Kapitel Eins
In Brightwater Bay hatte es geschneit.
Merry hatte es nicht sofort gemerkt, da sie die schweren Vorhänge vor den Fenstern im Schlafzimmer zugezogen hatte - mehr gegen die klirrende Kälte draußen als wegen der Sonne, die sich im Februar auf den Orkneys erst weit nach acht Uhr am Morgen zeigte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es gerade mal kurz nach sieben war, also schloss sie die Augen wieder und kuschelte sich unter die dicke Bettdecke.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie die ungewöhnliche Stille registrierte. Brightwater Bay war nicht gerade King's Cross, aber sie hatte sich an die Geräusche gewöhnt, zu denen sie hier normalerweise aufwachte. Das entfernte Krachen der Wellen gegen die Klippen und das Kreischen der Vögel, die über der Bucht kreisten. Doch heute schienen sämtliche Geräusche seltsam gedämpft, als ob sie die Nacht bei einem lauten Konzert in einem kleinen Club verbracht hätte. Sie war seit Monaten in keinem Club mehr gewesen, was also verursachte dann diese merkwürdige Stille? Es schien beinahe so, als hätte es .
Eine leise Aufregung durchfuhr Merry, als sie sich im Bett aufsetzte. Es gab nur eine rationale Erklärung, obwohl sie kaum zu hoffen gewagt hatte, dass es während ihres Aufenthalts passieren würde. Schottland bekam mehr als genug Schnee ab, aber der Golfstrom, der an den Inseln vorbeifloss, sorgte dafür, dass auf den Orkneys das Thermometer selten unter null Grad fiel, während das schottische Festland häufig mit eisigen Temperaturen zu kämpfen hatte. Und in rein pragmatischer Hinsicht war Merry erleichtert gewesen zu erfahren, dass starker Schneefall hier eher eine Seltenheit war - das Letzte, was sie brauchte, war in einem abgelegenen Cottage auf einer Klippe eingeschneit zu werden. Ihr Schriftstellerinnen-Ich dagegen, der Teil von ihr, der noch immer acht Jahre alt war, konnte die Vorfreude, die sie bei dem Gedanken an ein Winterwunderland direkt vor ihrer Haustür durchfuhr, nicht leugnen.
Rasch schwang sie die Beine über die Bettkante und griff nach ihrem Bademantel. Es hatte keinen Sinn, sich unter der Bettdecke zu verstecken und sich zu fragen, was draußen los war. Der einzige Weg, es herauszufinden, bestand darin, mit eigenen Augen nachzusehen.
Der kalte Luftzug, der ihr entgegenwehte, als sie die Haustür öffnete, bestätigte ihren Verdacht: Mehrere Zentimeter weißer Pulverschnee bedeckten den Boden zwischen dem Cottage und dem etwa fünfzehn Meter entfernten Klippenrand. Der Himmel über der Bucht war noch dunkel, aber Merry wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis über dem Dach des Cottages die Sonne aufging. Dann würde sie einen besseren Eindruck davon bekommen, wie viel Schnee tatsächlich gefallen war.
Das Meer war nun, da sie nicht mehr von den Mauern des schneebeladenen kleinen Hauses umgeben war, laut und deutlich zu hören; es klang sogar wilder als jemals zuvor in der ansonsten beinahe unwirklichen Stille. Ein eisiger Windstoß, der winzig kleine Eisflocken und den vertrauten salzigen Geruch des Meeres mit sich trug, ließ Merry in ihrem Bademantel schaudern. So verlockend es auch war, sich hinunterzubeugen, um mit den Fingern über den Schnee zu streichen, war ihr klar, dass sie vernünftig sein, so schnell wie möglich die Tür schließen und sich die wärmsten Sachen anziehen musste, die sie besaß.
Eine Stunde später, den Bauch voll Tee und Toast und dick eingepackt gegen die Kälte, trat Merry zum zweiten Mal an diesem Morgen über die Türschwelle. Schwaches Sonnenlicht glitzerte auf der frisch überzuckerten Landschaft; die Wolken waren grau und schwer, doch dazwischen blitzten immer wieder blaue Flecken auf.
Es fielen keine Flocken mehr vom Himmel, aber in der Nacht hatte der Wind den Schnee zu hohen Verwehungen an der Hüttenwand aufgeworfen. Mit knirschenden Schritten bahnte sie sich ihren Weg über die weiße Fläche bis zum Zaun. Die Bank, auf der sie normalerweise saß, um die spektakuläre Aussicht zu genießen, lag unter einer dicken Schneeschicht begraben, und die Felswände selbst glitzerten, als wären sie mit Diamanten gesprenkelt. Es war fast wie in Narnia, dachte Merry, wenn Lucy Pevensie durch den Kleiderschrank ans Meer anstatt in einen Wald getreten wäre.
Eine Weile stand sie einfach nur da und lauschte dem Rauschen des Atlantiks, erlaubte ihren Sinnen, ihre Umgebung im neuen Gewand aufzunehmen. Wäre Jess in diesem Moment hier gewesen, hätten sie mit Sicherheit einen Schneemann gebaut oder zumindest eine kleine Schneeballschlacht veranstaltet. Als geborene Neuseeländerin war Jess Schnee nicht fremd, und sie beschwerte sich oft darüber, dass man selbst im tiefsten Winter in London kaum genug Schnee für einen Eiswürfel, geschweige denn für einen Schneeball zusammenbekam - obwohl er normalerweise ausreichte, um das Verkehrssystem lahmzulegen.
Sie wäre absolut in ihrem Element, dachte Merry liebevoll.
Sie sah sich weiter um, bis ihre Nase zu laufen begann und ihre Zehen taub wurden, erst dann ging sie widerwillig wieder nach drinnen.
Als sie sich vor den Kamin kniete, um ein Feuer zu machen, sah sie aus den Augenwinkeln ihr Handy auf dem Couchtisch aufleuchten.
Es war eine Nachricht von Niall.
Alles in Ordnung bei dir? In Kirkwall ist nicht so viel Schnee liegen geblieben, aber in der Wildnis vielleicht schon?
Lächelnd tippte Merry eine Antwort. Es rührte sie, dass er sich Sorgen um sie machte.
In Kirkwall liegt kaum was, weil der ganze Schnee hier draußen ist. Gut, dass ich sowieso geplant hatte, heute zu Hause zu bleiben und zu schreiben. Wie es aussieht, komme ich so schnell nirgendwohin. Aber danke fürs Nachfragen!
Nialls Antwort folgte nur wenige Sekunden später.
Viel Spaß beim Schreiben! Sag Bescheid, wenn du irgendetwas brauchst.
Eine Weile beobachtete sie die Flammen im Kamin, die an den dickeren Holzscheiten zu lecken begannen, dann tappte sie in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Als sie zurückkam, hatte das Feuer den kleinen Wohnraum bereits ein wenig aufgewärmt, und ihre Zehen waren beinahe ganz aufgetaut. Sie setzte sich aufs Sofa, zog den Laptop auf den Schoß und konzentrierte sich auf die Worte, die sie am Tag zuvor geschrieben hatte.
Doch schon kurze Zeit später unterbrach das Dröhnen eines Motors Merrys Gedanken. Sie runzelte die Stirn. Wer konnte das sein? Eine halbe Minute später ertönte ein energisches Klopfen. Sie schob ihren Laptop beiseite und ging zur Tür, um es herauszufinden.
Der Mann vor der Tür war groß, und sein Gesicht wurde fast ganz von einem dicken Karoschal und einer schwarzen Wollmütze verborgen. Er zog den Schal ein Stück herunter und grinste Merry an.
»Guten Morgen. Niall hat uns geschickt, um nachzusehen, ob du eingeschneit bist. Ich bin Hugh Watson, aber sag bitte Hugh.« Er deutete mit einer behandschuhten Hand hinter sich auf den Land Rover, der neben dem Cottage parkte. »Und das ist meine Frau Clare. Wir sind unter anderem für die Nervensäge Gordon verantwortlich.«
Seit ihrer ersten Begegnung hatte Gordon Merry sporadisch Besuche abgestattet, bei denen er sie stets mit demselben leicht abschätzigen Gesichtsausdruck bedachte.
»Freut mich, euch kennenzulernen«, sagte Merry, als Clare die Autotür zuschlug und sich einen Weg durch den Schnee zu ihnen bahnte. »Ich bin Merry.«
»Unglaublich, dieses Wetter, oder?«, sagte Clare und sah sich um, wobei der Bommel auf ihrer Pudelmütze hin und her wippte. »So viel Schnee hab ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Merry schüttelte den beiden die Hand. »Es ist sehr nett von euch, dass ihr euch die Mühe macht, extra hier rauszufahren.«
»Kein Problem«, erwiderte Hugh. »Wir wollen schon bei dir vorbeisehen, seit du angekommen bist, aber auf dem Hof gibt es immer was zu tun.«
Clare schenkte Merry ein warmes Lächeln. »Das Wetter hat uns die nötige Ausrede beschert.« Sie beugte sich hinunter, um den geflochtenen Korb hochzuheben, der zu Hughs Füßen stand. »Wir haben auch eine kleine Notration mitgebracht. Brot, Milch, Eier und Kuchen.«
Merry war angesichts der freundlichen Geste ganz gerührt. »Vielen Dank. Möchtet ihr vielleicht auf einen Tee reinkommen?«
»Liebend gerne«, antwortete Clare, während Hugh zum Stall sah, in dem Merrys Wagen stand. An den Seiten der improvisierten Garage türmten sich hohe Schneeverwehungen.
»Das ist ein Mini, oder?«
Merry nickte. »Ja, richtig.«
Hugh verzog das Gesicht. »Nicht gerade ideal für dieses Wetter, aber immer noch besser als ein Fahrrad. In den nächsten Tagen soll es ziemlich kalt bleiben. Ich schaufle dir einen Weg bis zur Straße frei, nur für den Fall, dass du irgendwohin fahren musst.«
»Oh . das ist wirklich nicht nö.«, wandte Merry ein, doch Hugh unterbrach sie.
»Wirklich kein Problem. Das dauert keine zwanzig Minuten. Bis dahin ist der Tee fertig. Zwei Stück Zucker, bitte.«
Da er sich bei den letzten Worten bereits auf den Weg zum Land Rover gemacht hatte, entschied Merry, dass es sich nicht lohnte, weitere Einwände zu erheben. Stattdessen trat sie einen Schritt zurück, um Clare ins Haus zu lassen. »Was ist mit dir, lieber Tee oder Kaffee?«
»Tee, bitte.« Clare zog sich die Mütze vom Kopf, unter der seidiges blondes Haar zum Vorschein kam, und sah sich neugierig um. »Ich glaube, ich sehe das Cottage tatsächlich zum ersten Mal von innen.«
Merry nahm ihr die Jacke ab und hängte sie an einen der Haken neben der Haustür, dann ging sie ihr voraus in die Küche. »Ach, wirklich? Dann habt...