Schweitzer Fachinformationen
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Traum: Ein Zimmer mit zugezogenen Vorhängen - dämmrig und in ein dunkelgrünes Licht getaucht. Lytton ist da. Er steht nah am Kamin, vor einer vom Feuer erleuchteten regenbogenfarbenen Skulptur, die in ihrer Form an einen Leuchter erinnert. Menschen kommen und gehen. Einige sprechen Lytton an, der irgendwie heller aussieht als die anderen, und er antwortet ihnen, als sei das die natürlichste Sache von der Welt. Sie selbst hat eine unerklärliche Scheu, das Wort an ihn zu richten.
Mit einem lauten Rums schlagen die Fensterflügel zu - kurz darauf stößt der Wind sie wieder auf. Draußen rauscht der Regen. Sie ist längst wach, fühlt sich aber noch nicht in der Lage, aufzustehen. Mit der nächsten Windböe regnet es ins Zimmer herein. Der Regen platscht auf die Bettdecke, auf ihr Gesicht. Blitze zucken über den Himmel, gefolgt von krachendem Donner. Draußen schlagen die Hunde an. Scharfes, unregelmäßiges Gebell. Sie schließt das Fenster, legt sich wieder in das durchnässte Bett. Ihre Beine rudern unter der Decke, als wolle sie vor etwas weglaufen.
Nach dem Frühstück verlässt sie das Haus. Sie friert, weil sie den Mantel vergessen hat, will aber nicht umkehren. Der Himmel ist bedeckt von tief hängenden grauen Wolken, hinter denen sich Lichtfächer zeigen. Der Regen hat aufgehört. Es riecht nach Frühling. Das Leben geht weiter, als sei nichts geschehen. Es ist aber etwas geschehen, etwas Unumkehrbares, Nichtwiedergutzumachendes, das ihr Leben unterbrochen hat. Eine Tür ist zugefallen und kann nicht mehr geöffnet werden. Das heißt, eigentlich sind es zwei Türen. Die Tür hinter ihr, hinter der ihre Vergangenheit mit Lytton liegt, und die Tür vor ihr, hinter der bis vor Kurzem noch ihre Zukunft lag. Und sie ist jetzt eingeschlossen in diesem engen, leeren Raum, abgeschnitten vom Fluss des Lebens, abgeschnitten von allem.
Sie folgt einem großen, dünnen Mann mit Bart, der eine goldene Metallbrille trägt, bis zum Gordon Square, dann einem anderen in einem hellen Anzug mit einem Panamahut auf dem Kopf. Der Parkwächter sieht ihr nach, als sie zum zweiten Mal den Platz umrundet. Sie bemerkt sein Befremden, registriert automatisch, mit dem Blick der Schriftstellerin, die rote Uniform, die goldenen Knöpfe - und erschrickt, als sie plötzlich ihre eigene Stimme hört: Nein, sagt die Stimme (eine fremde Stimme und doch ihre eigene), das ist unmöglich. Für einen Moment sieht sie sich selbst von außen, wie durch die Linse einer Kamera: Eine ältere Frau mit kurzem Haar, in einem eleganten grünen Kleid und flachen Schuhen, die, vor sich hinmurmelnd, mit ihren langen Beinen große, undamenhafte Schritte macht. Bis zum Brunswick Square läuft sie einem Mann auf einem schwarzen Fahrrad hinterher, dann einem anderen, der mit einem aufgespannten Damensonnenschirm unterwegs ist. Und jedes Mal hat sie das Gefühl: Da ist er, ja, jetzt kommt er, und dann ist er es nicht, kann es ja auch nicht sein, aber schon an der nächsten Ecke glaubt sie wieder, Lytton zu erkennen, ist für einen Moment voller Hoffnung, beschleunigt ihren Schritt, überholt den Mann in dem langen schwarzen Mantel, dreht sich um - und begreift ihren Irrtum. Kein Mensch, muss sie plötzlich denken, hat mir jemals mehr bedeutet als Lytton. Wie sehr er mir fehlt. Wie ich es hasse, hier zu sein, ohne ihn. Wenn ich ihn geheiratet hätte .
Zurück am Tavistock Square geschieht etwas Unerwartetes, denn der Mann, der ihr dort entgegenkommt, das Gesicht halb verborgen in dem langen, rotbraunen Bart, der auf seinem Schlips liegt, ist Lytton. Es kann nicht sein, aber es gibt keinen Zweifel. Als er vor ihr steht, verhält er seinen Schritt, seine braunen Augen hinter der Goldrandbrille leuchten auf, und sie fragt automatisch, wie unter einem Schock: »Hast du geschrieben?«
»Kein Wort!«, antwortet er, und in dieser Verneinung erkennt sie all das wieder, was zu ihm gehört: Seine Selbstironie, seinen Wunsch, sie zu amüsieren, seine Koketterie, seinen Mut, ehrlich zu sein, sein Bedauern über seine Schwäche. Und jetzt könnte etwas beginnen, aber die Imagination bricht hier plötzlich ab. Nein, ich kann nicht, denkt sie. Die Erinnerung, das ist genug. Es gibt keine Zukunft mehr für Lytton und mich.
Lytton ist schon seit Ende November schwer krank gewesen, aber niemand hat ihr etwas gesagt - bis kurz vor Weihnachten. Noch Anfang Dezember hat sie ihm in völliger Ahnungslosigkeit einen Brief geschrieben, einen Traumbrief, in dem sie ein Liebesgedicht von Shelley zitiert:
Aus Träumen von dir erhebe ich mich -
und von dem sie bis heute nicht weiß, ob er ihn noch gelesen hat.
Ein paar Tage hat es noch gegeben, an denen eine Genesung möglich schien. Die Ärzte wussten ja nicht, was Lytton hatte. Dickdarm-Vereiterung schien eine mögliche Diagnose, eine andere Krebs. Von einem Magen-Karzinom war die Rede. Im Grunde sei mit Lytton alles in Ordnung, lautete die Einschätzung eines Spezialisten, den die Familie aus London hatte kommen lassen. Man müsse nur abwarten, bis die Krankheit nachlasse. Vorher könne man nichts tun.
Während sie im Sturmschritt den Russell Square umrundet, muss sie plötzlich an ihren Vater denken. Das schmale, bleiche Gesicht. Die buschigen Augenbrauen. Der struppige Tolstoi-Bart. Seine verrückten Kopfbedeckungen. Der riesige, alte, unmögliche Schlapphut. Das indische Käppi, das er so liebte. Sein mit einer Feder geschmückter Wanderhut. Der Ausdruck von Leid in seinen Zügen. Seine Angst (er war von dem Gedanken besessen, zu wenig Geld zu haben). Sein unsagbar liebevoller, sorgfältiger Umgang mit seinen Büchern und Wanderschuhen. Die oft erzählte Geschichte, wie er sie einmal, in St. Ives, nackt ins Meer geworfen habe, an die sie keine Erinnerung hat. Würde ihr Vater heute noch leben, wäre er jetzt 99 Jahre alt (in seinem 100. Lebensjahr) - sie hätte für ihn da sein müssen und kein Leben gehabt, keine Ehe, keine Bücher, keine Freunde, nichts.
Dr. Leslie Stephen, Historiker und Cambridge-Mann wie Lytton, gestorben vor fast 30 Jahren an einer ähnlichen Krankheit. Damals hatten es die Ärzte Unterleibskrebs genannt. Und immer noch ist alles mit ihm verbunden. Die Erinnerungen an die Kindheit. Die Erinnerung an die Mutter. Ihre abendliche Bibellektüre, die ihr Ehemann regelmäßig sarkastisch kommentierte. Dr. Stephen glaubte nicht an die Tröstungen des Christentums. Er glaubte nicht an die Unsterblichkeit der Seele, an Vergebung und Erlösung von der Schuld. Er glaubte nicht an den Gott der Liebe. Er glaubte an die Einsamkeit, Kraft und Schönheit des männlichen Geistes. Er lebte in einem Gewimmel von acht Kindern, eingesponnen in einen Kokon weiblicher Fürsorge, und die ganze Zeit sehnte er sich nach Cambridge zurück - oder nach der Unzugänglichkeit und Wildheit des Hochgebirges und nach seinen doppelt genähten Wanderschuhen.
Es fängt wieder an zu regnen. Sie verlässt den Square, läuft zum Britischen Museum (hier hat sie Jahr für Jahr durch die sich öffnenden Schwingtüren den berühmtesten Lesesaal der Welt betreten; hier hat sie sich mit Lytton getroffen, als sie beide noch jung waren), läuft weiter zum Bedford Square (hier, in der Nr. 44, hatte Ottoline Morrell ihren Salon, in dem vor mehr als 20 Jahren sowohl sie als auch Lytton willkommen waren). Sie ist jetzt nass bis auf die Haut, fängt an zu rennen, in strömendem Regen, zurück zum Russell Square, über den Bedford Way zum Tavistock Square. Es gelingt ihr nicht, unbemerkt ins Haus zu kommen. Leonard hat auf sie gewartet. Er hat sie gesucht, hat sich Sorgen gemacht. Jetzt ist er erleichtert, aber auch wütend: »Wo warst du, Virginia? Weißt du, dass du vergessen hast, in deinem Schlafzimmer die Sturmhaken in die Ösen zu hängen?«
Traum: Gegen einen grauen Himmel, über den zerfetzte Wolken jagen, ragt ein monströses, düsteres Gebäude. Es ist das Haus Lancaster Gate Nr. 69. Ein kleiner Junge in einer blauen Jacke läuft die Stufen rauf und runter, umkreist die Säulen des Eingangsportals und verschwindet im Haus.
14. Januar 1932. Sie fahren nach Ham Spray. Aber es ist zu spät, und als sie ankommen, dürfen sie Lytton nicht sehen. Lyttons jüngerer Bruder James Beaumont teilt Leonard noch unter dem Terrassendach die Entscheidung der Familie mit. Sie gibt vor, sich die Hände waschen zu müssen, geht ins Haus, steigt wie in Trance die ausgetretenen, hölzernen Treppenstufen hoch zum ersten Stock. Je höher sie steigt, desto leiser werden die Stimmen der Männer. Es fällt kein lautes Wort. Kein Widerspruch von Leonard. Kein Protest. Kein Beharren auf ihrem Anliegen. Auf der siebten Stufe versagt ihr linkes Bein. Sie fällt auf die Knie, krabbelt auf allen Vieren weiter, atmet den Staub ein. Oben angekommen, gelingt es ihr, sich aufzurichten. Langsam, Schritt für Schritt, tastet sie sich den schmalen Flur entlang.
James' Worte unter dem Verandadach: Die Familie fürchte, ihr Besuch könne zu anstrengend für Lytton sein. Lytton lasse aber ausrichten, er habe sich über ihr Kommen gefreut. Warum gefreut? Sie sind doch noch da. Sie sind doch gerade erst gekommen. Können das Lyttons Worte gewesen sein, die James ihnen ausgerichtet hat? Sie glaubt nicht daran.
Eine Krankenschwester mit einer gestärkten Haube auf dem Kopf, in der Hand eine in ein Handtuch eingeschlagene Wärmflasche, drängt sich...
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