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Sadie
Norman war von Anfang an anders. Es ist, als hätte er bereits bei der Geburt alles gewusst, was er wissen muss, und alles andere wäre nur das Sahnehäubchen. Außerdem hat er mehr Mumm als jeder andere, den ich kenne, und das sage ich nicht nur, weil ich seine Mutter bin. Ich meine, was ist tapferer, als ein klein geratenes Kind, das fast sein ganzes Leben an einer Schuppenflechte leidet, die verdammt wehtut, scheiße aussieht und das trotzdem lächelt. Ein Kind, das sich neben seinen frechen besten Kumpel stellt und versucht, die Leute dazu zu bringen, das Gute in ihm zu erkennen, und nicht aufgibt. Ein Kind, dessen einziger Elternteil es kaum schafft, sich jeden Tag aufzuraffen, in die Welt hinauszugehen, selbst wenn die Welt nur eine winzige Stadt am Arsch von England ist. Und er schafft es trotzdem, sie zu lieben. Sagt mir, wer tapferer ist.
Ich verbringe viel Zeit damit, mir zu wünschen, dass ich besser wäre. Besser kochen könnte, besser putzen, mich besser mit Fremden unterhalten. Und mit Leuten, die ich kenne. Aber meistens wünsche ich mir, ich wäre Norman eine bessere Mutter. Das ist der Gedanke, der im Hintergrund schlummert und regelmäßig aufwacht, um mir einen spitzen Ellbogen in die Rippen zu stoßen, wenn ich mal wieder einen Elternabend verpasse oder vergesse, Schinken fürs Schulbrot zu kaufen, oder wenn Norman die Unterwäsche von gestern tragen muss, weil ich nach der Arbeit sechs Folgen Das perfekte Dinner hintereinander weggeguckt habe, statt Wäsche zu waschen. Und trotzdem nicht richtig kochen kann.
Wenn man alle Augenblicke, in denen ich als Mutter versagt habe, zusammennehmen würde, die verkochten Mahlzeiten und verkrusteten Unterhosen, und daraus eine kuschelige Decke des Nichtwahrhabenwollens stricken, bekäme man eine ziemlich gute Vorstellung davon, wohin mein ganzes Wünschen geführt hat. Nämlich zu nichts.
Trotz mir als Mutter ist Norman gut geraten. Er ist höflich, er ist nett zu alten Leuten und Tieren, er ist gepflegt (trotz seiner armen, geplagten Haut und der gelegentlichen zwei Tage alten Unterhosen, wofür er ja nichts kann), und er ist schlau. Er durchschaut andere schneller als sie ihn, eine ziemlich nützliche Gabe, die er definitiv nicht von mir hat.
Kleiner, schlauer und schuppiger als die anderen zu sein, ist nicht gerade ein Rezept, um Freunde zu gewinnen und sich auf dem Schulhof zu behaupten, aber seit Jax aufgetaucht ist, war Norman versorgt. Und wie Jax immer sagte: Ein wahrer bester Freund ist hundertmal besser als ein ganzer Haufen, der nicht so genau weiß.
Abgesehen von der chronischen Schuppenflechte also ist das Einzige, worum ich mir bei Norman je Sorgen machen musste, sein mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit ungesunder Käsetoast-Konsum (siehe Problem Nummer eins) und seine definitiv ungesunde Angewohnheit, sich Sorgen um andere zu machen. Und mit andere meine ich mich.
Als die Jungs Jax' und Normans Fünfjahresplan erstellten, um mit fünfzehn auf dem Fringe Festival in Edinburgh aufzutreten, waren sie zehn. Was zeigt, wie ernst es ihnen mit der Comedy war. Ich meine, wie viele Zehnjährige mit einem Fünfjahresplan kennen Sie? Ich bin zweiunddreißig, und das Einzige, was ich in Richtung Fünfjahresplan je gemacht habe, ist ein Sofakauf auf Raten. Wenn ich drüber nachdenke, ist dieses Sofa, abgesehen von Norman, die größte Verpflichtung, die ich je eingegangen bin.
Ihr Plan war so haarsträubend, dass ich mir tatsächlich vorstellen konnte, sie würden ihn durchziehen. Denn die Sache ist, trotz ihres jungen Alters und fehlender Qualifikation waren diese Jungs als Comedy-Duo witzig. Ehrlich, richtig nicht-nur-weil-ich-die-Mutter-bin-lustig. Jax' Präsenz, sein Timing, seine Schlagfertigkeit waren für ein Kind seines Alters geradezu unanständig, und Norman, nun Norman besitzt eine gewisse Würde. Er liebt es, wenn ich das sage, als wäre es das größte Kompliment überhaupt. Und vielleicht ist es das. Manchmal sage ich es nur, um ihn zum Lachen zu bringen, weil nichts auf der Welt schöner klingt.
»Norman, darf ich mir erlauben zu sagen, dass deine erstaunliche Würde nur noch von deinem überragend guten Aussehen übertroffen wird?« Oder so was in der Art. Er freut sich immer darüber, selbst wenn es aus heiterem Himmel kommt und ich offensichtlich nur die Zeit überbrücken will, bis es in der Schlange bei der Bank weitergeht oder die weich gekochten Eier fertig sind.
Sobald er alt genug war, um zu sprechen, fand ich Norman immer im Garten, wo er mit sehr ernster Stimme Comedy-Nummern vortrug oder wortgetreu irgendwelche Sketche nachspielte, die er aus dem Fernsehen oder von einer alten DVD meines Vaters kannte. Das ging dann ungefähr so:
»Meine Damen und Herren«, mit einer tiefen Verbeugung in Richtung Hecke und Gartenschlauch. »Darf ich mich . Ihnen vorstellen, Norman Foreman! In meiner exklusiven neuen Show, nur für diesen einen Abend, Würstchen mit Würde. Und jetzt ein paar Fragen, meine Damen und Herren. Ich frage Sie, welchen Monat mögen Bäume am wenigsten? Den Fäll-bruar! Wie nennt man eine falsche Nudel? Im-Pasta! Wie nennt man einen Alligator am Steuer? Einen Navi-gator! Danke. Danke. Vielen Dank!«
Das Problem war nur, dass Norman bei aller Würde und trotz seines guten Aussehens, egal wie viel er übte und wie sehr er den Comedians alter Schule nacheiferte, die Kunst des Timings nie so richtig in den Griff bekam. Die Gags kamen an, jede Pointe wurde geliefert, aber sie fuhr immer einen Tick zu früh oder zu spät in den Bahnhof ein oder stand am falschen Gleis oder erfasste einen Pendler.
Erst als er sich mit Jax verbündete, konnte er seine Ernsthaftigkeit perfektionieren, um den Stichwortgeber für die Selbstdarstellung seines furchtlosen Kumpans zu geben. Sie erinnerten an Abbott und Costello in jungen Jahren, an The Two Ronnies oder, ihr Lieblingsvergleich, Reeves und Mortimer. Das perfekte Comedy-Duo. Wenigstens für ihr dankbares Publikum, mich und die Hecke.
Lehrer, Klassenkameraden und selbst Jax' Eltern verstanden nicht, was Jax und Norman aneinander fanden, und sagten das auch bei jeder Gelegenheit. Vermutlich, um Norman vor einem Dasein als Kleinkrimineller zu bewahren, das Jax nach allgemeiner Überzeugung bevorstand. Doch ich verstand es. Denn indem er Jax mit seinen Comedy-Helden bekannt machte, eröffnete Norman dem Jungen eine Möglichkeit, seine ganze Energie, seine große Klappe und das kleine bisschen geniale Bösartigkeit in ihm zu kanalisieren.
Norman gab Jax Comedy, und Jax gab Norman den besten Freund, den er nie gehabt hatte. Und oh, ich liebte ihn dafür. Es war für beide Seiten ein guter Deal.
Ich weiß alles über Norman, was es zu wissen gibt. Von jedem Schorf, jeder Schuppe, die je seine geschundene Haut geplagt hat, bis zu der Falte, die auf seiner Stirn erscheint, wenn er lächelt, und der anderen, die sich bildet, wenn er finster dreinblickt. Wenn seine Schuppenflechte besonders schlimm wütet, richtet Letztere sich dort gemütlich ein. Ich weiß, dass seine linke Augenbraue buschiger ist als die rechte und dass seine Ohren wackeln, wenn er kaut. Obwohl ich ihm das nie gesagt habe, denn, seien wir ehrlich, es gibt schon genug, womit der Junge sich rumschlagen muss.
Doch nach Jax' Tod stutzte ich immer, wenn ich den Fremden auf dem Sofa sitzen sah, der auf den toten Fernsehbildschirm starrte. Oder im Bad stand und sich die Zähne putzte. Oder im Vorbeigehen einen Blick auf das Loch in der Wand warf. Nichts an Norman war so wie die ganzen zwölf Jahre zuvor. Er war auch bedächtiger als vorher, als spielte er seine Rolle in jeder Szene so, wie er dachte, dass ich es gern hätte. Nur um mich glauben zu machen, dass er noch unter den Lebenden weilte und sich nicht danach sehnte, mit seinem besten Freund woanders zu weilen, unter den Nicht-mehr-Lebenden.
Doch sooft er mir auch versicherte, alles sei in Ordnung, ich wusste, davon war Norman so weit entfernt, dass man eine dreitägige Wanderung gebraucht hätte, um in Ordnung gerade noch von hinten um die Ecke huschen zu sehen. Er schlief sogar anders. Er hatte immer die Angewohnheit gehabt, die Decke um seine Beine zu wickeln, wenn er im Bett las, als versuchte er, so tief in die Geschichte einzutauchen wie möglich. Jeden Abend, nachdem er eingeschlafen war, schlich ich in sein Zimmer, machte das Licht aus, nahm ihm das Buch aus der Hand, das er gerade las, und entwirrte die Decke. Als er noch kleiner war, konnte er sich nie vorstellen, wie ich das schaffte, ohne ihn zu wecken, und war überzeugt, es sei das Werk irgendwelcher Aliens.
Um zu beweisen, dass ich es war, nahm ich einen meiner Lippenstifte und malte ihm jeden Abend ein kleines rotes Kuss-X auf die Stirn, während er schlief. Am Morgen lief Norman zum Badezimmerspiegel, um nachzusehen, und stieß ein halb erfreutes, halb enttäuschtes fünf-, sieben- oder achtjähriges Quietschen aus.
»Ich hab nichts gefühlt, Mum!«, sagte er. »Nichts, nada, niente, nyet! Wie hast du das gemacht?« Doch auch als er älter wurde und ich den Kuss wegließ (und, wenn ich es recht überlege, auch das Tragen von Lippenstift), war er immer noch fasziniert davon, wie tief er schlief. Einmal fragte er mich, ob ich glaube, dass es sich so anfühlt, tot zu sein.
»Als würde man einschlafen, und eines Tages fühlt man einfach nie wieder was? Was glaubst du, Mum?«
In dem Anti-Erziehungsratgeber, den ich vielleicht eines Tages schreibe, müsste stehen, dass ich Norman zum Tod nie eine befriedigende Antwort geben konnte, weil ich, ehrlich gesagt, selbst nicht weiß, wie ich dazu stehe. Man sollte denken, nachdem meine Eltern beide gestorben sind, bevor ich zwanzig war, hätte ich...
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