Schweitzer Fachinformationen
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Jetzt ist die schönste Zeit des Jahres, diese hellen Wochen, wenn der Sommer noch ganz jung ist. Hier oben im Gebirge dauert der Winter so lange an. Der Schnee bedeckt die Hochebenen auch dann noch, wenn die Menschen unten in der Stadt bereits ihre Sommersachen angezogen und Badestrände und Biergärten in Beschlag genommen haben. Aber jetzt ist Juni, und es ist ein heller, schöner Morgen im Himmelfjell.
Wenn man nach Dalen, dem kleinen, an einem reißenden, grünen Fluss gelegenen Ort, fährt, an der Kirche rechts abbiegt und der kurvenreichen Gebirgsstraße bis hinauf zur Baumgrenze folgt, gelangt man zum Himmelfjell. Dort, am Ende der Straße, befindet sich das Himmelfjell Hotel. Das prächtige, große, braun gebeizte Gebäude mit weißen Fensterrahmen und Schnitzereien im Drachenstil wird seit der Zeit, als Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Touristen die Gebirgswelt für sich entdeckten, von Ingrids Familie betrieben. Ingrid ist hier aufgewachsen. Und nach vielen Jahren ist sie zurückgekehrt. Nach Hause.
Das Hochgebirge ist die Landschaft ihrer Kindheit, die sie nunmehr mit Tor teilt. An diesem Morgen gehen sie hier zusammen entlang, über Gestein und Heidekraut, zwischen Wacholderwurzeln und Weidenbüschen. Der Mond präsentiert sich am Himmel als Sichel, sie aber recken die Köpfe zur Sonne. Obwohl Tor und Ingrid früh auf den Beinen waren, hatte die Sonne sich bereits vor ihnen rausgetraut. So richtig Nacht wird es zu dieser Zeit des Jahres sowieso nicht. Die Sonne hatte für ein paar Stunden im Schatten der Berge geschlummert, nunmehr liegen Nebelschwaden in den Talsenken und sorgen dafür, dass die Feuchtigkeit der Nacht noch ein wenig anhält. Aber richtig dunkel wird es im Sommer nicht, und um sieben Uhr, als sie zu ihrer morgendlichen Tour aufgebrochen waren, hatte die Sonne bereits mehrere Stunden durch die Gardinen gelugt und sie gelockt, hinaus in die Berge zu kommen. Dort hat sich die Landschaft bereits ein wenig erwärmt, sodass Moos und Heidekraut förmlich dampfen.
Jetzt, da die Sonne immer länger wärmt, sind die Heiden weitestgehend schneefrei. Lediglich auf schattigen Hängen finden sich noch ein paar gefrorene Schneewehen, die schmelzen werden, bevor der Sommer vorüber ist. Einzig auf den höchsten Gipfeln bleibt der Schnee liegen; funkelnd weiß ragt der Himmelnuten das ganze Jahr über ihnen auf.
Heidekraut und Büsche sorgen für einen frischen Geruch. Die Weiden sind graugrün; die Gebirgsbuchen haben kleine, dicke Blätter bekommen. Von einem Stein aus beäugt sie ein Wiesenpieper. Klein und braun sitzt er eine Weile dort, bevor er sich mit seinem charakteristischen Piep-piep! Piep-piep! in die Lüfte erhebt. Sicher eine Warnung an die anderen Vögel: Da kommt wer, da kommt wer!
In der Ferne ist ein Kuckuck zu hören. Ku-ku! Ku-ku! Dem Volksglauben nach soll es Glück bringen, unter dem Baum zu sitzen, von dem aus der Kuckuck ruft. Allerdings ist es zu weit, um dorthin zu laufen.
Aus der Schlucht weht ihnen ein kalter Lufthauch entgegen. Tor trägt eine Windjacke, während Ingrid mit einem der Wollpullover aus dem großen Vorrat bekleidet ist, den Mutter Borghild für sie gestrickt hat. Ingrid bewegt sich mit großen Schritten, schlenkert mit den Armen, lockert die Schultern. Der Körper ist noch immer nicht ganz wach. Die langen, lockigen Haare trägt sie offen; nach dem Bad im See sind die Spitzen feucht.
»Du siehst aus wie diese Waldelfe, wie eine Huldra«, merkt Tor an.
»Wirklich? Ich habe aber keinen Schweif«, entgegnet Ingrid und bleibt stehen.
»Hmm«, lautet seine Antwort. Er legt die Arme um sie. »Bist du dir sicher? Vielleicht sollte ich mal nachsehen.«
Als sie den Kopf von seiner Schulter nimmt, sieht sie, wie ein Raubvogel gen Boden stürzt.
»Sieh nur! Ein Raufußbussard!« Sie zeigt auf ihn; Tor nickt und schaut dem Vogel hinterher.
Sie hatte gedacht, dass sie nach dem Bad direkt zum Hotel zurückgehen würden, schließlich hatten sie beide viel zu tun. Als sie jedoch am Trollstein vorbeikommen, dem riesigen Felsblock, der hochkant in dem moosgrünen Terrain steht, überkommt sie der heftige Drang hinaufzuklettern. Sie setzt an, mittlerweile ist es einfacher als damals, als sie klein war; noch immer erinnert sie sich an den Triumph, als sie zum ersten Mal ganz oben gestanden hat. Jetzt winkt sie Tor zu, der ihr ohne große Mühe nach oben folgt. Sie setzen sich auf den Rand und lassen die Beine baumeln. Dem Volksglauben nach hat einst ein Riese den Stein hierher geworfen. Ungestört hatte der Riese über Jahrhunderte hinweg geschlafen, weshalb es nicht unwahrscheinlich ist, dass er wütend wurde, als die Menschen ins Gebirge hinaufkamen, Bäume schlugen und Gestein wegsprengten, um Häuser zu errichten.
Tor pult einen Kieselstein aus einer Felsspalte und wirft ihn ins Gelände. »Ich frage mich, was aus dem Riesen geworden ist«, sagt er. »Hat er einfach aufgegeben und ist seiner Wege gezogen?«
»Er ist zu Stein geworden«, sagt Ingrid. »Bei all dem Spektakel hat er die Zeit vergessen und es verpasst, sich vor Sonnenaufgang zurückzuziehen. Und dann - boom! Jetzt ist er nur noch ein moosbewachsener Hügel irgendwo.«
»Vielleicht wacht er eines Tages wieder auf«, wirft Tor ein.
»Wer weiß«, entgegnet Ingrid. »Vielleicht hat er ein Auge bereits einen Spaltbreit geöffnet?«
Sie greift nach Tors Hand, sie ist warm.
»Ich hätte früher kommen sollen«, sagt sie.
»Was?« Tor dreht sich zu ihr um.
»Nach Hause. Ich hätte früher nach Hause kommen sollen. Mutter Borghild ablösen. Sie ist so offenkundig froh und erleichtert, jetzt, da sie den Staffelstab hat weiterreichen können, dass der Gedanke daran beinahe wehtut.«
Tor nickt. »Nun ja, sie ist über achtzig und hat das Hotel mehrere Jahrzehnte lang alleine geführt. Ist doch klar, dass sie sich über die Ablösung freut.«
»Ja«, bestätigt Ingrid. »Aber . sie hat alles immer so gut gemeistert, und das Hotel war bei ihr in den besten Händen.« Sie zögert ein wenig. »Das hatte ich zumindest geglaubt. Oder beschlossen zu glauben.«
Im Laufe der Monate, die nach ihrer Rückkehr vergangen waren, hatte sie verstanden, dass Mutter Borghild sich wohl mehr Sorgen gemacht hatte und die Herausforderungen für das Hotel größer waren, als Ingrid es in all den Jahren, in denen Bergsteigen und Expeditionen ganz oben auf ihrer Agenda gestanden hatten, begriffen hatte.
»Sie hat mich geschont«, sagt sie zu Tor. »Wollte mir nichts kaputtmachen oder mich zwingen zurückzukehren.«
»Hättest du es denn getan?«, fragt Tor. »Das Bergsteigen war schließlich dein Leben. Und dein Beruf. Du warst - nein, bist - schließlich Weltspitze.«
»Das bin ich nun nicht mehr«, entgegnet sie. »Und das ist in Ordnung. Ich habe genug erreicht. Auch wenn ich mir ein anderes Ende gewünscht hätte.«
Das Lawinenunglück im Himalaya, als Ingrid und ihr damaliger Freund, Preben Wexelsen, sich inmitten eines Seven-Summits-Rekordversuchs befanden, hatte einen katastrophalen Schlusspunkt hinter ihre Bergsteigerkarriere gesetzt. Es hatte von einer Sekunde auf die andere das ihr bekannte Leben verändert und sie zur Rückkehr nach Hause gezwungen.
»Aber jetzt bin ich hier«, sagt sie.
Tor drückt ihre Hand. »Ja, jetzt bist du hier, und du bist es, die das Himmelfjell Hotel in eine neue Ära führen wird. Und so schlecht läuft es doch wohl nicht?«
Sie lächelt. »Nein, in der Tat, schlecht läuft es keineswegs.«
Sie hatte das Hotel heil durch die Wintersaison gebracht - ein Winter, der dramatischer werden sollte, als jemand sich hätte vorstellen können. Die Pläne, das Hotel zu verkaufen, hatte sie auf Eis gelegt, sie hatte einige der dringlichsten Reparaturen durchführen lassen, und mit der Hilfe guter Freunde hatte sie auch das Marketing in den Griff bekommen. Und sie hatte Tor wiedergefunden.
Tor, der jetzt hier neben ihr auf dem Trollstein sitzt, so nah, so erdverbunden. Sie hält seine Hand. Er hat kräftige Hände, wie geschaffen für die Arbeit, von der es auf seinem Hof genug gibt. Jetzt streicht er sich mit der anderen Hand die widerspenstigen Haare aus der Stirn. Im Sommer sind sie noch heller als sonst und bilden einen Kontrast zum Gesicht, das nach der vielen Arbeit im Freien bereits sonnengebräunt ist. Seine blauen Augen funkeln im Sonnenlicht.
Als Freunde hatten Tor und sie den Kontakt wieder aufgenommen, als sie im vergangenen Jahr heimgekehrt war. Die ereignisreichen Wochen rund um ihr erstes Weihnachten als Direktorin des Himmelfjell Hotels hatten sie einander jedoch nähergebracht, ja, sie beinahe schicksalhaft zusammengeführt.
Im Nachhinein ist es schwer zu verstehen, dass es so fern schien, dass der nette und zuverlässige Freund aus Kindheitstagen ihr Partner werden sollte. Jetzt fühlt es sich natürlich an. Es ist gut, mit Tor zusammen zu sein.
»Weißt du, was mich momentan am meisten beschäftigt?«, fragt sie, nachdem sie vom Stein heruntergekrabbelt sind und ihren Weg fortsetzen. »Dass ich mit den Kursteilnehmern den Himmelnuten besteigen soll. Als ich nach dem Unglück hierher zurückgekommen bin, habe ich geweint, weil ich glaubte, dass ich nie wieder dort klettern würde. Und dann habe ich es doch getan.«
Tor nickt. Die Geschehnisse an Weihnachten, als sie den sechsjährigen Hussein von einem Ausflug gerettet hatte, zu dem er niemals hätte aufbrechen dürfen, sind ihnen beiden noch immer in sehr guter Erinnerung. Ingrid war geklettert - weil sie hatte klettern müssen. In diesem Augenblick hatte sie gewusst, dass sie neu anfangen konnte. Dass das Bergsteigen für sie...
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