Schweitzer Fachinformationen
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Fortsetzung 2
Adrian Crusher, der Personalberater, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, arrangierte in einer kleinen Galerie in Mayfair, die einem gewissen Harry Stowell gehörte, ein Vorstellungsgespräch für mich. Am fraglichen Tag trug ich einen grünen Krawattenschal mit Paisleymuster und achtete darauf, dass meine Schuhe auf Hochglanz poliert waren. Ich wollte einen guten Eindruck machen und Mr Crusher nicht blamieren.
Ehrlich gesagt war die erste Begegnung mit Harry ein wenig irritierend, da sich schwer erkennen ließ, ob ich es mit einem femininen Mann oder mit einer maskulinen Frau zu tun hatte. Die Stimme klang nicht eindeutig, und immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich meinem Gegenüber auf den Hals starrte, um die Größe des Adamsapfels einzuschätzen. Erst nachdem wir Arbeitsbedingungen vereinbart und Harry mir eine Visitenkarte überreicht hatte, wurde mir klar, dass ich mit einer Frau gesprochen hatte.
Harriet Stowell war beinah knabenhaft schlank und trug Tweedanzüge, weiße Hemden und farbenfrohe Krawatten. Ihre Haare waren kurz geschnitten - kürzer als meine sogar - und orange gefärbt. Sie war Mitte dreißig und hatte die Galerie von ihrem Onkel, einem Ölmaler, geerbt.
Harriet selbst bevorzugte als Medium Teeröl, das sie gelegentlich mit Asphalt kombinierte, und ihren Stil bezeichnete sie als »Industrienaturalismus«. Seltsamerweise - wenn man das dadurch heraufbeschworene Bild bedenkt - malte sie ausschließlich Landschaften, die zwar interessant wirkten, wegen ihres strengen Geruchs aber größtenteils unverkauft blieben. Sie hängte sie in die obere Etage der Galerie, die wirklich lukrativen Bilder - Werke etablierterer und konventionellerer Künstler - stellte sie im Erdgeschoss aus.
Später erzählte mir Harriet, sie habe mich auf Anhieb sympathisch gefunden. Ihr hatte meine Stimme gefallen und mein Krawattenschal, und sie war sehr angetan von meinen Wangenknochen. Besonders gefiel ihr mein Name, und obwohl ich ihr sagte, dass ich lieber Rod genannt werde, bestand sie darauf, mich mit Herod anzusprechen und mich anderen auch so vorzustellen.
Am meisten beeindruckte sie vermutlich jedoch meine Bereitschaft, praktisch umsonst in der Galerie zu arbeiten und Gehaltskürzungen hinzunehmen, wann immer das Geschäft schleppend lief oder sich die Rechnungen stapelten.
»Schade, dass es nicht mehr von Ihrer Sorte gibt, Herod«, hatte sie gesagt. »Dann hätten Galeristen es besser in der Welt.«
Ich arbeitete gern für Harriet und habe schöne Erinnerungen an meine Zeit in der Galerie. Meine Aufgaben waren leicht, nie anstrengender als das Auf- und Abhängen von Gemälden, und meistens saß ich in einem Sessel und las.
Zwei Tage die Woche verbrachte Harriet im heimischen Atelier, an anderen Tagen besuchte sie Künstler, um deren Vertretung zu regeln. In diesen Zeiten besetzte ich die Galerie allein, ging ans Telefon und empfing kauf?interessierte Kunden. Zu den Gemälden, die sie in Augenschein nahmen, wusste ich wenig zu sagen, selbst wenn ich mit ihnen etwas anfangen konnte, aber das schien niemanden zu stören. Die Kunden hatten ihre eigene Meinung, und ich stimmte ihnen gern in allem zu. Hin und wieder kauf?te jemand ein Bild, und dann erhielt ich eine kleine Provision, aber die meisten Verkäufe wurden auf Abendveranstaltungen getätigt, bei denen ein einzelner Künstler gefeiert oder eine neue Sammlung eröffnet wurde.
Hatten mein Krawattenschal und meine Schuhe Harry imponiert, so schätzte sie das Dazwischen - also im Wesentlichen meine übrige Garderobe - weniger. Ich trug damals mit Vorliebe marineblaue Blazer und graue Flanellhosen, die Harry zu bieder fand. Es sei entscheidend, dass ich meiner Rolle gemäß aussehe, sagte sie, und eine Woche darauf fuhr sie mit mir nach Whitechapel zur Werkstatt ihres Lieblingsschneiders, einem Mann, der sich One-Take Malone nannte und den man, wäre man ihm auf der Straße begegnet, für einen Landstreicher gehalten hätte.
Er war klein und krumm, seine Kleider alt und schäbig: die Hose an den Taschen gerissen und die zerschlissene Weste voll blauer Kreidespuren. Um den Hals hing ihm ein verblasstes Maßband, zwischen den Lippen klemmten Stecknadeln, und auf der Nase hatte er einen Kneifer mit runden Gläsern. Am auf?fallendsten - und merkwürdigsten - aber war die Pickelhaube aus dem deutschen Kaiserreich, die er auf dem Kopf trug.
Mr Malone war kein Freund von Small Talk und sprach nicht gern über seinen Helm. Er musterte mich eingehend, ging langsam im Kreis um mich herum und erklärte mich dann zu Konfektionsgröße 48, so als sei er irgendwie enttäuscht. Anschließend nahm er das Band vom Hals und vermaß in der nächsten Viertelstunde jeden Teil meines Körpers, wobei er die ermittelten Werte minutiös auf einem Zettel notierte, den er aus seiner Westentasche gezogen hatte.
Harry erklärte, dies sei das erste und einzige Mal, dass Mr Malone bei mir Maß nehme: the One Take!
»Ja, Crispin ist brillant«, sagte sie, als sie meine hochgezogenen Brauen bemerkte.
Crispin war erstaunlicherweise Mr Malones Vorname, dabei sah er kein bisschen wie die Crispins aus, die ich kannte.
Obwohl an jenem Tag angeblich ich der Kunde war - derjenige, der für die Kleidung zahlte, wie auch ihr künftiger Träger -, hatte ich wenig mitzureden: Die Stoffe suchte Harry aus, und Crispin bestimmte den Schnitt. Da ich keine Erfahrung im Kleiderkauf hatte und immer noch alte Hosen und Jacken von Solomon trug, war ich deswegen aber nicht allzu besorgt.
Rückblickend halte ich meine Passivität allerdings für einen Fehler, denn als ich die Sachen einen Monat später bei Mr Malone abholte, steckte ich in den gleichen Tweed- und Cordanzügen, die Harry so gern trug. Ich sage nicht, dass sie mir nicht gefielen, das taten sie - vor allem die halbmondförmigen Knöpfe aus Leder -, aber unser täglicher Partnerlook stif?tete Verwirrung und sorgte regelmäßig für peinliche Momente, wenn ein Kunde uns mal wieder für Geschwister oder ein Liebespaar hielt.
Bei einer dieser Gelegenheiten, einer Abendveranstaltung, hörte ich deutlich, wie ein Mann uns »die zwei Lesben« nannte! Wenn ich lesbisch gewesen wäre, hätte mich das nicht gestört, aber das war ich nun mal nicht und Harry übrigens auch nicht, falls Sie sich gefragt haben - in der kurzen Zeit, in der ich sie kannte, hatte sie einen festen Freund nach dem anderen.
Ich weiß, hier wird Ric Einwand erheben und sagen, ich widerspräche mir: »Wie kann man einen festen Freund nach dem anderen haben, Rod? Das ist einfach unlogisch.«
Wenn Sie Harry gekannt hätten, würden Sie verstehen, was ich meine. Ich hätte sie niemals als promiskuitiv bezeichnet, auch wenn andere das sicher taten - sie hatte nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und langweilte sich schnell. Jede Spanne war aber so aufrichtig und intensiv wie die davor oder die danach. Vielleicht hat sie sich zu leicht verliebt - das wurde mir auch schon vorgeworfen -, aber genauso leicht eben wieder entliebt, ein Vergehen, dessen man mich nicht beschuldigen kann. Von mir kann man sogar dann noch behaupten, dass es für mich nur die Eine gibt, wenn die Eine schon längst über alle Berge ist, jedenfalls war das bei Avril Longmire so.
Der Grund für meine Suche nach einer Anstellung war, wie ich Mr Crusher erklärt hatte, der Wunsch, meinen Bekanntenkreis zu erweitern, aber insgeheim hoff?te ich auch, eine Freundin zu finden, und genau das geschah, als ich in der Galerie anfing.
Da ich meine prägenden Jahre an einer reinen Jungenschule und in ebenso männlich dominierten Abteilungen von Pinkney Industries verbracht hatte, besaß ich wenig Erfahrung im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Frauen waren mir ein Rätsel, begehrenswert, aber unerreichbar, und ich wusste nicht, worüber ich mit ihnen reden oder wie ich mich zu ihnen verhalten sollte.
Mit Miss Wimpole oder Trudy Barnes zu sprechen war kein Problem gewesen, schließlich hatte ich allen Grund dazu gehabt, außerdem war Miss Wimpole alt und Trudy verheiratet, daher gab es keinen Raum für Zweideutigkeiten oder Hintergedanken. Ohne triftigen Grund mit einer Frau zu reden, einfach nur um sie persönlich näher kennenzulernen, machte mich dagegen nervös, und falls ich ein interessanter Mensch war - wie ich tief im Herzen glaubte -, kam es in der Unterhaltung nie rüber.
Durch die Arbeit in der Galerie und die Gespräche mit Harry und ihren Freunden, mit Galeriebesuchern und Veranstaltungsgästen änderte sich das. Ohne es zu merken, wurde ich reifer und unterhielt mich schon bald genauso unbekümmert mit Frauen meines Alters wie früher mit Trevor, allerdings nicht über Snooker.
Hilfreich war auch, dass ich oft Komplimente für mein Aussehen bekam, über das ich mir vorher nie Gedanken gemacht hatte, vor allem weil mein Vater mir pausenlos eingeredet hatte, ich hätte ein dickes Gesicht. Wahrscheinlich lag es am Selbstbewusstsein, daran, dass ich mich zunehmend wohlfühlte in meiner Haut, und das verdanke ich großenteils Harry.
Harry behandelte mich eher wie einen Freund als wie einen Angestellten und lud mich ausdrücklich zu jedem ihrer Dinner und jeder ihrer Partys ein. Sie sah in mir den Naivling, einen vermögenden jungen Mann, dem es an ausreichend Erfahrung in gesellschaftlichem Umgang fehlte, um ohne Hilfestellung in der Welt der Betuchten zu bestehen....
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