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Ich weiß nicht mehr genau, in welch zartem Alter mir zu meinem Entsetzen klarwurde, dass meine Mutter eines Tages sterben würde. Das Ableben meines Vaters, des Captains, war mir erspart geblieben, denn ich hatte noch als Fötus im Bauch meiner Mutter gekauert, als sie ihn reglos in seinem Sessel fand.
Polly erzählte mir die Geschichte, sobald sie der Meinung war, ich sei alt genug, um sie zu hören. Sie rauchte dabei, eine scheußliche Angewohnheit, die ich fürchtete und verabscheute. Eine meiner frühesten Erinnerungen war, wie ich mit meinen Patschhändchen nach dem Glimmstängel zwischen ihren Lippen griff und versuchte, ihn ihr wegzunehmen. Ja, ich spürte schon damals, wer mein größter Feind war. Aber ich war nie schnell genug, und als ich das mit meinem Vater erfuhr, hatte ich es längst aufgegeben. Ich saß nur da und verfolgte beim Zuhören die aufsteigende Rauchfahne. «Du weißt ja, dass der Captain früher zur See gegangen ist. Na, jedenfalls hat er auf den Philippinen diesen Holz-Hummer geschenkt bekommen, als er Ferdinand Marcos traf - aber das ist eine andere Geschichte -, und als er starb, hatte er diesen Hummer auf dem Schoß. Er hat ihn wohl von seinem Platz an der Wand runtergenommen, um ihn sich anzusehen, als ihn der Schlag traf. Und so ist das, wenn man stirbt. Wenn man Glück hat, dann geht es ganz schnell.»
Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Der Rauch stieg kräuselnd zur Zimmerdecke, und ihre Augen glänzten feucht. Meine Mutter weinte nie, wenigstens nie so, dass ich es mitbekam. Stattdessen begannen ihre Augen zu glänzen, und das Grün wurde noch grüner, als diene die Tränenflüssigkeit nur dazu, die Farbe zu intensivieren, und zu nichts anderem.
Meine Zeugung war so etwas wie ein Wunder Gottes. Sie geschah in einem letzten Liebesakt zwischen den seit siebenunddreißig Jahren verheirateten Ehegatten. Aus der Absurdität dieser geschlechtlichen Vereinigung entsprang ich - was meine Mutter drei Tage nach der Beerdigung meines Vaters von ihrem Hausarzt erfuhr.
Polly, damals Ende fünfzig, würde im Jahr 1992 noch einmal ein Kind zur Welt bringen.
Mich.
Willow.
Der Hausarzt riet ihr zu einem Schwangerschaftsabbruch. Polly riet ihm, sich zum Teufel zu scheren und sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Acht Monate später wurde ich geboren, eine Nachzüglerin, die eintraf, als der Zug meiner Familie schon abgefahren war: der Vater tot, Bruder und Schwester längst aus dem Haus.
Polly war alt und müde und gereizt. Dennoch musste sie noch mal von vorne anfangen. Inzwischen hatte sich eine neue Elterngeneration in der Nachbarschaft breitgemacht und die Häuser renoviert und aufgeputzt, während ihres zunehmend verfiel. Alt genug, um meine Großmutter sein zu können, erzog sie mich mit denselben bewährten Methoden, mit denen sie schon ihre ersten Kinder großgezogen hatte: deftige Südstaaten-Weisheiten und maßgeschneiderte Bestrafungen. Was erklärt, warum wir an jenem Aprilmorgen in Pollys zweifarbigem Chevy-Impala zur Schule fuhren, sie am Steuer, ich daneben, und hinten auf dem Rücksitz ein großer Käfig mit einem Jagdfalken.
Den Falken hatte Polly sich kostenlos über einen alten Bekannten geborgt, mit dem sie manchmal angeln ging.
Ich versuchte ein letztes Mal, sie zu erweichen. «Es tut mir leid!», flehte ich sie an. «Bitte, bring den Falken nicht mit in meine Schule!»
Ich war damals zehn, Polly achtundsechzig. Wir hielten mit quietschenden Bremsen an einer Ampel, und sie warf mir einen finsteren Blick zu. Sie trug ihr gutes Kostüm, in dem sie immer die Versammlungen des Hauseigentümervereins besuchte, perlweiß mit runden Knöpfen, ein säuberlich zusammengefaltetes Seidentüchlein in der Brusttasche, dazu Schuhe mit mittelhohen Absätzen - sie hatte sie früher am Morgen noch blank gewienert. Sie war eine zierliche kleine Frau mit einem zarten Gesicht und für ihr Alter erstaunlich wenig Falten - was sie vielleicht ihrer speziellen Nachtcreme aus Rosenwasser und Brombeersamenöl zu verdanken hatte, die sie jeden Abend vor dem Schlafengehen gewissenhaft einmassierte.
Make-up trug sie nicht - abgesehen von einem weinroten Lippenstift. Ihre Frisur war seit Jahrzehnten dieselbe, ein duftiger Helm, der ihren Kopf sanft umrahmte, und ihr Haar hatte noch annähernd die gleiche kastanienbraune Farbe. Allerdings hatte sie es am Abend zuvor extra noch einmal nachgefärbt. Und leider - ob aus Nervosität oder Unaufmerksamkeit - hatte es diesmal einen orangefarbenen Stich abbekommen, was ihr natürlich aufgefallen war, sich auf die Schnelle aber nicht mehr ändern ließ.
Orangerotes Haar und knallroter Lippenstift - das passte nicht zusammen. Das war eine schlechte Kombi, wie bei einem misslungenen Blumenstrauß, und aus irgendeinem Grund gab sie mir auch dafür noch die Schuld.
«Hörst du? Es tut mir leid!»
Aber sie ließ nicht mit sich reden. «Niemand nennt meine Tochter eine Lügnerin!», erwiderte sie und betonte das Wort derart, dass es mich nur noch niedergeschlagener machte. Denn ich war ja eine. Ich hatte in der Schule jede Menge Lügen - und noch schlimmer, einige Wahrheiten - über meine Mutter herumerzählt. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass meine Mutter einen großartigen Stoff für aberwitzige Geschichten abgab. Und das war lange, bevor sie unseren Nachbarn umbrachte.
Ich ergab mich seufzend in mein Schicksal. Wenn sie sich einmal eine Bestrafung in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht mehr davon abzubringen, also hatte es keinen Zweck, zu betteln. Ich drehte mich zu dem Falken um. Pollys Bekannter hatte ihr gezeigt, wie sie ihn aus dem Käfig nahm und den Lederschutz über ihrer Schulter trug. Der Falke hatte ein weißes, braun gesprenkeltes Gefieder, einen knittrigen gelben Kopf und einen scharf gekrümmten Schnabel, und er starrte finster zurück. Offenbar machte ihm dieser Ausflug genauso wenig Spaß wie mir.
«Sag mir bloß eins», meinte Polly, «nämlich dass es deine größte Lüge war, zu behaupten, ich würde mit einem Falken auf die Jagd gehen.»
War's leider nicht.
Meine Grundschule war seit Jahrzehnten nicht renoviert worden und besaß noch das entsprechende Siebziger-Jahre-Dekor. Wir trafen kurz vor Unterrichtsbeginn ein, und überall wimmelte es von Schülern, als Polly mit dem Falken auf der Schulter majestätisch den Gang entlangschritt. Der Raubvogel saß auf dem ledernen Schulterpolster und war an einer Kralle angeleint.
Ich schlich geduckt hinter ihr her und brannte vor Scham, was sie natürlich genau so beabsichtigt hatte. Es war nicht schwer, hinter ihrem Rücken alles Mögliche über sie zu erzählen und meinen atemlos lauschenden Zuhörern die Entscheidung zu überlassen, was davon wahr und was erstunken und erlogen war. Doch nun war sie leibhaftig hier, und die Kinder starrten sie mit offenen Mündern an. Kein Gekicher, keine Frotzeleien, bloß atemloses Staunen.
Der Falke saß gelassen auf ihrer Schulter und schaute sich mit stechenden, gefühllosen Augen unter der Kinderschar um, als ob er sie zum Frühstück verspeisen wollte. Sosehr ich mich auch schämte, Teil dieses Spektakels zu sein, ich konnte mich eines aufkeimenden Stolzes auf meine Mutter nicht erwehren. Ihr erhabener, geschmeidiger Gang, der hocherhobene Kopf, das elegante Kostüm mit den glänzenden runden Knöpfen, für die ein anderes hatte herhalten müssen, und den frisch gebügelten, glatten Ärmeln. Sie sagte kein Wort zu mir, doch ich beeilte mich, nicht den Anschluss zu verlieren, und tauchte in die Aura ihres Parfüms ein - Flieder, mit einem Hauch Geißblatt -, das gewöhnlich nur Jesus schnuppern durfte, wenn Polly sonntags die Kirche der Methodistengemeinde besuchte, zu der wir gehörten.
Meine Mutter hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie bereits zwei Kinder durch diese Schule gebracht hatte, beide nicht ganz unproblematisch - Shel, der ein bisschen zu gerne mit seinem Taschenmesser spielte, und Lisa mit ihrem Missionseifer -, und Pollys einziger Wunsch war, mich, die Nachzüglerin, so problemlos wie möglich durch den Schulbetrieb zu bekommen. Und hier war ich nun - und machte Probleme.
Ich kannte unsere Beratungslehrerin, Ms. Jordane, noch von der ersten Klasse. Damals war sie «Coach Jordane» gewesen, unsere Sportlehrerin. Ich erinnere mich gut, wie sie aussah, in Leibchen und kurzen Turnhosen, eine untersetzte, kräftige Gestalt mit blond behaarten Unterarmen und einem einzelnen dicken Haar auf der Wange, das sich sträubte, wenn sie mit aufgeblasenen Backen herzhaft in ihre Trillerpfeife stieß. Ms. Jordane war auf die Abendschule gegangen, hatte ein Psychologiestudium absolviert und war in der Hierarchie des Kollegiums aufgestiegen. Aber allein ihr Name an der Tür des Büros weckte Erinnerungen an quietschende Turnschuhe und diese Mischung aus Angstschweiß, abgestandener Luft und Gummimatten.
Ms. Jordane saß bei unserem Eintreten am Schreibtisch und blätterte in ihren Unterlagen. Ich hatte sie in den letzten Jahren kaum zu Gesicht bekommen und war verblüfft, als ich sie nun aus der Nähe sah. Was hatten sie mit ihr angestellt? Das einzelne Backenhaar war sorgfältig ausgezupft, die Unterarme offenbar rasiert worden, sie trug ein ordentliches Kostüm und keine Turnhosen mehr. Man hatte sie gezähmt. Sie spürte unsere Anwesenheit und blickte auf. Ein verdutzter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie meine Mutter mit einem Falken auf der Schulter vor sich stehen sah.
«Wer behauptet hier, dass meine Tochter lügt?!», verkündete Polly anstelle eines...
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