Schweitzer Fachinformationen
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Das angekokelte Fleisch klebte am Rost wie blutiger Efeu an einer Hauswand. Während Anne Capestan den Grill betrachtete, fragte sie sich, wann genau ihr Kommissariat sich in ein Ferienhäuschen verwandelt hatte. Es befand sich in einer Wohnung im fünften Stock der Rue des Innocents, deshalb hatte es noch nie sonderlich offiziell gewirkt, aber die Innenausstattung erreichte mit jedem Jahr eine neue Stufe, und wenn sie nicht aufpasste, stellte irgendwann noch der ein oder die andere hier eins ihrer Zimmerchen auf Airbnb ein.
Capestans Mentor, Commissaire Divisionnaire Philippe Buron, hatte das Kommando Abstellgleis 2012 ins Leben gerufen. Damals hatte er gerade die Leitung über den Quai des Orfèvres übernommen und wollte die Pariser Kriminalpolizei von Störenfrieden, Nichtsnutzen, Faulpelzen, Dummköpfen, Alkoholkranken und Berühmtheiten befreien. Diese Unerwünschten steckte er allesamt in eine Brigade – einen einladenden Mülleimer –, unter dem Befehl von Commissaire Capestan. Sie bekamen weder Waffen noch Fälle noch Anerkennung, und das Kommissariat war ein Spiegel der dort Arbeitenden: eine abgeranzte Klitsche, die niemand in der Präfektur mehr haben wollte. Fleckige Wände, lose Fußleisten, löchriges Parkett, kaputte Fensterscheiben, alles verfiel, alles kapitulierte. Dennoch war es den Ausgestoßenen gelungen, aus diesem Schrott ein paar Siege zu schmieden. Die Mobilisierung der Truppen und der Geldbeutel von Capitaine Eva Rosière hatten die Räumlichkeiten verschönert, in denen sie sich häuslich einrichteten. Kamin, Kronleuchter, Billardtisch, Sofas, Dartscheibe, Liegestühle, Bügelbrett, nicht zu vergessen die von Brigadier Lewitz gebaute Küche, die gute drei Zentimeter in die Tür zur Dachterrasse hineinragte: Hier passte nichts zusammen, alles kam von Herzen oder aus dem Keller.
Capestan suchte zwei Minuten lang unter dem Grill und dem Fermob-Tisch, ehe sie den Kopf in die Wohnung steckte und nach dem Brigadier rief.
»Die Kohlen glühen noch! Ich finde den Deckel nicht.«
Ein paar Sekunden später erschien seine hochgewachsene Gestalt in der Küchentür. Er schwenkte eine Tupperschüssel, und die Bewegung übertrug sich auf seine feinen Haare, was ihn aussehen ließ wie einen Geier mit Halskrause auf einem Besenstiel.
»Wir brauchen keinen Deckel, solange wir noch Würstchen haben.« Er grinste wie ein Lausbub, der, falls nötig, auch alles abfackeln würde.
Lewitz war vor zehn Jahren aufs Abstellgleis geschoben worden, weil er Autos zu sehr liebte. Man hätte meinen können, er wäre nur wegen des süßen Sirenenklangs und der freien Fahrt dank Blaulicht zur Polizei gegangen. Trunken vor Freude und Geschwindigkeit raste er gegen Bäume, Schaufenster und Straßenlaternen, bis er den halben Fuhrpark seines damaligen Polizeireviers zerstört hatte. Deshalb schlugen seine Vorgesetzten ihn prompt für die verfemte Brigade vor, wo er zahlreiche andere, ebenso unerwiderte Leidenschaften entwickelte, unter anderem Heimwerken, Aquarellmalerei und zuletzt das Grillen. Hyperaktiv reihte er eine Marotte an die nächste, raffte Wissen zusammen, als jagte er unentwegt einer niemals glänzenden Medaille nach.
»Oooh nein. Fünfzehn Uhr, die Mittagspause ist vorbei«, erklärte Commissaire Capestan, als plötzlich eine Benachrichtigung auf ihrem Handy aufploppte.
Seit ein paar Wochen schon verfolgte sie das »Needle Spiking«-Phänomen. Die Spritzenattacken häuften sich gerade in ganz Frankreich, und irgendetwas daran weckte ein seltsames Gefühl bei ihr, die Vorahnung einer Eskalation.
Soeben war ein neuer Artikel darüber in Le Monde erschienen.
»Needle Spiking«: Das ist bisher bekannt
Hunderte Anzeigen, aber keine nachweisbaren toxischen Substanzen: Bis zum 16. Juni wurden in Frankreich über 800 Anzeigen und 1098 Zeugenaussagen verzeichnet. Doch noch finden die Ermittlungsbehörden keine stichhaltigen Beweise.
Von Le Monde, AFP. 22. Juni 2022, 15:03 Uhr.
In den sozialen Netzwerken und der Presse mehren sich seit einigen Monaten die Berichte Betroffener. Die zahlreichen Vorfälle und Anzeigen in ganz Frankreich verleihen dem Phänomen »Needle Spiking« nationale Tragweite.
Der Ablauf ist immer gleich: Nach einem Konzert, Festival, Bar- oder Clubbesuch werden Einstichstellen am Körper bemerkt. Bei manchen kommt es daraufhin zu Schwindelanfällen, Übelkeit oder Unwohlsein, bei anderen herrscht nur Verunsicherung. […]
Die Generaldirektion der Police nationale spricht in einem Bericht vom 7. Juni von einem »Modus Operandi«, der nicht zwischen Männern und Frauen unterscheidet. Die Einstiche befänden sich an »Arm, Gesäß, Rücken«, die Angreifer würden nicht gesehen. […]
Toxikologische Untersuchungen negativ
Das Rauschgiftdezernat führt aktuell die »Sachverhalte und qualitativen Tatbestandsmerkmale« zusammen. Bislang haben die Untersuchungen »keinerlei Spuren von GHB«, den sogenannten K.-o.-Tropfen, ergeben, und die Opfer berichten nicht von sexuellen Übergriffen oder Diebstählen nach der Nadelattacke.
Mögliche Erklärungsansätze
Der zeitliche Abstand erschwert den Nachweis von Betäubungsmitteln. Manche Substanzen, darunter auch GHB, werden innerhalb weniger Stunden abgebaut. […]
Eine andere Hypothese: Die injizierten Substanzen sind bereits natürlich im menschlichen Körper vorhanden, wie beispielsweise Insulin oder Adrenalin. Deshalb bleiben sie bei den Untersuchungen unbemerkt.
Ein Link führte zu einem weiteren Artikel, der daran erinnerte, dass diese Attacken ihren Ursprung nicht im Hier und Jetzt hatten; die »Stecher« trieben schon in den Zweitausendern ihr Unwesen, ja, sogar im neunzehnten Jahrhundert – damals noch mit Nähnadel, Pfriem oder Stockdegen. Auch Kanada war in jüngerer Zeit von einem ähnlichen Schrecken heimgesucht worden, der nie aufgeklärt wurde.
Kurzum, man wusste gar nichts. Man konnte nur warten, auf eine Pause oder das Schlimmste.
Der dumpfe Klang der zufallenden Kühlschranktür riss Anne Capestan von ihrem Display los. Lewitz hatte den Grill zugedeckt und seine Tupperschüssel zurückgeräumt. Mit einem Kopfnicken dankte sie dem Brigadier und steckte ihr Handy weg, ehe sie sich auf einen Hocker setzte, den Rücken an die sonnenwarme Wand lehnte und die nackten Füße auf einen Sack Holzkohle bettete. Seit einer Weile zogen sie im Kommissariat die Schuhe aus. Auf Capestans Wunsch hin, deren Sauberkeitsbedürfnis sich nach der Geburt ihrer Töchter und den darauffolgenden Krankheiten in Besessenheit verwandelt hatte, stellten sich alle ein Paar Pantoffeln vor die Tür, damit keine Mikrobe des schmutzigen Pariser Kopfsteinpflasters mehr das gewachste Parkett der Brigade befleckte. Zum Glück empfingen sie nur wenig Besuch und führten selten Vernehmungen vor Ort durch, denn der letzte Zeuge hatte sich direkt schikaniert gefühlt, als Lewitz ihn bat, seine Sneaker auszuziehen.
Die Terrasse schien mitten im Himmel zu liegen. Capestan hob das Gesicht und ließ sich ein paar Sekunden lang von der endlosen Weite tragen, ihr Blick trieb frei dahin, ohne dass er gegen das nächste Gebäude prallte. Der Lärm des Platzes fünf Stockwerke tiefer drang nur in Wellen herauf, und gerade hätte man sich in einer Flaute wähnen können. Langsam setzte der gelesene Zeitungsartikel die Rädchen in ihrem Kopf in Bewegung.
Hunderte Delikte, aber null Verdächtige, kaum Spuren, kein Motiv. Und die Panik, die sich wie ein Ölfilm ausbreitete. Was würden die schrägen Vögel aus einer solchen Akte machen? Capestan war gerade im Begriff, eine Theorie aufzustellen, als sich im Wohnzimmer die Stimme von Capitaine Rosière erhob.
»Warum hält dieses Scheißgebamsel denn nicht? Wie soll das Ding schick aussehen, wenn die Spitze einen auf Schlappschwanz macht?«
Sie stampfte über die Küchenfliesen und baute sich in der Terrassentür auf. Ihre Fledermausärmel aus pinker Seide bauschten sich wie Blütenkelche unter den aufgebrachten Bewegungen ihrer üppigen Arme. Wie um Capestan zur Zeugin des erlittenen Übels zu nehmen, schwenkte Rosière den Gegenstand ihres Zorns, einen Lampenschirm mit zarten Blumen, dessen Saum sich bereits zwei Zentimeter weit aufgelöst hatte.
»Dafür habe ich eine Stange Geld bezahlt. Von wegen gemütlich!«
Sie verdrehte die grünen, dick mit Mascara umrahmten Augen, und ihre prächtigen roten Haare spiegelten sich schillernd in der Scheibe. Ihr Hund Pilou, eine Promenadenmischung in Trethupengröße mit scharfen Ohren, rieb sich knapp über den Hausschuhen seines Frauchens das Zottelfell. Mit stolzgeschwellter Brust und erhobener Schnauze schnupperte er die letzten Merguezfahnen.
Eva Rosière war erfolgreiche Romanautorin, umjubelte Drehbuchschreiberin und gescheiterte Regisseurin. Ihr erster Film kam fünf Tage nach den Terroranschlägen ins Kino, der zweite kurz nach dem Lockdown. Das unglücklichste Timing überhaupt. Seitdem traktierte sie Lieutenant José Torrez mit scheelen Blicken, den Unglücksraben der Kriminalpolizei, den man aufs Abstellgleis geschoben hatte, weil gerade kein Scheiterhaufen zur Verfügung stand. Dank ihres Vermögens hätte Rosière ihre Stelle natürlich längst an den Nagel hängen können, doch die fehlende Inspiration und die Einsamkeit im Lockdown hatten sie in den warmen Schoß der Brigade zurückgetrieben.
»Na schön, ich mach dann mal weiter«, rief Lewitz, hängte seine Schürze an die Wand und eilte davon.
Commissaire Capestan hob die Augenbrauen und schaute ihre Kollegin fragend an.
Die erklärte: »Weil wir...
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