
»Egal, ehrlich, ich wollte eh gehen, es ist schon spät. Außerdem will ich dich nicht weiter aufhalten.«
»Wie du meinst.«
»Wir sehen uns ja morgen. Geh du mal früh ins Bett und bereite dich auf die Party vor.«
Sie umarmte mich und verließ das Zimmer, als wäre sie bei sich zu Hause. Dann hörte ich die Tür ins Schloss fallen.
Ich blieb im Halbdunkel meines Zimmers sitzen, umgeben von nackten Wänden, an denen weder eine Zeichnung noch ein Bild oder ein Poster hing. Ich hatte nur Bücher. Viele Bücher, als würde hier ein Literaturstudent hausen und kein angehender Künstler. Manchmal fragte ich mich, warum ich am Ende bei Kunst hängengeblieben war. Und fand keine Antwort darauf. Mir gefielen Bilder, mir gefiel, sie zu interpretieren, zu verstehen, aber nicht, sie selbst zu machen. Es gab schon viel zu viele auf der Welt, es mussten nicht noch mehr werden.
Ich legte mich auf das Bett, nahm den Laptop auf meinen Schoß und sah mir noch einmal den letzten Teil von Sick an. Was ich sah, ergriff mich wieder so stark wie während der Vorlesung.
Der Tod ist zweifellos die radikalste Geste, zu der ein Künstler fähig ist. Flanagan hatte das absolute Kunstwerk erschaffen: Ein Künstler stellt seine Krankheit und seinen eigenen Tod aus. Viele andere haben an Werken über Tod und Krankheit gearbeitet. Aber niemand ist bis zum wirklichen Tod gegangen, wie Flanagan. Niemand ist so weit gegangen, sich selbst als Leichnam...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.