Schweitzer Fachinformationen
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Eigentlich kehren die ungleichen Freundinnen Zoe und Hailey New York den Rücken, um im Berlin der Nullerjahre Kunst zu studieren. Hailey auf der Suche nach Erfolg; Zoe, um über den Tod ihrer besten Freundin hinwegzukommen. Immer tiefer tauchen sie ins Berliner Nachtleben ein und versuchen, sich in der Szene einen Namen zu machen. Schließlich eröffnen sie einen illegalen Club in ihrer Wohnung, die ihnen die Krimi-Autorin Beatrice überlassen hat, und veranstalten immer wildere Partys. Schon bald verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, denn sie fühlen sich beobachtet: Benutzt Beatrice sie als Vorlage für ihren neuen Roman? Die beiden jungen Frauen beschließen, ihre Geschichte selbst zu inszenieren - mit einer blutigen Wendung.
»Guten Tag, Dumpster!«, schrie Hailey und wedelte aufgeregt mit ihrem sommersprossigen Arm durch den Hauptbahnhof. An ihrem sportlichen Körper war ein ockerfarbener Wanderrucksack festgeschnallt - sie schien bereit, ihr Lager jede Nacht woanders aufzuschlagen, was mir ein wenig Angst machte. Während wir unsere S-Bahn-Tickets kauften, erklärte sie fröhlich, dass das Hostel Star im Ostteil der Stadt liege, ein Bett dort zweiundzwanzig Euro pro Nacht koste und in jedes Zimmer vier Stockbetten für insgesamt acht Personen passten. Ich verstand die Unterschiede zwischen Ost und West noch nicht wirklich, aber offenbar waren diese beiden Himmelsrichtungen in Berlin von besonderer Bedeutung. Die Wirkung der Tablette gegen Reisekrankheit, die ich irgendwo über dem Atlantik genommen hatte, ließ nach, und ich fühlte mich hilflos, weil ich mich ganz auf Haileys Planung verlassen musste, weil ich ihr wie ein stummer Hund hinterhertrottete, während sie vor sich hin plapperte und mir durchs Waggonfenster Sehenswürdigkeiten zeigte: das Kunstmuseum zu unserer Linken, den Alexanderplatz, den Fernsehturm.
Ich zog meinen gebrauchten Koffer über den gepflasterten Gehweg und ließ Hailey voraushüpfen, bis sie abrupt unter einem Neonstern stehen blieb, der von einer bröckelnden Betonfassade herableuchtete. Ich folgte ihr in das Gebäude, wo uns der Geruch von Zitronenreiniger und Moder entgegenschlug.
»Mir hat der Name Hostel Star irgendwie gefallen«, rechtfertigte sie sich leicht verlegen und sah sich in der heruntergekommenen Lobby um. Nachdem wir endlich die Schlüssel in den Händen hielten, betraten wir unser Zimmer im zweiten Stock, in dem bereits drei Typen in unserem Alter herumhingen. Sie hatten sich über sämtliche Möbelstücke ausgebreitet und ihre Reisetaschen und ihr Zigarettenpapier auf dem dunkelblauen Linoleumboden verteilt. Als sie uns sahen, begrüßten sie uns mit starkem australischem Akzent.
»Wir bleiben nur hier, bis wir was Dauerhaftes gefunden haben«, raunte mir Hailey zu, nachdem wir ein paar höfliche Floskeln mit unseren Zimmergenossen ausgetauscht hatten. Sie streifte die Gore-Tex-Schulterriemen ihres Rucksacks ab und nahm einen Schluck aus ihrer Smart-Wasserflasche. Die Australier stellten sich vor, alle drei Namen klangen wie Aaron, Oron oder Erin. Widerwillig nannten wir ihnen im Gegenzug unsere. Ich war erleichtert, als Hailey gähnte. Sie war also doch nur ein Mensch. Wir legten uns auf unsere Stockbetten, und ich fiel in einen sirupartigen, zähen Schlaf. Als ich aus meinem Jetlag-Nickerchen erwachte, war es draußen bereits dunkel, und die Spiegelung des Neonsterns schien wie ein Sonnenuntergang mit Schluckauf durch unser Zimmerfenster. Die Aarons fragten, ob wir mit ihnen in einen Club wollten. Hailey und ich tauschten Auf keinen Fall-Blicke aus. Die Jungs zuckten mit den Schultern und fingen an, von der Kante des oberen Stockbetts Speed zu ziehen. In einem letzten Versuch, uns zum Mitkommen zu überreden, grölte der Lange: »Jede versäumte Nacht in Berlin, ist eine versäumte Nacht in Berlin!« Wir brachen in Gelächter aus, sobald die Tür hinter ihnen zugefallen war.
Der Spruch wurde unser Mantra, wenn entweder alles absolut trostlos oder absolut unglaublich war. Jede versäumte Nacht in Berlin ist eine versäumte Nacht in Berlin. Vom oberen Stockbett aus sah ich Hailey dabei zu, wie sie den Satz in ihr orangefarbenes Tagebuch kritzelte. Sie notierte ständig irgendetwas, unterbrach unsere Gespräche, um das broschierte Büchlein hervorzuziehen. Beim Schreiben hüpfte ihr roter Pferdeschwanz wie ein Pinsel durch die Luft.
»Alle großen Künstler haben Tagebuch geführt«, sagte sie an unserem zweiten gemeinsamen Nachmittag zu mir, während Croissantkrümel vom Amorbogen ihrer Oberlippe rieselten. »Ich nehme das hier sehr ernst.« Ich nickte, unsicher, was ich in Berlin ernst nehmen würde. Ich wusste ja noch nicht mal genau, warum ich hier war. Über meinen Chai Latte hinweg spähte ich zu Hailey hinüber. Sie war so unerschütterlich selbstsicher, so überzeugt von ihren Plänen für die nächsten Monate und wahrscheinlich sogar Jahre. In Gedanken formulierte ich eine E-Mail an meinen Freund Jesse, in der ich ankündigte, früher nach Hause zu kommen. Berlin sei ein gewaltiger Fehler gewesen, ich hätte keine Ahnung, was ich hier täte.
Hailey hatte ich im Kunstgeschichtsseminar an der Uni in New York kennengelernt. Sie stammte aus Rhode Island und irgendwie auch aus Kentucky, Nebraska und Colorado. Ihrem Vater gehörte eine erfolgreiche Supermarktkette, die aus unerfindlichen Gründen Biggles hieß. Hailey war eine Titelbild-Schönheit mit rotem Haar, durch das sie ständig die Finger gleiten ließ, als stünde sie vor laufender Kamera. In Kunstgeschichte ließ sie immer wieder ihre sommersprossigen Arme in die Luft schnellen, weil sie unbedingt eine Frage beantworten wollte. Warum war Cimabue so bedeutsam? WEIL ER DIE ALLERWICHTIGSTE ÜBERGANGSFIGUR ZWISCHEN MITTELALTERLICHER UND RENAISSANCE-MALEREI DARSTELLT! Ihre Antworten waren normalerweise richtig, und sie hatte eine schizophrene Art, den Akzent zu wechseln, passend zur jeweiligen Situation: ein schleppender Südstaaten-Singsang, um jemanden um einen Stift zu bitten, oder ein trockener r-loser Ostküstenakzent, um auf Dozentenfragen zu antworten.
Zum Kunstgeschichtsseminar um neun Uhr morgens erschien Hailey grundsätzlich mit knalligem Lippenstift, wozu sie entweder eine Victoria's Secret PINK Jogginghose oder enge Hüftjeans trug - dazwischen gab es für sie nichts. Hin und wieder setzte sie sogar eine Von-Dutch-Cap auf, was 2008 vermutlich schon als retro durchging, und war eine absolute Ausnahme an der Kunstfakultät, wo die gängige Uniform aus Carhartt-Hosen mit Farbflecken, übergroßen Band-T-Shirts und Doc Martens bestand. Genau wie ich war sie nicht gerade im Schoß der Avantgarde aufgewachsen, für sie war Popkultur die einzig wahre Kultur. Sie vergötterte Andy Warhol und marschierte, ohne zu zögern, in Kim's Video am St. Marks Place, dem Mekka für Filmkenner, um den Angestellten, der unverhohlen die Augen verdrehte, nach Notting Hill zu fragen.
Bei meinem einzigen Besuch im Kim's hatte ich mich dem Druck der »Mitarbeiter-Lieblinge« gebeugt und einen tschechischen New-Wave-Film ausgeliehen, für den ich nachzahlen musste, nachdem ich vier Abende in Folge vergeblich versucht hatte, ihn mir bis zum Ende anzusehen.
Freitags, nach unserer Kunstgeschichts-Arbeitsgruppe, gingen ein paar von uns oft noch in den Asian Pub, eine düstere Kneipe im East Village, in der sie billige Cocktails anboten und nicht allzu genau nachgeprüften, ob man schon einundzwanzig war. Eines Abends, als wir bereits ein paar Drinks intus hatten, ertappte mich Hailey dabei, wie ich ihre Nase anstarrte. Sie war zu perfekt, sanft geschwungen wie eine Skipiste für Kinder. Sie beugte sich vor und erzählte mir mit ihrem Erdbeer-Daiquiri-Atem, sie habe in der Highschool einen Lacrosse-Schläger ins Gesicht bekommen und ihren Vater anschließend überredet, ihr eine Nasen-OP zu spendieren. Sie trank noch einen Schluck von ihrem knallroten Getränk und sah mir in die Augen. Offenbar lag ihr daran, dass wir noch eine Weile bei diesem Thema blieben.
»Davor hatte ich bestimmt drei Castings für Neutrogena-Werbespots, aber nie habe ich den Job bekommen. Da wurde mir klar, dass es so nicht weitergehen konnte.«
»Oh«, sagte ich und wusste nicht, was ich sonst noch hinzufügen sollte.
»Also habe ich die Sache selbst in die Hand genommen«, gestand sie stolz und machte eine Schlagbewegung in Richtung ihres Kopfes.
»Willst du damit sagen, dass du dir absichtlich die Nase gebrochen hast?«, fragte ein Kommilitone, der neben uns saß.
»Ja.« Hailey schnalzte zufrieden mit der Zunge.
Ich entschuldigte mich und verschwand auf die Toilette, aber das Bild hatte sich bereits in mein Hirn eingebrannt: Hailey, wie sie sich innerlich wappnete, während der Aluminiumschläger auf ihr niedliches Teeniegesicht zuraste. Als das Semester schon einige Wochen lief, stattete ich ihr in ihrem Studentenwohnheim einen Besuch ab, um ein Handout über byzantinische Mosaike abzuholen, und bemerkte die Modelbilder, die über ihrem Bett an der Wand klebten: die junge Hailey mit kariertem Minirock in einem Katalog für Jugendmode, Hailey Capri-Sonne trinkend auf dem Fußballplatz, umringt von weiteren Rotschöpfen und einem Zwergbullterrier für eine Target-Reklame.
»Siehst du, das mit der Nase hat funktioniert«, sagte sie zufrieden und kramte auf ihrem Schreibtisch nach dem Handout. Ich nickte, gleichzeitig angewidert und fasziniert von ihrer pubertären Radikalität.
Gegen Ende des zweiten Studienjahrs wünschte ich mich verzweifelt weg von New York. Ich war deprimiert - die Wirtschaftskrise, überall nur Trübsinn. Unsere Studienberaterin Carol Gaynor, eine schlanke Frau mit makelloser Haut, die mit einem berühmten Dermatologen verheiratet war, erklärte sich bereit, mit mir zusammen einen Fluchtplan zu schmieden. In Carols Büro konnte man gemütlich die Füße hochlegen, während sie über die völlig irrelevanten Vorzüge weit entfernter Orte plapperte, die für einen Austausch zur Verfügung standen.
»In der Nähe der Uni gibt es ein Café in einer Orangerie, dort servieren sie spektakulär gute Scones.« Oder: »Nur ein Stück die Straße entlang ist eine tolle öffentliche Sauna direkt am Meer.«
Ich wollte nach Helsinki, zu der Kunstfakultät mit der Sauna.
»Einmal richtig schwitzen, und die Welt sieht gleich ganz anders aus«, schwärmte Carol mit einem Kaffeebecher in der Hand. Ich hatte sofort...
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