1. Kapitel
Bremen, Wiedviertel im April 1890
Lene sprang aus dem Wagen der grünen Linie, kaum dass die Pferdebahn die Haltestelle an der Nordstraße erreicht hatte. Bis zur Wohnung ihrer Schwester Hermine war es jetzt nicht mehr weit. Mit schnellen Schritten folgte die Vierundzwanzigjährige noch ein kurzes Stück der Straße, bevor sie linker Hand in die Heimatstraße einbog. Es war der erste schöne Frühlingstag in diesem Jahr, und Lene, die bereits in der Pferdebahn ihren Wollmantel geöffnet hatte, widerstand dem Gedanken, sich noch vor dem Erreichen ihres Ziels des Kleidungsstücks zu entledigen. Das kleine einstöckige Haus stand noch kein Jahr hier, und Hermine hatte mit ihrem Mann Otto zu den ersten Bewohnern gehört.
Anfangs war es für Lene seltsam gewesen, dass ihre Schwester nun den Plan in die Wirklichkeit umsetzte, den Ludwig eigentlich für ihre gemeinsame Zukunft geplant hatte. Andererseits hatte Lene nach Ludwigs Tod keinen Gedanken mehr an einen Umzug in das neue Wiedviertel verschwendet, und das nötige Geld fehlte ihr ohnehin dafür. Als dann auch noch ihr Vater drei Monate nach dem Unglück am Hafen völlig unerwartet aus dem Leben gerissen wurde, stand Lene mit ihrer jüngeren Schwester Hermine plötzlich allein da. Sie waren zwar nicht komplett mittellos, aber es hatte Lene doch einen großen Schock versetzt, als sie erfuhr, dass ihr Vater über keine nennenswerten Ersparnisse verfügt hatte. Lene, die den Schmerz über den frühen Verlust ihres geliebten Mannes eigentlich noch gar nicht verwunden hatte, riss sich ihrer Schwester zuliebe zusammen. Aber das schlechte Gewissen, das sie seit dem Tod ihres Vaters plagte, ließ sie nicht mehr los, denn die Ausbildung zur Lehrerin, die ihr Vater ihr vor Jahren ermöglicht hatte, trug einen großen Anteil an der schlechten finanziellen Situation. Wenigstens konnte sie nun durch ihre berufliche Ausbildung für sich selbst sorgen, dachte Lene dankbar und runzelte die Stirn, als sie das Stimmengewirr registrierte, das aus der Wohnung zu hören war. Selbst der kleine Heinrich ist still bei dem Geschnatter, schoss es ihr durch den Kopf, während sie an der Wohnungstür ihrer Schwester klopfte.
»Ach, Sie sind es, liebe Lene! Da wird sich aber Ihre Schwester freuen«, begrüßte sie eine stark korpulente Frau in den Vierzigern.
»Guten Tag, Frau Wittkopp, vielen Dank, dass Sie mir geöffnet haben«, erwiderte Lene und drängte sich vorsichtig an Hermines Nachbarin vorbei.
Frau Wittkopp war seit drei Jahren verwitwet und bewohnte mit ihren drei Kindern die beiden Zimmer unterm Dach. Otto hatte das Stockwerk ziemlich schnell vermietet, um seinen Wochenlohn als Vorarbeiter am Hafen etwas aufzubessern. Lenes Schwester beklagte sich zwar gelegentlich über die Geschwätzigkeit der Frau, war aber eigentlich ganz froh über die Ratschläge der erfahrenen Mutter, die in schöner Regelmäßigkeit und ganz ohne Aufforderung erfolgten.
»Ihre arme Schwester hat fast die ganze Nacht wieder kein Auge zugemacht. Heinrich ist zwar ein zartes Kind, aber mit seinem Geschrei steht er meinen dreien in nichts nach«, vertraute Frau Wittkopp ihr an, bevor Lene die wenigen Schritte in die Wohnküche ging. Die warme, stickige Luft nahm ihr fast den Atem. Zu allem Übel spürte sie, dass sich die ersten Schweißperlen ihren Weg zwischen ihren Brüsten bahnten und der schwere cremefarbene Stoff ihrer Bluse bereits an einigen Stellen ihrer Haut klebte.
»So, jetzt rückt mal alle zusammen, damit Frau Drews auch noch ein Plätzchen findet!«, forderte die resolute Nachbarin die anderen Frauen auf, die sich bereits in dem nicht besonders großen Raum drängten. »Aber Sie sind ja so schön schlank, da gibt es bestimmt ein Eckchen für Sie.«
Lene nickte den anderen Frauen lächelnd zu, strich Hermines Freundin Marie flüchtig über den Arm, während sie sich ihren Weg zwischen zwei Stühlen hindurch bahnte, um zu ihrer Schwester zu gelangen. Lene erschrak, als sie Hermines zusammengesunkene Gestalt in dem Lehnstuhl erblickte, der früher ihrem Vater gehört hatte. Seit der Geburt des kleinen Heinrichs vor acht Tagen wirkte sie noch schwächer, als sie es ohnehin schon vor der Schwangerschaft gewesen war. Hermine trug eine hochgeschlossene weiße Bluse, die sich kaum von ihrer durchscheinend wirkenden Haut abhob. Die schönen blauen Augen hatten ihr früheres Strahlen verloren und starrten Lene matt und riesig entgegen.
»Da bist du ja endlich«, flüsterte Hermine, als Lene sich zu ihr hinabbeugte und vorsichtig die Arme um sie legte. »Sie sind schon seit über einer Stunde hier, und ich würde mich doch so schrecklich gerne ein wenig hinlegen.«
»Ich kümmere mich darum«, beruhigte Lene sie leise und hauchte ihr einen Kuss auf die kalte Wange, während sie bereits fieberhaft nach einem Weg suchte, die ganze Besucherschar schnellstmöglich loszuwerden.
Wie auf Bestellung fing in dem Moment ihr kleiner Neffe zu schreien an, und Lene zwinkerte ihrer Schwester unauffällig zu, bevor sie sich den Frauen zuwandte.
»Der kleine Kerl hat bestimmt Hunger«, mutmaßte Marie, die hochschwanger auf einem Stuhl saß, den Lene bisher noch nicht in Hermines Wohnung gesehen hatte.
Lene war sich nicht ganz sicher, meinte aber eine leichte Angst in Maries Stimme zu hören. Eine andere Besucherin hielt sich mit ihrer freien Hand das linke Ohr zu, während sie mit ihrer rechten Hand den letzten Happen Butterkuchen in den Mund schob. Lene glaubte sich zu erinnern, dass es sich bei der Besucherin um Maries Mutter handelte. Ganz sicher war sie sich aber nicht. Die säuerliche Miene der dürren, verhärmt wirkenden Frau versprach jedenfalls keine gute Zeit für ihre Tochter, die ja selbst bald ein Kind erwartete.
»Komm, Hermine, ich stütze dich«, sagte Lene laut und hielt ihrer Schwester den Arm hin. »Dann kannst du dich um deinen Sohn kümmern.«
»Aber das kann sie doch auch hier machen«, rief Frau Wittkopp und stellte das Glas Saft wieder auf den Tisch. »Ich hole Heinrich, dann können Sie sitzen bleiben und sich weiter ausruhen.«
Verblüfft darüber, wie schnell Frau Wittkopp ihre Leibesfülle vom Stuhl hochbekam, reagierte Lene fast zu spät. So aber zog sie ihre Schwester mit einer Hand vom Stuhl und legte zeitgleich Hermines Nachbarin die andere Hand auf die Schulter.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Frau Wittkopp, und wirklich gut gemeint, aber Heinrich hat es am liebsten, wenn er mit seiner Mutter allein ist, nicht wahr, Hermine?«, wandte sich Lene an ihre Schwester, während sie die Nachbarin sanft, aber bestimmt wieder auf ihren Platz drückte.
»Ja, das ist richtig«, sagte Hermine so leise, dass es nicht alle im Raum hören konnten. Aber es reichte, dass Frau Wittkopp es verstanden hatte.
Erleichtert zog Lene ihre Schwester hinter sich her und versuchte ihr dabei trotz der Enge im Raum etwas Halt zu geben. Ihre spontane Äußerung war riskant gewesen, denn Hermine zählte nicht zu den Menschen, die Hilfestellungen auch als solche zu erkennen und vor allem nutzen mochten, weil ihre Schwester stets bemüht war, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Allein daran konnte Lene erkennen, wie sehr Hermine jetzt der Ruhe bedurfte. Dass Frau Wittkopp nun leicht verstimmt und mit gerunzelter Stirn nach dem nächsten Streifen Kuchen griff, interessierte Lene herzlich wenig.
Nachdem Lene die Tür zur kleinen Kammer von Hermine und Otto hinter sich zugezogen hatte, setzte sie ihre jüngere Schwester auf das Bett und legte ihr die Wolldecke um die Schultern, die gefaltet auf dem Fußende lag.
»Ich gebe dir gleich deinen Sohn.«
Hermine schüttelte den Kopf und machte Anstalten, sich wieder zu erheben.
»Ich kann nicht am Nachmittag mit meinem Kleid auf dem Bett sitzen. Das geht doch nicht!«, protestierte sie und kam dabei kaum gegen das immer lauter werdende Geschrei ihres Sohnes an.
»Herrje, Hermine! Du bist noch sehr schwach und musst erst wieder zu Kräften kommen«, schalt Lene und drückte sie energisch zurück auf das Bett. »Und jetzt sieh zu, dass du deinen Sohn satt bekommst, sonst brüllt er sich noch die Seele aus seinem kleinen Leib. Ich kümmere mich in der Zeit um deine Gäste.«
Ohne erneute Widerrede rutschte Hermine gehorsam ein Stück zurück und legte ihre Beine auf das Bett. Lene beugte sich über die Wiege ihres Neffen, dessen Gesicht von der Anstrengung bereits gerötet war.
»Schschsch! Ist ja gut, mein Kleiner. Gleich bist du bei deiner Mama, und dann geht es dir schnell besser«, murmelte Lene.
Dabei schob sie ihre Hände unter den warmen Körper des Kindes und hob ihn vorsichtig hoch. Heinrich beruhigte sich bereits auf ihrem Arm. Sachte wiegte Lene ihn hin und her und summte dabei eine Melodie, die ihr als Erstes in den Sinn gekommen war. Lene war so fasziniert von dem kleinen Jungen, der mittlerweile völlig mit dem Schreien aufgehört hatte, dass sie gar nicht merkte, wie ihre Schwester sie beobachtete, während sie langsam die runden Knöpfe ihres Kleides öffnete.
»Ich wusste ja, dass du schon immer gut mit Kindern umgehen konntest. Aber dass du sogar Säuglinge in deinen Bann ziehst, überrascht mich...