Schweitzer Fachinformationen
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»Ihr wollt wirklich in die ZAD?«, fragt Delphine entgeistert, als wir ihr von unserem Ziel erzählen. »Der Ort ist gefährlich, voller Verrückter, Drogenabhängiger und Banditen!« Wir sitzen in ihrem Auto, der 18. Mitfahrgelegenheit seit Beginn unserer Reise vor fünf Tagen. Das Trampen läuft reibungslos. Am Fenster ziehen moosige Wälder vorbei, und während wir langsam die Landstraße entlangfahren, wird Delphine nicht müde, uns von dem geplanten Besuch auf dem besetzten Land abhalten zu wollen. »Ich habe die schlimmsten Dinge gehört. Da geht es zu wie in Sodom und Gomorra!« Jule stupst mich an und verdreht grinsend die Augen.
»Na gut«, lenkt Delphine irgendwann ein. »Aber schreibt euch wenigstens meine Telefonnummer auf. Für den Notfall!« Das Auto kommt vor dem besetzten Gebiet zum Stehen. Pflichtbewusst notieren wir ihre Nummer und steigen aus. Jule stößt einen genervten Seufzer aus. »Sie hat es ja nur gut gemeint«, sage ich und werfe mir mein Gepäck über die Schulter. »Dann mal auf! Es wird Zeit, uns ein eigenes Bild zu machen.«
ZAD ist das Akronym für Zone à Défendre, zu Deutsch »das zu verteidigende Gebiet«, und steht für Zonen in ganz Europa, die besetzt werden, um das Land vor der unmittelbaren Zerstörung zu schützen. Wir besuchen die ZAD in Notre-Dame-des-Landes. Das Gebiet liegt im ländlichen Pays de la Loire im Nordwesten Frankreichs und erstreckt sich über knapp 1700 Hektar Grünfläche mit Wäldern, Wiesen, Mooren und Feldern. Mehrere Hundert Menschen halten es seit den 1970er-Jahren besetzt, um ein geplantes Flughafen-Großprojekt zu verhindern. Über die Zeit wurde die ZAD dabei zum Experimentierfeld für neue Formen des Zusammenlebens.
Als wir über die route des chicanes, die Straße der Schikanen, in das besetzte Gebiet hineinlaufen - den Barrikaden aus alten Reifen und verbrannten Autowracks ausweichend, an meterhohen Holzwachtürmen mit wehenden Piratenflaggen vorbei, deren Architektur an die selbst gebauten Baumhäuser unserer Kindheit erinnert -, gehen mir noch einmal Delphines Worte durch den Kopf. »Hey, Jule, was ist, wenn Delphine recht hatte?«
»Ach Quatsch, den Leuten macht es doch immer Spaß, die schlimmsten Geschichten von Orten zu erzählen, die sie nicht kennen!«
»Stimmt schon. Aber findest du nicht auch, dass hier alles irgendwie postapokalyptisch aussieht? Mich würde es nicht wundern, wenn hinter der nächsten Ecke ein paar Leute mit bemalten Gesichtern und selbst gebauten Waffen aus dem Gebüsch springen«, sage ich halb ernst und suche Jules Gesicht nach einer Regung ab. »Spinn mal nicht so rum!«, sagt sie lachend.
Wir biegen um eine Kurve, und die Umgebung ändert sich schlagartig. Vor uns pure Idylle: Alte Rosskastanien und üppig vollbehangene Brombeerhecken säumen die autofreie Straße. Die Luft ist sommerschwanger und trägt den Duft von Heu und Stockrosen. Statt auf bemalte Krieger:innen stoßen wir auf zwei junge Frauen, die uns barfuß und mit einem einladenden Lächeln entgegenkommen. An ihren Armen baumeln Körbe gefüllt mit Karotten, Roter Beete und Salatköpfen. Frische Erde klebt noch am Gemüse. »Hey!«, rufen sie uns freundlich zu. »Eure Gesichter sind neu! Was hat euch hierher verschlagen?« Jule und ich stellen uns vor, erzählen von der geplanten Reise um die Welt und der Suche nach gelebten Utopien.
Die beiden heißen Celine und Cecile und laden uns in ihre Hütte ein. »Ihr könnt erst mal bei uns unterkommen.« Von der Allee führt ein versteckter Pfad durch die dichten Brombeerhecken. Wir bleiben kurz vor einem gurgelnden Bächlein stehen und balancieren dann nacheinander über eine wankende Mercedes-Benz-Haube, die als Brücke hinüberführt. Nach fünf Minuten Fußmarsch tut sich eine Lichtung auf. Im Schutz des Wäldchens steht eine windschiefe Hütte, rechts liegt ein kleiner wilder Garten, es duftet nach Salbei, Kamille und reifen Himbeeren. Julias und mein Blick begegnen sich, wir müssen lachen. Die Worte von Delphine und meine anfänglichen Fantasien wirken plötzlich lächerlich und ziemlich realitätsfern.
»So idyllisch geht es nicht immer zu«, sagt Celine, als hätte sie meine Gedanken gehört. »Es heißt nicht umsonst >die zu verteidigende Zone<. Unsere Freiheit ist hart erkämpft, und wenn wir mit unseren Forderungen nicht durchkommen, leider auch nur eine temporäre. Habt ihr von der Operation Cäsar gehört? Im Dezember 2012 sind im Morgengrauen über 2000 Polizist:innen in die ZAD einmarschiert. Zwangsräumung. Das war zumindest ihr Plan. Aber wir waren vorbereitet, und sie haben mit dem enormen Widerstand nicht gerechnet. Die Operation zog sich über mehrere Wochen hin - Hütten und Gärten wurden von dem Kommando zerstört, aber von uns so schnell wieder aufgebaut, dass ihnen irgendwann die Puste ausging. Außerdem haben sie die Unterstützung von außerhalb unterschätzt. Die Menschen kamen von überall, um uns zu helfen. Ich erinnere mich gut an die eisigen Winternächte, als wir uns um die großen Feuer versammelt haben. Wir waren erschöpft, aber an manchen Tagen schwoll die Stimmung an; Töpfe, Pfannen, Stöcke begannen im Takt zu klingen, Trommeln stimmten ein, unser Gesang war weit über dieses Gebiet hinaus zu hören: >Wir sind die Armee der Träumer, und niemand kann uns aufhalten!<« Ich kann die Trommelschläge förmlich hören und bekomme Gänsehaut beim Gedanken an all diese Menschen und ihre unerschütterliche Entschlossenheit.
Die Holzstufen knarren laut unter meinen Schritten, als ich die Treppe zum Hütteneingang hinaufsteige. Ich schiebe einen schweren Vorhang zur Seite, und das eben noch gesellige Geplapper im Inneren der Behausung verstummt. Stille. Unangenehme Stille. »Hallo!«, rufe ich laut und hoffe, so meine Unsicherheit verbergen zu können. Vier Leute sitzen am Tisch, ein Fünfter schnitzt in der Ecke, und jemand anders streckt seinen Kopf aus dem Küchenbereich; zwölf Augen, die sich nun alle fragend auf mich richten.
Cecile schiebt sich an mir vorbei. »Entspannt euch! Die zwei sind mit uns gekommen, haben wir gerade kennengelernt.« Die Skepsis schwebt wie eine wabernde Wolke im Raum. Mittlerweile steht auch Jule neben mir in der engen, stickigen cabine. So nennen die ZAD-Bewohner:innen die provisorischen Hütten aus Sperrholz, Autoschrott, Paletten und recycelten Fenstern, die überall auf dem besetzten Gelände errichtet wurden. Zaghaft kehren die Worte zurück, und die Anwesenden stellen sich nacheinander vor: François, Amalia, Jean, Esta, Pierre und Silvan. Esta steht auf, richtet ihren bohrenden Blick erst auf Jule, dann auf mich, ihre Unterlippe mit den zwei goldenen Ringen bebt. Mit dem Undercut, ihrer kleinen, gedrungenen Figur und den schwarzen Springerstiefeln erinnert sie mich an eine Freundin aus unserer Dorfpunkjugendgruppe. »Eines vorweg«, sagt sie und hebt bedrohlich ihre Stimme. »Wenn wir herausfinden, dass ihr Bullen seid oder Undercoverjournalistinnen, dann steckt ihr in ziemlichen Schwierigkeiten.« Ihre katzenartigen Augen lassen nicht von uns ab, sie starrt, als wollte sie uns ein Geheimnis entlocken.
»Mensch, Esta, lass doch gut sein. Die haben nichts Böses vor. Das spüre ich an ihren Schwingungen«, sagt Pierre ruhig. Er blickt kurz auf, streicht zwei lange blonde Strähnen aus seinem jungenhaften Gesicht und widmet sich dann wieder der kleinen Holzfigur auf seinem Schoß. Eine Lederweste bedeckt die dürre, haarlose Brust, Pierres Füße sehen so wild und schmutzig aus, als wären Schuhe für ihn eine völlig überflüssige Erfindung.
»Hier, setzt euch«, lädt uns François ein. Er ist hochgewachsen, schmal und stammt aus Quebec. Mit seinem in die Jahre gekommenen Jackett und der Ledermappe in der Hand sieht er aus, als...
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