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Nellie hätte nicht sagen können, was sie geweckt hatte. Doch als sie die Augen aufschlug, stand eine Frau, die ihr weißes Spitzenhochzeitskleid trug, am Fußende ihres Betts und sah auf sie herab.
Sie stieß einen erstickten Schrei aus und griff nach dem Baseballschläger, der an ihrem Nachttisch lehnte. Dann gewöhnten ihre Augen sich an das körnige Dämmerlicht, und ihr wild hämmerndes Herz beruhigte sich ein wenig.
Als Nellie begriff, dass sie in Sicherheit war, entfuhr ihr ein gepresstes Lachen. Die vermeintliche Frau war bloß ihr Hochzeitskleid, das sie gestern, noch in Folie gehüllt, an die Schranktür gehängt hatte, nachdem sie es aus dem Brautmodengeschäft abgeholt hatte. Das Oberteil und der Tellerrock waren mit Seidenpapier ausgestopft, damit sie die Form bewahrten. Nellie sank zurück aufs Kopfkissen. Als ihre Atmung sich wieder normalisiert hatte, sah sie auf den Wecker mit den klobigen blauen Zahlen. Zu früh, wieder einmal.
Sie streckte den Arm nach dem Wecker aus, ehe er losplärren konnte; der Diamantverlobungsring an ihrer linken Hand, ein Geschenk von Richard, fühlte sich schwer und ungewohnt an.
Schon als Kind hatte Nellie nicht leicht einschlafen können. Ihre Mutter hatte keine Geduld für ausgedehnte Einschlafrituale gehabt, doch ihr Vater hatte ihr immer sanft den Rücken massiert und ihr mit dem Finger Sätze aufs Nachthemd geschrieben wie Ich liebe dich oder Du bist etwas ganz Besonderes, und sie hatte versuchen müssen zu erraten, was er da schrieb. Oder er hatte Muster, Kreise, Sterne und Dreiecke gezeichnet - jedenfalls bis ihre Eltern sich scheiden ließen und er auszog. Da war sie neun gewesen. Von nun an lag sie allein in ihrem großen Bett unter ihrer rosa und lila gestreiften Bettdecke und starrte auf den Wasserfleck, der ihre Zimmerdecke verunzierte.
Wenn sie endlich eindöste, schlief sie normalerweise tief und fest, sieben oder acht Stunden lang - so tief und traumlos, dass ihre Mutter sie manchmal regelrecht wach rütteln musste.
Doch das änderte sich schlagartig nach einer gewissen Oktobernacht in ihrem letzten Jahr auf dem College.
Ihre Schlafstörungen verschlimmerten sich rasant. Nun zerstückelten lebhafte Träume, aus denen sie abrupt aufwachte, ihre Nachtruhe. Einmal erzählte eine der Schwestern aus ihrer Studentenverbindung beim Frühstück, Nellie habe nachts irgendetwas Unverständliches geschrien. Sie versuchte, es abzutun: «Die Prüfungen stressen mich. Diese Psycho-Statistik-Klausur soll der Horror sein.» Dann stand sie vom Tisch auf und holte sich eine weitere Tasse Kaffee.
Danach zwang sie sich, die Collegepsychologin aufzusuchen, doch trotz des behutsamen Zuspruchs der Frau konnte Nellie nicht über jenen warmen Herbstabend sprechen, der mit Wodkaflaschen und Heiterkeit begonnen und mit Polizeisirenen und Verzweiflung geendet hatte. Nellie suchte die Therapeutin zweimal auf, doch den dritten Termin sagte sie ab, und von da an ging sie nie wieder zu ihr.
Einiges davon hatte Nellie Richard erzählt, als sie beim Erwachen aus einem ihrer wiederkehrenden Albträume gespürt hatte, wie er die Arme um sie legte, während er ihr mit seiner tiefen Stimme ins Ohr flüsterte: «Ich halte dich, Baby. Bei mir bist du in Sicherheit.» In seinen Armen fühlte sie sich so sicher, wie sie es sich ihr ganzes Leben lang ersehnt hatte, sogar schon vor dem Vorfall. Neben Richard konnte Nellie sich endlich dem verwundbaren Zustand des Tiefschlafs überlassen. Es fühlte sich an, als wäre der unsichere Boden unter ihren Füßen endlich solide geworden.
Gestern Abend jedoch war Nellie allein in ihrer Wohnung im Erdgeschoss des alten Brownstone-Gebäudes gewesen. Richard war geschäftlich in Chicago, und ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Samantha hatte bei ihrem neuen Freund übernachtet. Der Lärm der Stadt war durch die alten Mauern gedrungen: Hupen, hin und wieder Geschrei, Hundegebell . Obwohl die Verbrechensrate in der Upper East Side die niedrigste in ganz Manhattan war, waren die Fenster mit Stahlgittern gesichert, und drei Schlösser verstärkten die Wohnungstür, darunter das dicke, das Nellie nach dem Einzug angebracht hatte. Dennoch hatte sie ein zusätzliches Glas Chardonnay benötigt, um einschlafen zu können.
Nellie rieb sich die verklebten Augen, schälte sich langsam aus dem Bett und zog ihren Frotteebademantel an. Dann betrachtete sie nochmals das Kleid und fragte sich, ob sie versuchen sollte, in ihrem winzigen Kleiderschrank Platz dafür zu schaffen. Doch der Rock war so ausladend. Im Brautmodengeschäft, umgeben von seinen aufgeplusterten, paillettenbestickten Schwestern, war es ihr schlicht und elegant erschienen, wie ein einfacher Haarknoten im Vergleich zu einer aufwendigen Toupierfrisur. Aber neben den Kleiderhaufen und dem billigen IKEA-Regal in ihrem vollgestopften Zimmer erinnerte es mit einem Mal bedenklich an das Gewand einer Disney-Prinzessin.
Doch das ließ sich nicht mehr ändern. Der Hochzeitstermin rückte schnell näher, und jedes Detail war festgelegt, bis hin zum Tortenaufsatz - einer blonden Braut mit ihrem gutaussehenden Bräutigam, in einem perfekten Augenblick erstarrt.
«Meine Güte, die sehen sogar so aus wie ihr zwei», hatte Samantha gesagt, als Nellie ihr ein Foto von den altmodischen Porzellanfigurinen gezeigt hatte, das Richard ihr gemailt hatte. Der Aufsatz hatte seinen Eltern gehört, und nachdem Richard ihr den Antrag gemacht hatte, hatte er das Erbstück aus dem Keller geholt. Sam hatte die Nase gerümpft. «Schon mal auf die Idee gekommen, dass er zu gut ist, um wahr zu sein?»
Richard war sechsunddreißig, neun Jahre älter als Nellie, und ein erfolgreicher Hedgefondsmanager. Er hatte den drahtigen Körper eines Läufers, dunkelblaue Augen und ein unbeschwertes Lächeln, das über seinen eindringlichen Blick hinwegtäuschte.
Bei ihrer ersten Verabredung hatte er sie in ein französisches Restaurant eingeladen und mit dem Sommelier kenntnisreich über weißen Burgunder gesprochen. Bei ihrer zweiten Verabredung an einem verschneiten Samstag hatte er ihr vorher gesagt, sie solle sich warm anziehen, und war dann mit zwei leuchtend grünen Plastikschlitten erschienen. «Ich kenne den besten Hügel im Central Park», hatte er gesagt.
Er hatte eine ausgeblichene Jeans getragen und darin eine ebenso gute Figur gemacht wie in seinen tadellos sitzenden Anzügen.
Als Nellie auf Sams Frage geantwortet hatte: «Das denke ich jeden Tag», war das kein Witz gewesen.
Während sie über die sieben Stufen in die winzige Küchenzeile tappte, unterdrückte sie ein neuerliches Gähnen. Der Linoleumboden unter ihren nackten Füßen war kalt. Sie schaltete die Deckenlampe ein und stellte fest, dass das Honigglas - wieder einmal - völlig verklebt war, nachdem Sam ihren Tee gesüßt hatte. Der zähflüssige Honig war an der Seite herabgesickert und hatte eine bernsteinfarbene Lache gebildet, in der jetzt eine Kakerlake zappelte. Noch nach all den Jahren, die sie mittlerweile in Manhattan lebte, wurde ihr bei diesem Anblick ein wenig übel. Sie schnappte sich eine von Sams schmutzigen Tassen aus der Spüle und stülpte sie über das Insekt. Soll sie sich damit befassen, dachte Nellie. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, und während sie wartete, klappte sie ihren Laptop auf und las ihre E-Mails: Prozente bei Gap; ihre Mutter war anscheinend Vegetarierin geworden und bat Nellie, darauf zu achten, dass es beim Hochzeitsessen eine fleischlose Alternative gab; und eine Benachrichtigung, dass ihre Kreditkartenzahlung fällig war.
Dann schenkte sie sich Kaffee in eine Tasse ein, die mit Herzchen und den Worten Weltbeste Kindergärtnerin verziert war. Sie und Samantha, die ebenfalls als Erzieherin bei Learning Ladder arbeitete, hatten im Küchenschrank ein Dutzend solcher Tassen stehen. Dankbar trank sie einen Schluck Kaffee. Sie hatte heute zehn Frühjahrsbesprechungen mit Eltern ihrer Gruppe von Dreijährigen. Ohne Koffein bestünde die Gefahr, dass sie in der «Ruhe-Ecke» einschlief, dabei musste sie hellwach sein. Als Erstes waren die Porters dran, die erst neulich per Mail beklagt hatten, der Gruppenraum lasse zu wenig Kreativität zu. Sie hatten ihr empfohlen, das große Puppenhaus durch ein Riesen-Tipi zu ersetzen, und einen Link angefügt, wo man eines für 229 Dollar erwerben konnte.
Wenn sie zu Richard zog, würde sie die Porters kaum mehr vermissen als die Kakerlaken, befand Nellie. Sie warf noch einen Blick auf Samanthas Tasse, bekam Gewissensbisse, nahm das Insekt mit einem Papiertuch auf und spülte es in der Toilette hinunter.
Als Nellie gerade die Dusche aufdrehte, klingelte ihr Handy. Sie hüllte sich in ein Handtuch und lief in ihr Zimmer, um das Telefon aus ihrer Handtasche zu holen, doch dort war es nicht. Ständig verlegte sie das Ding. Am Ende wurde sie zwischen den Falten ihrer Bettdecke fündig.
«Hallo?»
Keine Antwort.
Im Display stand «Unbekannte Rufnummer». Gleich darauf erhielt sie eine Mailbox-Benachrichtigung. Sie drückte eine Taste, um die Nachricht abzuhören, vernahm jedoch nur ein schwaches rhythmisches Geräusch. Atem.
Bloß Telefonmarketing, sagte sie sich,...
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