DER MITMACHER
Eine finstere Vergangenheit hängt der Republik wie ein Wackerstein um den Hals. Es ist auch die Geschichte meines Vaters. Sie ist hier von Belang, weil sie beispielhaft erzählt, wie es zum Bruch zwischen den Generationen kommen konnte. Die Folgen sind bis heute zu spüren, denn die »Achtundsechziger« waren ja nicht zuletzt eine Antwort auf ihre Väter (und Mütter). Sie sind durch die Institutionen des Landes marschiert, haben sie unterwandert und weitgehend übernommen: Universitäten, Medien, Behörden, Parlamente. Jetzt haben wir den Salat. Die Re-Ideologisierung der Politik nach den nüchternen Aufbaujahren ist auch ein Ergebnis dieses Generationenkonflikts.
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In einer Zigarrenkiste liegen das Bundesverdienstkreuz, rote Emaille mit Bundesadler, und das Eiserne Kreuz, schwarz, das Hakenkreuz in der Mitte. Sie stehen für die Pole von Walters Leben. Auch ein Totenschein und das winzige Foto einer Frau liegen da, die auf keinem anderen Bild zu sehen ist. Marle Herles, geborene Jahnel, Jahrgang 1914, kurzes, dunkles Haar, hübsches Gesicht, Vaters erste Frau. Warum hat er über sie kein einziges Wort verloren? Es riecht nach einem dunklen Geheimnis. Vielleicht ist es aber auch nur eine gewöhnliche Tragödie. Die junge Frau war schwer an Diabetes erkrankt, Kinder konnte sie nicht bekommen.
In der Kiste ist auch ein Bündel eng mit Schreibmaschine beschriebener Blätter zu finden, Erinnerungen, verfasst wenige Jahre vor seinem Tod. In meinen Augen sind sie das Wertvollste, was Vater mir hinterlassen hat. Es ist der Versuch einer Antwort auf unbeantwortete Fragen.
Walter Herles als Student in Prag
Von den 73 Seiten handeln 56 von den 40 Jahren vor meiner Geburt, von der ersten Hälfte seines Lebens. Er hat zwei Weltkriege überlebt, gestohlene Lebenszeit. Ohne sich groß zu bewegen, ist er Bürger von fünf unterschiedlichen Staaten und politischen Systemen gewesen.
Als Untertan des österreichischen Kaisers kommt Walter Eduard Vinzenz Herles im Dezember 1911 in Komotau zur Welt. Nach dem Ersten Weltkrieg gehört die nordböhmische, fast ausschließlich von deutschsprachigen Bürgern bewohnte Stadt zur Ersten Tschechoslowakischen Republik. 1939 marschieren die Nazis ein, übernehmen erst den deutschen Teil, dann das ganze Land als Reichsprotektorat Böhmen und Mähren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchtet Walter aus einem tschechischen Arbeitslager zuerst in die sowjetisch besetzte Ostzone, die künftige Deutsche Demokratische Republik, dann in die Bundesrepublik. Seine Eltern sind kleine Leute. Mutter Johanna ist die Tochter eines Kondukteurs, Vater Karl Schlosser bei der Bahn, Sohn eines Spenglers. Er hat im Ersten Weltkrieg in der grauen Felduniform der kaiserlichen Infanterie gedient.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird in Komotau das Denkmal des österreichischen Kaisers gestürzt, und tschechische Legionäre marschieren in die Stadt. Die Familie hamstert in den Dörfern Kartoffeln und Milch, sammelt auf abgeernteten Feldern liegen gebliebene Ähren, die USA finanzieren Suppenküchen. Ihr Sohn Walter soll der erste Akademiker werden. Im humanistischen Gymnasium herrscht »strenge Disciplin«. Manch alter Brauch hält sich, etwa »Tatzenhiebe« mit dem Rohrstock. Die feuerzangenbowlenhaften Schnurren sind schwer nachzuvollziehen. Meine eigene Schulzeit ist mir als Leidenszeit in Erinnerung.
Nach dem Abitur unternimmt Walter mit einem Freund eine Radrundfahrt durch ganz Deutschland. Sie ärgern sich, weil die Reichsdeutschen sich wundern, »dass wir als Studenten aus Böhmen so gut Deutsch sprachen. Von uns 3,5 Millionen Sudetendeutschen wusste man im Reich leider sehr wenig.« Das sollte sich ändern.
Er liebt als Student »eine kleine tschechische Freundin« im zweisprachigen Prag. Nach zwei Semestern Jurastudium wird sein Vater, der jetzt offiziell Karlu Herlesovi heißt, arbeitslos, weil er nicht Tschechisch kann. Walter kann sein Studium knicken. Er geht zurück nach Komotau auf die Lehrerbildungsanstalt. Dann ruft das Vaterland, das tschechische. »Weil ich mich nun mit der recht schäbigen Uniform nicht gerne sehen lassen wollte, ließ ich mir bei einem Schneider eine Ausgehuniform anfertigen.« Das spricht für seine Eitelkeit, aber nicht für antitschechische Ressentiments. Er wird, weil er die Sprache beherrscht, schnell zum »Desatnik« befördert, zum Obergefreiten.
Er gehört den »Staffelsteinern« an, einer katholischen Vereinigung, die aus der romantischen Wandervogelbewegung hervorgegangen ist. Namensgeber ist das kleine fränkische Städtchen Staffelstein. Man wandert über Böhmens bewaldete Höhen und geht immer wieder auf »Große Fahrt«, die weiteste führt 1932 bis nach Istanbul, mit dem Zug, auf Flößen und Karren, auch zu Fuß. Vater steigt auf zum »Gaugraf« und ist Turner. Das wird ihm zum Verhängnis. Denn in Böhmen formiert sich um den Turnlehrer Konrad Henlein die nationalistische Sudetendeutsche Heimatfront. Ihren Kern bilden die Turnvereine.
Als Hitler 1933 im Reich an die Macht kommt, emigrieren zahlreiche Deutsche ins liberale Prag, die staatenlosen Brüder Thomas und Heinrich Mann etwa erhalten tschechische Pässe. Staatspräsident Masaryk, ein Philosoph, verspricht eine für alle offene Gesellschaft. Aber ihm folgt 1935 der Nationalist Benes. Man rät Walter, sich nicht länger mit den Turnern einzulassen. 1938 erhält Henleins Sudetendeutsche Partei, ein Ableger der NSDAP, bei den Kommunalwahlen 90 Prozent der Stimmen. »Heim ins Reich« lautet jetzt die Parole.
Was ein knappes halbes Jahrhundert später großspurig »sexuelle Revolution« genannt wird, hat Walter offenbar nicht nötig. Er nennt es einfach »Jugendarbeit«, in der er sehr engagiert ist, erwähnt eine ganze Reihe weiblicher Wesen, die es ihm angetan haben, unter anderen eine Kellnerin in einem Dorfgasthaus, »mit der ich mich gut verstand.« Bis ein Schuss fällt. »Ein Mann hatte sich aus unglücklicher Liebe zur ihr angeschossen. Er starb aber nicht.« Ist hier ein Romanstoff versteckt?
Jugendarbeit ist nun aber leider auch eine hochpolitische Angelegenheit. Die Staffelsteiner und die Turner werden mit anderen Jugendgruppen zur Sudetendeutschen Volksjugend fusioniert. Walter ist Ortsjugendführer, bekommt einen grauen Anzug mit kurzen Hosen und weißen Strümpfen verpasst und einen grauen Hut. Weil er die verbotene Uniform trägt, wird er von einem »Geheimpolizisten« verhaftet und zur Strafe als Lehrer versetzt. Er marschiert auch in den Reihen der Sudetendeutschen Partei und führt den Verein der Junglehrerschaft des Bezirks an. »Die Bäume des Lehrers Herles werden nicht in den Himmel wachsen«, droht ihm die kommunistische »Rote Fahne«.
Die Tschechen fürchten den Angriff Hitlers und bauen an der Grenze Bunker und Panzersperren, die Mobilmachung steht bevor. Walter will nicht auf Deutsche schießen müssen, flieht deshalb nach Sachsen und schließt sich dem Freikorps an. Jugendarbeit betreibt er nun »mit netten sächsischen Mädchen« in einer Uniform der SA, zu der er - als tschechisch-slowakischer Staatsbürger - nicht gehört. Ob er sich auch an Grenzprovokationen beteiligt, erzählt er nicht. Es heißt nur: »Da gab es dann leider noch einen bösen Zwischenfall. Das tschechische Militär hatte unmittelbar an der Grenze auf einer Anhöhe eine Maschinengewehrstellung eingerichtet. Diese wollten nun einige Übereifrige, nur mit Gewehren ausgerüstet, stürmen. Das ging aber daneben. Es gab auf deutscher Seite drei Tote.«
Die Sudetenkrise eskaliert. Aus Angst vor Krieg unterschreiben am 29. September 1938 Großbritanniens Premierminister Neville Chamberlain und Frankreichs Ministerpräsident Édouard Daladier gemeinsam mit Italiens Duce Benito Mussolini und Adolf Hitler in München das Abkommen, mit dem das Sudetenland ans Deutsche Reich abgetreten wird. Damit ist die Tschechoslowakei isoliert und muss akzeptieren, dass der von Deutschen besiedelte Landesteil verloren geht.
Schon am 1. Oktober marschiert die Wehrmacht ein. »Wir gehörten nun zu Deutschland, ein Traum war in Erfüllung gegangen.« Es gibt für seinen Vater wieder Arbeit. »Wir wussten damals im Jubel freilich nicht, was noch auf uns zukommen würde.« Die »Sieger« führen sich »oft recht herrisch auf. Sehr viel änderte sich nicht zu unserem Vorteil. Wir sahen einst in Deutschland nur das Schöne und Gute, nun gab es manche Enttäuschung. So zerbrach auch sehr bald die Gemeinschaft im Turnverein. Es kamen Werber für die SS. Wer kleiner als 1.70 Meter und Brillenträger war, kam nicht in Frage.«
Auf Walter trifft beides zu. Hätte er sich andernfalls anwerben lassen? Ich halte die Skepsis gegenüber den einmarschierten Nazis nicht für nachgeschoben; sie entspricht seinem Charakter. Aber: Er beurteilt Menschen nach ihrem Verhalten, nicht nach ihrer Ideologie - das gilt auch später für den Kommunalpolitiker. Das ist nicht unsympathisch, aber auch nicht frei von gefährlicher Arglosigkeit. Mein Vater ist im Grunde...