Schweitzer Fachinformationen
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Dat wärrt nix! Gaar nix wärrt dat! Partuu nix!«
August Wilke stand am Giebelfenster seiner Kate und starrte gen Norden, die Miene so grimmig und grollend, als wollte er sich mit dem Sturm einen Wettstreit liefern. Das rasch vorbeiziehende grauschwarze Gewölk ärgerte ihn zutiefst. Die Heftigkeit, mit der die Böen an Dachpfannen und Fensterläden rüttelten. Nichts, rein gar nichts deutete an, dass sich das Unwetter in den nächsten Stunden legen könnte. Und weiter im Osten? Beim Granitzer Forst? Vielleicht tat sich da ja was? Er öffnete das Fenster, der Wind fuhr ihm ins Gesicht, und was er sah, enttäuschte ihn noch mehr. Auch über den sturmgepeitschten Wipfeln der alten Buchen zeigte sich der Himmel unbarmherzig- ohne Hoffnung auf eine noch so schmale Wolkenlücke.
August zog den Kopf ein und schloss den Riegel. Mit der nässeschweren Luft hatte der Wind einen Wirbel von Buchenblättern hereingeweht, die nun auf die Bodendielen trudelten. Seine Finger glitten durch die angegraute Schifferkrause, von einem Ohr zum anderen am Kinn entlang zog sich der Seefahrerbart. Dabei war er- anders als seine Väter und Vorväter- kein Fischer geworden, sondern Zimmermann. Er hatte den Dachstuhl mit erbaut, auf dem an diesem Abend die Richtkrone prangen sollte.
»Dat wärrt nix!«, stieß er hervor, diesmal so laut und donnernd, dass Emmy unten in der Küche die Augen rollte.
Seit bald dreißig Jahren teilten sie Tisch und Bett, und Emmy ließ ihrem August einiges durchgehen, aber nicht, sich derart heftig über etwas so Unveränderliches wie das Wetter aufzuregen. Sie eilte in den Flur.
»Gus!«, rief sie die Stiege hinauf. »Ob das mit dem Feiern draußen was wird, das wissen wir noch nicht. Geh raus und guck übers Meer. Vielleicht tut sich da schon was am Himmel.«
»Zu nass!«, kam harsch die Antwort.
Emmy liebte ihn aus tiefster Seele, doch sie liebte es auch, in Ruhe zu kochen. Einen knurrigen Ehemann im Haus konnte sie nicht brauchen, nicht so kurz vor dem Mittagessen, und schon gar nicht sechs Stunden vor einem großen Fest.
»Geh vor die Tür, Gus. Kurier deine Laune. Der Regen hat fast aufgehört, und der Sturm haut dich schon nicht um.«
Er stöhnte auf, sie hatte ja recht: Das Wetter kam, wie es kam, und er sollte besser seinen Zorn kühlen. Eine Runde an der frischen Luft täte ihm gut. Seufzend sammelte er die Buchenblätter vom Dielenboden und ging die schmale Treppe hinunter.
Emmy werkelte am Herd, neben sich eine Schüssel voll gelber und grüner Dörrerbsen, die sie über Nacht gewässert hatte. Mit dem Schürhaken hob sie ein paar Ringe aus der Eisenplatte, stellte einen Topf auf die Öffnung und ließ zwei Stiche Schweineschmalz flüssig werden. Gewürfelte Zwiebeln und Bauchspeck zum Anbraten standen schon bereit- die Grundlage von jedem deftigen Eintopf.
August gab die Buchenblätter zum Kompost und küsste seine Emmy auf die Wange.
»Ik luuf 'n beeten. Lütte Stunn.«
Sie nickte. Warmer Schweineschmalzduft stieg ihr in die Nase, mit einem Arm wischte sie sich die Stirn und löste eine Strähne aus dem hellbraunen Haar, das sie nach hinten gestrafft und zum Dutt gesteckt hatte.
»Tu das, mein Brausebart. Geih tau dien Buustell. De Ärvtensupp haalt ik uns waarm.«
Gus Wilke sien Buustell. Der Ausdruck hatte sich eingebrannt bei den Binzer Handwerkern. Dabei war es streng genommen nicht Augusts Baustelle, sondern die seines Schwiegersohns Konrad, oder noch genauer: Die Baustelle von Konrads Vater Justus. Doch seit dem ersten Spatenstich hatte August hier jeden Tag nach dem Rechten gesehen.
Er wandte sich zur Tür. »Und wenn ich nicht pünktlich zurück bin, dann bist du schuld. Dann liege ich mausetot im Wald. Im Sturm vom Ast erschlagen.«
»Gut«, Emmy rührte weiter. »Wenn das so ist, esse ich eben allein.«
Dass er sie noch auf die andere Wange küsste, ertrug sie mit Langmut. Endlich verließ er die Küche.
Im Flur hing seine dunkelgrüne Wachsjacke, vor mehr als zwanzig Jahren hatte er sie sich von einem Berufskameraden aus dem fernen England mitbringen lassen. August war mit dem Alter fülliger geworden, in der Jacke fiel ihm das Bücken schwer, die Knöpfe schloss er immer erst, wenn er seine Schuhe angezogen hatte.
Die Fischerkate hatte er von seinen Eltern geerbt und sich liebevoll darum gekümmert. Hier hatte er seine frisch angetraute Emmy über die Schwelle getragen, ins eigens geschreinerte Ehebett, hier brachte sie die erstgeborene Henriette und die ein Jahr jüngere Paula zur Welt. Sie hätten gern weitere Kinder gehabt, wohl auch einen Sohn. Doch der war den Wilkes nicht beschieden, und so setzten sie alles daran, den Töchtern die beste Grundlage für ihr Leben mitzugeben.
Sobald die beiden ein gewisses Alter erreicht hatten, erweiterte August die Kate um eine Schlafstube für sich und Emmy, und die Töchter bekamen das Giebelzimmer als eigenes kleines Reich. An der nördlichen Hausseite hatte er zudem einen Windfang gezimmert, mit einer bequemen Bank und Gestellen für das Schuhwerk der Familie.
An diesem Sonnabend, man schrieb den 8. September 1894, stieg August in seine Wasserstiefel und nickte dem mannshohen Holzneptun zu, der zwischen Haustür und Schuhbank seine Stellung innehielt. Vor bald hundert Jahren hatte Augusts Urgroßvater ihn aus einem Lindenstamm geschnitzt, seitdem tat der Neptun seinen Dienst als Galionsfigur des kleinen Hauses. Ein wahrhaft stolzer Meeresgott mit wirrem Haar und wachem Blick, den Dreizack aus blankem Eisen fest in der Hand. Wie es sich für einen Wilke gehörte, trug der Neptun ebenfalls eine Schifferkrause von einem Ohr zum anderen. Die Familie hielt ihn in Ehren. Alle paar Lenze schenkten sie ihm eine neue Lackierung. Vor einigen Wochen hatte August die Fensterläden, die Stiege und die Küchenstühle leuchtend blau nachgestrichen, und es war gerade genug Farbe übrig geblieben, um dem Meeresgott die Augen und den fischartigen Unterleib aufzuhübschen.
»Tachschön, mien Jung«, von schräg unten warf August ihm einen klagenden Blick zu. »Wat wärrt mit'm Wädder? Wat seggst?«
Der Neptun gab keine Antwort. August nahm es ihm nicht übel, schloss die Knöpfe der engen Jacke und zurrte die Kapuze um seine fleischigen Wangen. Dann trat er vor die Tür. Er hatte einen starken Wind erwartet, doch auf Händen und Gesicht spürte er bloß eine angenehme Brise. Die nasse, frische Luft machte das Atmen leicht. Auf den ersten Metern, den Plattenweg entlang durch den Vorgarten, kam er ohne Mühe voran und wollte schon frohlocken: Der Sturm hatte sich offenbar gelegt. Doch August irrte. Kaum erreichte er die Gartenpforte, da traf ihn ein Windstoß so heftig von der Seite, dass er einen Schritt auswich und das kleine Tor erst im zweiten Versuch entriegelte.
»Denn man tau.«
Er schlug den Weg nach Norden ein, stemmte seinen gedrungenen Körper gegen die Böen und schnaufte. Mit jedem Schritt sanken seine Stiefel in den nassen, von Lehmbrocken und kleinem Geröll durchsetzten Sand. Weit war es nicht zur Baustelle, normalerweise keine zehn Minuten. Heute jedoch würde August doppelt so lange brauchen. Immerhin regnete es kaum noch.
Der Sturm entsprang einem Hochdruckgebiet, das seit Tagen brutheiß über dem dänischen Grønsund lag. Doch statt auch Rügen mit Sonne zu verwöhnen, bedachte das Hoch die Insel nur mit seiner grau-nassen Seite: den angrenzenden Unwettern.
August hätte umkehren können zu Emmy und ihrem Erbseneintopf, aber er wollte nicht klein beigeben. Mühevoll stapfte er weiter gegen den Wind an. Der wagenbreite Pfad hier hieß Strandweg, seit einiger Zeit sogar offiziell. Zwar hatte der Weg am östlichen Dorfrand schon immer zum Strand geführt, war jedoch lange ohne amtlichen Namen geblieben. Erst vor Kurzem hatte man verfügt, ihn als Strandweg in das Straßenverzeichnis des Ortes aufzunehmen. Die immer zahlreicher kommenden Kurgäste müssten sich schließlich zurechtfinden.
Nach zweihundert Metern blieb August stehen und schöpfte Atem. Vor ihm lag der Kirchwald, ein Ausläufer der Granitz, der mit einer Breite von zweihundert Metern weit in den Ort hineinreichte. Dieses Forststück hatte August eben bei der Frotzelei mit Emmy gemeint. Hier könnte er von einem Ast erschlagen werden- falls er hindurchginge. Denn es gab auch eine andere Strecke in den Ortskern: vorbei am Schmachter See und dann auf die Wilhelmstraße. Doch das wäre ein Umweg, und nach irgendwelchen Umständlichkeiten stand August nicht der Sinn. Außerdem war es im Wald einigermaßen windstill, und er kannte sich aus. Als Kind hatte er hier als kühner Räuber jeden Gendarmen abgehängt, später seine ersten Zigaretten verpafft und noch viel später zum ersten Mal seine Emmy liebkost.
Augen zu und durch! Er wagte sich in den Kirchwald. Die Augen hielt er allerdings offen, denn die wogenden Baumkronen ließen nur wenig Licht auf den sandigen Waldpfad fallen, und auch wenn ihm der Wald vertraut war wie seine Westentasche, war ihm doch mulmig zumute. Gute zehn Meter über ihm fuhr der Sturm in die Wipfel, ließ selbst die stärksten Äste knarren und knarzen und morsche Zweige brechen. Doch unten auf dem Weg blieb August von jeder Böe verschont. Zwei oder drei Minuten, länger brauchte er nicht, das Forststück zu durchqueren. Kein Ast erschlug ihn, höchstwahrscheinlich würde er in einer knappen Stunde wieder bei seiner Emmy sitzen- und bei ihrem Erbseneintopf. Unverletzt erreichte er die Putbuser Straße und wollte schon in die menschenleere Victoriastraße einbiegen, da näherte sich von hinten eine Kutsche.
Erstaunt blickte August auf. Wer zum Teufel mutete seinem Tier bei diesem Sturm eine Ausfahrt zu? Und welches Pferd ließ sich das gefallen?...
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