Schweitzer Fachinformationen
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Immer wenn Muriel zum Einkaufen in die Innenstadt von Bangor fuhr, spürte sie ein Ziehen in der Magengegend, so auch jetzt wieder. Ein diffuser Schmerz, den sie nicht einmal genau lokalisieren konnte. Er schien zu wandern, wie ein Wurm, der sich durch ihren Körper fraß.
Bereits bei der Abfahrt daheim spürte sie einen Kloß im Hals. Während der Autofahrt pochte ihr Herz immer heftiger, sodass sie tief ein- und wieder ausatmete, in der Hoffnung, dass es sich dadurch wieder beruhigte. Stieg sie vor dem Laden aus, in dem sie Besorgungen zu machen hatte, krampfte sich ihr Inneres zusammen. In ihrem Bauch rumorte es so lebhaft, dass sie felsenfest davon überzeugt war, jeder, der an ihr vorüberging, würde das Gluckern und Gurgeln hören.
Sie hatte den Eindruck, die Menschen würden sie wegen der peinlichen Geräusche anstarren. Und manche taten das auch, was allerdings vielleicht auch an den altmodischen Kleidern ihrer Mutter lag. Fremde konnten natürlich nicht wissen, dass Muriel sie trug, weil sie nie über ihren Verlust hinweggekommen war. Sie war damals erst sechzehn Jahre alt gewesen, und die Kleider waren das Einzige, das Muriel von ihr geblieben war, ihre einzige Verbindung zu sonnigeren Zeiten mit Versteckspielen im Wald, Picknick auf der Wiese und Gutenachtküssen.
Heutzutage kannte sie nur Entbehrung, aber ihrem dürren Körper sah man lediglich den Mangel an Nahrung an. Muriel passte gut auf, dass Alica nicht merkte, wie groß ihre Portionen im Vergleich zu denen ihrer Schwester ausfielen. Der Hunger nach körperlicher Nähe war dagegen für sie viel schwerer zu ertragen.
Mit starrem Blick erledigte sie rasch, was auf dem Plan stand. Nur nicht rechts und links sehen. Geradeaus marschieren und zügig vorangehen, dann wurde sie auch nicht angesprochen. Sie wusste, dass sie dadurch wie ein Feldwebel wirkte, steif und hart, denn sie hatte sich einmal in einem Schaufenster gesehen und erschrocken den Blick abgewendet. Das war nicht sie. Sie zeigte niemandem ihr wahres Ich, wie verletzlich sie war, nicht einmal Alica, denn sie musste für ihre jüngere Schwester stark sein und ihr nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater ersetzen.
Der Druck in der Leibesmitte ließ erst nach, wenn Muriel wieder heimfuhr, denn dieses unsichtbare Übel setzte beim Verlassen des Grundstücks ein und fiel bei der Heimkehr an derselben Stelle wieder von ihr ab. Sie kannte die Ursache, sie war nicht dumm, selbstverständlich handelte es sich nicht um einen Wurm. Aber sie wollte sich mit dem Grund dafür, dass sie sich außerhalb ihres Zuhauses immer wieder in sich zurückzog, sodass sie abweisend, ja, geradezu mürrisch auf andere wirkte, nicht auseinandersetzen.
Wieder daheim, fühlte sie sich nach dem Ausflug jedes Mal wie befreit, aber auch schutzlos. Darum hatte sie auch diese Männer, den Advokat des Teufels und diesen anderen Kerl, am gestrigen Tag nicht aufs Grundstück gelassen. In ihren eigenen vier Wänden schaffte sie es nicht, den Schutzwall um sich herum aufrechtzuerhalten. Denn dort erinnerte sie alles daran, wer sie wirklich war.
Nur darum hatte sie das Gewehr und die Pistole ihres Vaters behalten. Er hatte ihr beigebracht, ihre Gefühle zu verbergen, nicht absichtlich, sondern als Nebenprodukt seiner Erziehung. Seit dem Tod der Mutter hatte sie stark sein müssen, und das war sie auch, stark, aber eben nicht nur. Ich bin es leid, allen ständig etwas vormachen zu müssen!
Auch jetzt, wo sie den Wagen vor dem Einkaufszentrum parkte, ausstieg und zum Drugstore marschierte, wie ein Soldat auf einer Mission, der sich von nichts aufhalten lassen würde, starrten die Passanten sie an. Sie musterten sie, rümpften die Nase und tuschelten. Muriel tat, als würden die Blicke an ihrem Schutzschild abprallen, doch in Wahrheit bohrten sie sich wie Messerspitzen in ihre Seele. Lange, das ahnte sie, würde sie diese Scharade nicht mehr spielen können. Ihr ging die Kraft dazu aus.
Sie tauchte in das Geschäft ein und scannte, wer sich darin aufhielt, wer ihr gefährlich werden konnte.
An der Kasse suchte eine Kundin in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld und legte mit zittrigen, altersfleckigen Händen eine Münze nach der anderen auf den Tresen, was den Kassierer dazu veranlasste, die Augen zu verdrehen. Gerne hätte Muriel ihr geholfen, doch um das zu tun, hätte sie aus ihrer Deckung herauskommen müssen.
Der Angestellte vertrieb sich die Wartezeit damit, einer Frau in Minirock und Tanktop, die gelassen und selbstbewusst am Kosmetikregal entlangstolzierte, nachzuschauen. Verstohlen musterte auch Muriel sie und beneidete sie um ihre Haltung und ihre Kurven.
Eine Gruppe von drei Jugendlichen balgte in einer Ecke. Sie konnten sich nicht entscheiden, welche Getränke sie kaufen wollten, rissen sich die Flaschen gegenseitig aus den Händen, wodurch der Inhalt geschüttelt wurde, und stellten sie dann wieder zurück. Eine Ahnung beschlich Muriel. Vermutlich war das Raufen nur ein Vorwand, um die Behälter durch die Kohlensäure unter Druck zu setzen. Die Kids würden im Laden warten, bis die Flaschen im Kühlregal explodierten oder ein Kunde eine davon kaufte, vor der Tür öffnete und ihm das Getränk um die Ohren spritzte, um sich kaputtzulachen. Der Kassierer schaute zwar genervt in ihre Richtung, traute sich aber wohl nichts zu sagen.
Diese Typen waren ein Risiko.
Vorsorglich machte Muriel einen Bogen um das Trio. Sie ging umständlich durch die Gänge, um zu den Hygieneartikeln zu kommen.
Da hörte sie, wie einer der Jungs rief: »Hey, seht euch mal die an! Hat den Fummel wohl aus dem Altkleidercontainer geklaut.«
Automatisch sah sie auf. O nein, bitte nicht! Doch es war zu spät. Er sah zu ihr hinüber. Kichernd stieß er seine Kumpels an und zeigte auf sie.
Rasch senkte Muriel den Blick. Sie tat, als würde sie die Binden und Einlagen betrachten, doch die Aufschriften der Verpackungen lasen sich durch die Aufregung wie eine unbekannte Fremdsprache. Angst stieg in ihr auf. Wenigstens übertönte das wilde Pochen ihres Herzens die weiteren Sprüche, die die Jugendlichen von sich gaben. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass die ältere Dame es plötzlich eilig hatte, den Drugstore zu verlassen. Der Kassierer blätterte geschäftig in vermeintlichen Unterlagen, doch Muriels Augen waren scharf. Die Blätter waren leer, wahrscheinlich nur Kopierpapier.
Schnellen Schrittes ging sie in den Gang mit den Schminkartikeln. Die Toilettenartikel würde sie später in einem anderen Laden kaufen. Der Umweg würde Zeit kosten, sie würde noch länger unterwegs sein, und ihr Panzer bröckelte bereits. Er wurde ohnehin mit den Jahren immer brüchiger. Sie wollte dieses Leben nicht länger führen. Doch sie kannte nichts anderes.
Sie versuchte die Krawalltypen auszublenden, indem sie sich auf die Suche nach dem apricotfarbenen Lippenstift konzentrierte, den Alica neulich bewundert hatte wie ein Kind ein Geschenk am Weihnachtsmorgen. Muriel selbst machte sich nichts aus Schminke. Ihrer Meinung nach würde das an ihrem unscheinbaren Äußeren auch nichts ändern.
»Du musst die schönen Details an dir hervorheben«, hatte ihre Schwester ihr geraten.
Aber gab es die überhaupt?
Wie zur Bestätigung johlte einer der Jungs: »Make-up hilft da auch nicht mehr.«
Mit feuchten Augen betrachtete sich Muriel in dem Spiegel, der auf dem obersten Regal angebracht war, damit die Kundinnen Produkte testen und das Ergebnis bewundern konnten. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Lippen nur noch dünne Striche, und ihr Blick war müde. Wenigstens war ihr Teint von der Arbeit im Freien gebräunt, aber dadurch wirkten die Schatten unter den Augen nur noch dunkler. Ich bin eindeutig zu dünn. Mit ein paar Kilo mehr sähe ich vielleicht nicht mehr ganz so vergrämt aus.
Aber es fehlte Geld an allen Ecken und Kanten. Noch lebten sie vom Verkauf der Bäume in dem Waldstück, das ihnen gehörte, aber ewig würde dieses Kapital nicht reichen. Und selbst wenn sie zunahm, würde niemand sie je als schön bezeichnen. Schön war ein Prädikat, das auf Alica mit ihrem Angelina-Jolie-Mund, dem sonnigen Lächeln und den C-Körbchen zutraf, nicht auf sie. Schon die Kinder in der Schule hatten Muriel verhöhnt. Was möglicherweise auch daran gelegen hatte, dass ihre Familie stets als Außenseiter gesehen worden waren. Das Honeycomb-Pack, die dreckige Brut von der dreckigen Farm, das Lumpengesindel und andere erniedrigende Namen hatte man ihnen gegeben.
Als ihre Mutter gestorben war, waren die Stimmen kurz verstummt, doch das Mitleid hatte nicht lange gewährt.
Als viele Jahre später der Vater plötzlich verschwand, machte sogar das Gerücht die Runde, die Mädchen hätten ihre Eltern auf dem Gewissen, weil sie so verkorkst waren.
»Spinner!«, zischte Muriel.
»Was haste gesagt?«, ranzte eins der Kids sie über die schulterhohen Regale hinweg an.
»Hat die Tussi uns gerade beleidigt?« Drohend hob der andere die Fäuste.
»Ich war in Gedanken«, beeilte sie sich zu sagen. »Ehrlich, Jungs. Ich meinte nicht euch.«
»Die hat uns Jungs genannt, als wären wir Kinder. Dabei sind wir Kerle! Soll ich's dir beweisen?« Die Hand des Dritten glitt in den Schritt und blieb dort liegen.
Muriels Kehle war wie zugeschnürt. Sie bekam keinen Ton mehr heraus, kein Wort, mit dem sie sich hätte verteidigen können. Schnell legte sie den Lippenstift zurück ins Regal. Sie hatte Alica überraschen und ihr eine Freude machen wollen, aber das war jetzt nicht wichtig. Besser sofort den Rückzug antreten. Warum half der Kassierer ihr denn nicht? Sie schaute...
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