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"Wenn wir irgendetwas unterschätzen in unserem Leben - dann ist es die Wirkung der Freundlichkeit."
(Marc Aurel)
"Der erste Tag in der neuen Praxis!" Dr. Felix Sommer jubeltinnerlich bei dem Gedanken. Er nimmt zwei Stufen auf einmal, während er die kleine Treppe bis zur Eingangstür hinaufsteigt. Sein Blick fällt auf das angelaufene Messingschild mit den inzwischen rostigen Schrauben und den leicht verblassten Buchstaben. "Dieser Teil der Praxis hat seine besten Zeiten wohl hinter sich", denkt er amüsiert, als er den Klingelknopf anvisiert. Dass am Wirkungsort von Dr. Degen, dessen Nachfolge er antreten soll, einiges einer "Frischzellenkur" bedarf, war ihm schon nach seinem ersten Besuch klar gewesen. Dennoch - er freut sich auf diese Herausforderung. Nach Jahren der Theorie im Hörsaal und seiner Approbation als Zahnarzt hatte er in einer Klinik an der "Wirklichkeit" geschnuppert und beschlossen, dass ihm diese Variante der Berufsausübung deutlich zu anonym war. Also verbrachte er seine Assistenzzeit in einer Gemeinschaftspraxis. Die beiden Fachzahnärzte wussten nicht nur am Behandlungsstuhl zu überzeugen. Sie setzten auf motivierte Mitarbeiter und solide ökonomische Planung. Die Arbeit in diesem engagierten Team hatte ihm Spaß gemacht - und frühzeitig einen Entschluss in ihm reifen lassen: Er wollte sich in das Abenteuer der eigenen Praxis stürzen, sich selbst etwas aufbauen und sehen, ob er ebenfalls ein Team führen konnte. Was für ein Glücksfall, dass er direkt nach dem Auslaufen seines Vertrags auf die Annonce von Dr. Degen gestoßen war. Ganz nach der alten Schule, als Anzeige in einer zahnärztlichen Wochenzeitung. Dr. Sommer schmunzelt, als er sich erinnert. Von Internet und neuen Medien hatte sein Vorgänger in spe wohl nur von seinen Enkeln gehört. "Noch einmal durchatmen und den Augenblick genießen", denkt er. Nicht viele seiner Freunde von der Universität hatten das Glück gehabt, so schnell eine passende Praxis zu finden. Viele wollten dies auch gar nicht und hatten sich stattdessen für die Sicherheit eines Angestelltenverhältnisses entschieden. Die meisten erhofften sich davon, Familie und Beruf besser in Einklang bringen zu können und geregeltere Arbeitszeiten zu haben. Auch die Verantwortung für eine eigene Praxis mit all dem administrativen Aufwand wollten sie alleine nicht schultern. Doch er, Felix Sommer, dachte nicht so. Er freute sich auf seinen ersten Tag als niedergelassener Zahnarzt.
Und so ist er an seinem besagten ersten Tag auch pünktlich in der Praxis. Seine Augen schweifen in Richtung des Fensters, das ihm von der Treppe aus freie Sicht auf den Empfangsbereich gewährt. Eine Brünette mit Pferdeschwanz sitzt dort mit dem Rücken zu ihm und fühlt sich scheinbar unbeobachtet. Auf dem Bildschirm, auf den sie starrt, poppen immer wieder bunte Fenster auf. Dr. Sommer erkennt den Web-Auftritt eines bekannten Stadtmagazins. Offenbar widmet sich die Dame an der Anmeldung gerade der Planung des kommenden Wochenendes. Im nächsten Moment öffnet sich die Tür zum Behandlungszimmer und Dr. Degen geht mit eiligen Schritten auf die Anmeldung zu. Er nestelt sich den Mundschutz aus dem Gesicht als die Brünette hastig die Website schließt. Dr. Sommer hat genug gesehen und drückt den Klingelknopf. "Das ist ja schon der junge Kollege", stellt Dr. Degen leicht gehetzt fest und schüttelt seinem Gegenüber die Hand. "Ihr erster Tag hier steht leider unter keinem guten Stern, mein Lieber", fügt er mit gequältem Lächeln hinzu und zwängt sich neben seine Helferin hinter die Anmeldung. "Fräulein Gabi, taugen Sie hier nur zur Dekoration oder können Sie sich auch nützlich machen? Wo haben wir denn den Terminplaner?", zischt er gereizt und kramt aus der Tiefe einer Schublade ein abgegriffen aussehendes Buch mit schwarzem Ledereinband heraus, in dem er umständlich zu blättern beginnt. "Gerade eben haben zwei Schmerzpatienten angerufen und das Wartezimmer ist voll, mal sehen, wo wir die noch einschieben können." Endlich findet er die gesuchte Seite und runzelt die Stirn. "Warum konnte das nicht gestern passieren. Da haben zwei Patienten abgesagt und einer ist ohne Abmeldung nicht erschienen", bemerkt er seufzend. "In den nächsten zwei Stunden kann ich mich leider kaum um Sie kümmern, aber Fräulein Susi zeigt Ihnen noch einmal alles, was Sie wissen müssen. Ihr letzter Besuch hier ist auch schon wieder ein paar Wochen her". "Keine Sorge, ich werde mich schon zu beschäftigen wissen", beruhigt Dr. Sommer seinen sichtlich gestressten Kollegen. "Wo ist eigentlich Fräulein Susi?" Mit fragendem Gesichtsausdruck wendet dieser sich wieder seiner Helferin Gabi zu. "Ähm.", beginnt sie stockend, ". wahrscheinlich in der Frühstückspause." "Seit fast einer Stunde!?", hakt Dr. Degen konsterniert nach. Gabi zuckt ratlos mit den Schultern. "Wie wäre es, wenn Sie zurück zu Ihrer Behandlung gehen und ich erst einmal meinen Mantel aufhänge. Ihre Helferin wird sicher jeden Moment zurückkommen", schlägt Dr. Sommer vor. "Und Sie kommen wirklich zurecht?", fragt dieser eher rhetorisch nach. "Kein Problem", beruhigt er ihn. Dr. Degen lächelt dankbar und verschwindet mit wehendem Arztkittel durch die Tür zum Behandlungszimmer. Auf dem Weg zur Garderobe fällt Dr. Sommer eine halboffenstehende Milchglastür ins Auge. Neugierig tritt er ein. Der Geruch von nassem Mörtel steigt ihm in die Nase. Die Tapete mit einem Schilfgrasmuster, das vermutlich in den 80er Jahren der letzte Schrei war, hängt in Fetzen von der Wand und eine Fräsmaschine hat bereits breite Furchen hinterlassen. "Offensichtlich ein Wasserrohrbruch", denkt er bei sich. Hoffentlich ist hier nicht alles so marode wie die Wasserleitungen. Vielleicht hätte er bei der Begehung doch genauer hinsehen sollen. Er erinnert sich, dass in diesem Raum eine kleine Teeküche untergebracht war, die schon vor dem Malheur mit dem kaputten Rohr nicht gerade einladend aussah. "Kein Wunder, dass es das Personal in den Pausen aus dem Haus treibt", murmelt er. In diesem Moment hört er, wie von draußen jemand durch die Eingangstür kommt. "Du hast Nerven so lange wegzubleiben. Der Chef hat Dich schon gesucht", vernimmt er Gabis keifende Stimme. "Den Aufstand kannst Du Dir sparen", reagiert Susi gelassen. "Wenn Du nicht wieder mal dein Wochenende selbst verlängert hättest, hätte Gülay nicht deine Schicht an der Anmeldung übernehmen müssen und ich nicht ihre bei der Behandlungsvorbereitung", säuselt Susi betont lässig. Gabi schnappt nach Luft. "Das ist eine böswillige Unterstellung", ruft sie empört. "Schrei ruhig noch lauter. Die Patienten im Wartezimmer sind auch interessiert", kontert die Blonde. "Wie auch immer", fügt sie hinzu. "Für die paar Kröten, die ich hier verdiene, gedenke ich nicht auch noch regelmäßig Überstunden zu machen. Du kannst das ja halten, wie du willst."
Die beiden Frauen laufen in Richtung Garderobe, ohne Dr. Sommer in der Teeküche zu bemerken. "Übrigens", sagt Gabi, die mit verschränkten Armen an der Wand lehnt, süffisant, "der Neue ist kurz vor Dir eingetroffen und Du sollst Dich um ihn kümmern." "Und warum macht Dr. Allgegenwärtig das nicht selbst?", fragt Susi genervt. "Weil sich zwei Schmerzpatienten angemeldet haben und er keine Zeit hat", antwortet die Brünette und schlendert wieder Richtung Anmeldung. "Und wie hat der Chef sich das vorgestellt? Soll ich vielleicht für ihn steppen?", ruft Susi ihrer Kollegin hinterher. "Dir wird schon etwas einfallen", antwortet diese im schadenfrohen Tonfall. "Zeige ihm unseren sensationellen Praxisshop oder unseren gut organisierten Lagerraum", fügt sie leicht ironisch hinzu. "Sehr witzig", zischt die Blonde durch die Zähne. "Das fängt ja gut an", denkt Dr. Sommer, als er sich wenige Minuten später aus der Teeküche schleicht. Hier scheint ja einiges im Argen zu sein. Im Flur trifft er auf Susi, die ihn mit einem filmreifen Lächeln begrüßt. "Sie müssen Dr. Sommer sein", freut sie sich überschwänglich. "Wir haben uns bei Ihrem ersten Besuch noch nicht kennengelernt, aber es wird Ihnen hier bestimmt gefallen und wir können jede Unterstützung gebrauchen", fügt sie hinzu. "Ja, das glaube ich auch", antwortet der junge Zahnarzt mit einem vielsagenden Lächeln.
Die Vermutung von Dr. Sommer, dass "einiges im Argen liegt", wird sich schon bald als durchaus berechtigt erweisen. Denn fest steht: Viele Praxisinhaber sind mit dem "Mix" aus organisatorischen, personalpolitischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten schlichtweg überfordert. Tatsache ist auch, dass die Nachfolger von alteingesessenen Praxisinhabern oftmals einiges anders machen möchten, wenn sie eine Praxis übernehmen. Doch Enthusiasmus allein reicht nicht und im zahnmedizinischen Studium stehen weder betriebswirtschaftliche Inhalte noch Personalführung, Qualitätsmanagement oder das Erstellen von Hygieneplänen auf dem Lehrplan. Eigeninitiative in Form von Weiterbildung ist daher gefragt, denn wie sonst kann ein Zahnarzt auch seiner Rolle als Unternehmer gerecht werden? Wissensdefizite in diesem Bereich begünstigen spätere betriebswirtschaftliche Missstände in der Praxis, die trotz großer fachlicher Kompetenz und vollen Wartezimmern entstehen können.
In unserer Geschichte hat Dr. Sommer diese Problematik frühzeitig erkannt und sich bereits während seines Studiums zusätzliche...