Kapitel Eins
»Merry? Alles in Ordnung?«
Merry drehte sich nicht zu Jess um, die hinter der Bank im Hof der Bibliothek stand, auf der Merry seit einer Dreiviertelstunde saß. Stattdessen hielt sie den Blick starr auf die Turmspitze von St. Magnus gerichtet, die in den noch hellen abendlichen Himmel hinaufragte.
»Ja«, antwortete Merry mit einer Stimme, die in ihren eigenen Ohren fremd klang. »Ich brauche nur einen Moment.«
Sie hörte Jess in ihren High Heels über den Hof stöckeln, der noch vor einer Stunde voller begeisterter Besucher gewesen war. Dann spürte sie, wie sich ihre Freundin neben sie setzte.
»Du sitzt hier schon eine ganze Weile«, bemerkte sie und legte Merry eine Jacke um die Schultern. »Frierst du nicht?«
Das tat sie tatsächlich, stellte Merry fest, und als hätte ihr Körper nur darauf gewartet, begann er zu zittern. Bisher hatte sie vor allem Taubheit empfunden, die in dem Moment eingesetzt hatte, als sie Alex in der Bibliothek erblickt hatte. Sie hatte sich während seiner wortreichen Entschuldigung ob seiner eigenen Dummheit verstärkt und sie bis gerade eben nicht losgelassen. Es war dieselbe Taubheit, die sie an dem Abend empfunden hatte, als Alex ihr das Ende ihrer Beziehung verkündet hatte. Nur dass sie diesmal von seinen Beteuerungen, er habe niemals aufgehört, sie zu lieben, verletzt worden war. Merry hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie mit den Auswirkungen seiner Behauptungen umgehen sollte, geschweige denn, was sie Jess dazu sagen sollte.
»Danke«, brachte sie heraus und zog das Jackett unter ihrem Kinn zusammen. »Es ist ein bisschen kühl.«
Jess nickte verständig, als hätte sie sich zu Merry gesetzt, um sich über das Wetter zu unterhalten. »Also, was hatte der verlogene kleine Arsch zu seiner Verteidigung vorzubringen? Nein, warte, verrat es mir nicht. Ich wette, ich kanns erraten.« Sie setzte eine übertrieben leidende Miene auf. »Ich musste dich verlassen, um mich selbst zu finden, aber dann habe ich festgestellt, dass ich ohne dich nicht leben kann, Baby.«
Der Satz passte so perfekt, dass Merry gegen ihren Willen ein wenig grinsen musste. »Stammt das nicht aus einem deiner Bücher?«
Jess zuckte nachlässig mit den Schultern. »Kann schon sein. Aber ich könnte mir vorstellen, dass er die Karte gezogen hat. Hab ich recht?«
Merry sah keinen Sinn darin, es zu leugnen. Jess' hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, was sie von Alex hielt. Auch dieses Mal hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Ja, du bist ziemlich nah dran«, gab Merry zu. »Er hat behauptet, dass meine Veränderung damals auch dazu geführt hat, dass er sich veränderte. Wodurch er aus dem Blick verloren hat, was für ein tolles Paar wir sind.«
Jess runzelte nachdenklich die Stirn. »Okay, lass uns das mal kurz auseinandernehmen . Was er damit sagen will, ist, dass deine psychischen Probleme ihn zu dem Schluss haben kommen lassen, dass er jemand Besseres finden könnte als dich.«
Merry blinzelte. Das war selbst für Jess' Verhältnisse schonungslos direkt. Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch Jess hob die Hand.
»Mach dir nicht die Mühe zu widersprechen - genauso ist es gewesen. Und jetzt, wo du dich wieder aufgerappelt hast, absolut heiß aussiehst und einen Filmdeal in der Tasche hast, kriegt er plötzlich Panik, du könntest über ihn hinweg sein.« Jess hielt einen Moment inne, um den Kopf zu schütteln. »Ich wette, der Typ war sogar so dreist zu sagen, dass er dich nicht verlieren möchte.«
Merry schwieg, denn genau das hatte Alex tatsächlich gesagt.
Jess schlug mit der flachen Hand auf die Steinbank. »Weißt du, wie dieser Idiot ist? Wie Jasper Bloom aus Liebe braucht keine Ferien. Dieser feige Arsch, der Kate Winslet immer gerade genug Aufmerksamkeit schenkt, um sie hoffen zu lassen, aber nie genug, um es wirklich ernst zu meinen. Erst als sie ihn zum Teufel schickt, rennt er ihr plötzlich hinterher. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«
Ein weiteres Zittern ging durch Merrys Körper, und sie spürte, wie hinter ihren Schläfen ein dumpfer Kopfschmerz einsetzte.
Sie rieb sich den Nacken und seufzte. »Ich weiß, dass du dagegen bist, Jess, aber was hätte ich sonst machen sollen? Ihn wegschicken, ohne mir wenigstens anzuhören, was er zu sagen hat? Er hat eine ziemlich lange Reise auf sich genommen, um mich zu sehen.«
Jess stieß ein höhnisches Schnauben aus. »Das war seine eigene Entscheidung. Du hast ihn nicht darum gebeten herzukommen.«
»Stimmt. Aber das heißt nicht, dass ich einfach so tun kann, als sei er nicht hier.« Merry machte eine kurze Pause, als ihr einfiel, was Jess über den Filmdeal gesagt hatte. »Von der Verfilmung kann er übrigens gar nichts wissen. Bisher ist darüber nichts an die Öffentlichkeit gedrungen. Er hat keine Ahnung, ob ich immer noch mit der Schreibblockade zu kämpfen habe oder nicht.«
Jess musste lachen. »Hast du in der letzten Zeit mal in den Spiegel gesehen, Mer? Du machst nicht gerade den Eindruck, als hättest du mit irgendwelchen schwerwiegenden Problemen zu kämpfen. Ganz im Gegenteil. Du wirkst eher wie eine Frau, die es mit der ganzen Welt aufnehmen kann.«
Jess' Bemerkung erinnerte sie an den Vergleich, den Magnús zwischen ihr und den Walküren angestellt hatte. Vermutlich hätte sie Alex plötzliches Auftauchen sehr viel weniger aus der Bahn geworfen, wenn er nach wie vor an ihrer Seite gewesen wäre.
»Ich fühle mich aber nicht so, als könnte ich es mit der ganzen Welt aufnehmen«, sagte sie. »Im Moment weiß ich nicht mal, ob ich es schaffe, nach Hause zu fahren.«
»Das Problem lässt sich immerhin leicht lösen.« Jess stand auf. »Vermutlich sollte ich Niall kurz Bescheid geben, dass seine Gastautorin nach wie vor ihren Posten bekleidet. Ich glaube, er hat sich ernsthafte Sorgen gemacht, Alex könnte dich zurück nach London entführen.«
Sie verschwand Richtung Bibliothek, während Merry sich vor Verlegenheit innerlich wand. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was Niall von den neuesten Ereignissen in ihrem chaotischen Liebesleben dachte. Mit Sicherheit war sie die erste Gastautorin, die mit so viel Drama im Gepäck angereist war. Vermutlich würde er erleichtert sein, wenn sie die Insel Ende Juli verließ. Eine Befürchtung, die nur noch schlimmer wurde, als Jess kurz darauf zusammen mit Niall auf sie zukam.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte er sich. »Jess hat mir erzählt, dass es dir nicht gut geht.«
Er verhielt sich so professionell wie immer, dennoch hatte Merry den Eindruck, einen kühlen Schimmer in seinen blauen Augen zu bemerken.
Sie raffte sich zu einem Lächeln auf, von dem sie hoffte, dass es einigermaßen überzeugend wirkte. »Alles in Ordnung, wirklich. Es ist nur .« Ihre Stimme begann zu beben, und ihr Lächeln schwand. Auf einmal fühlte sie sich von ihren Gefühlen vollkommen überwältigt. »Es war einfach ein langer und etwas überfordernder Abend.«
Er nickte verständnisvoll. »Das kann ich nachvollziehen. Ich fahre euch gerne nach Brightwater Bay zurück. Der Mini kann auf dem Mitarbeiterparkplatz stehen bleiben. Morgen besprechen wir dann in Ruhe, wie wir ihn zurück zum Cottage bringen.«
»Ich habe deine Tasche mitgebracht.« Jess hielt Merrys abgetragene, aber heiß geliebte Mulberry in die Höhe. »Hattest du sonst noch was dabei?«
»Nein, nur die«, sagte Merry. Dankbar nahm sie Jess die Tasche ab und wandte sich dann wieder an Niall. »Du musst uns nicht fahren. Wirklich nicht. Das schaffe ich schon.«
»Es wäre aber kein Problem«, erwiderte er. Eine tiefe Furche hatte sich in seine Stirn gegraben. »Wie du gesagt hast, war es ein langer Abend, und es ist meine Aufgabe, euch sicher nach Hause zu bringen. Deswegen muss ich leider darauf bestehen.«
Nun fühlte sich Merry noch schlechter. Natürlich machte er nur seinen Job, aber ernsthaft, für was für eine große Belastung hielt er sie?
Wie üblich las Jess ihre Gedanken. »Du hast einen Schock erlitten, Mer. Ich würde den Mini fahren, aber ich nehme mal an, dass die Versicherung nur auf dich läuft. Lass uns zusehen, dass wir möglichst schnell nach Hause kommen, um uns bei einem Whisky und ein bisschen Käse zu entspannen.«
Merry realisierte, dass sie viel zu erschöpft war, um noch etwas einzuwenden. Sie sehnte sich nach der Einsamkeit auf ihrer Bank, um zu beobachten, wie die Vögel sich an ihre Schlafplätze zurückzogen und die Sonne am Horizont versank. Das, zusammen mit dem Whisky, den Jess erwähnt hatte, würde ihr vielleicht dabei helfen zu verarbeiten, was heute Abend passiert war. Selbst wenn das alles nichts half, würde sie sich am nächsten Morgen besser fühlen. Solange sie und Jess es mit den Drinks nicht übertrieben .
»Okay«, murmelte sie und verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln. »Danke.«
»Ich gebe nur schnell Callum Bescheid, dass er abschließen soll«, sagte Niall. »Wir treffen uns auf dem Parkplatz, okay?«
Auf der Fahrt verloren weder Jess noch Niall viele Worte, und Merry erlaubte sich, die Augen zu schließen und dem beruhigend gleichmäßigen Brummen des Motors zu lauschen.
»Vielen Dank«, sagte Merry, als Niall neben dem Cottage hielt. »Für die tolle Veranstaltung und das Nach-Hause-Bringen.«
»Wie schon gesagt, kein Problem«, versicherte Niall ihr. Dann zuckte sein Blick im Rückspiegel zu Jess, und er drehte sich halb zu ihr um. »Wir sehen uns dann morgen. Gegen zehn?«
Merry runzelte die Stirn. Morgen? Sie hatten für den nächsten Tag eigentlich keine...