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Am Morgen des 24. August 1857 wäre Charles Stetson am liebsten im Bett geblieben. Irgendwann stand er doch auf, zog sich an und polierte mit einem Tuch seine goldene Taschenuhr, bevor er sie am strahlend weißen Wams befestigte. Nachdem er noch einen Staubfussel von seinem Gehrock gewischt hatte, machte er sich auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz, einem hübschen Gebäude mitten in New York. Wenig später war der Zeitpunkt gekommen, den Stetson zu den unangenehmsten Momenten seines Lebens zählen würde. Als Präsident der Ohio Life Insurance and Trust Company musste er eine Erklärung abgeben. Während er von Krämpfen in seiner Magengegend gepeinigt wurde, versuchte Stetson mit versteinerter Miene, möglichst viel Sachlichkeit auszustrahlen. Er teilte der Öffentlichkeit mit, dass das Unternehmen die Zahlungen eingestellt habe.
Die Bedeutung seiner Botschaft war trotz dieser nüchternen Formulierung bei den Journalisten angekommen. Die Daily Gazette aus Cincinnati berichtete am nächsten Tag von einem »Donnerschlag bei heiterem Himmel«. Beim Überfliegen des Artikels verwandelte sich die Gesichtsfarbe vieler Leser vor Entsetzen von aschfahl zu kreidebleich. Das New Yorker Büro der Ohio Life hatte in spekulative Anleihen für Eisenbahngesellschaften investiert, nicht ohne die Hilfe großzügiger Kredite, bewilligt von den Mitarbeitern vieler weiterer New Yorker Banken. Kaum auf der Arbeit angekommen, verlangten diese Mitarbeiter ihre Darlehen von anderen kleineren Banken zurück. Gleichzeitig verkauften Unternehmer und Gläubiger panisch ihre Aktien. Nach kurzer Zeit gingen die nächsten Banken pleite. Die übrigen warteten nervös auf die Fracht des Schaufelraddampfers Central America: Sie umfasste mehrere Tonnen Gold aus den Minen Kaliforniens, mit denen die Reserven der Banken aufgefüllt werden sollten. Zum Entsetzen aller versank das Schiff mit seinen vierhundertsechsundzwanzig Passagieren am 12. September vor der Küste von South Carolina. Grund dafür war ein Hurrikan. Das sehnsüchtig erwartete Gold lag in unerreichbarer Ferne auf dem Meeresgrund.
Fast genau einen Monat später lief eine Gruppe vornehm gekleideter Herren durch New Yorks Straßen. An jeder Hausecke kamen weitere Männer dazu. Der Mob aus Trägern von Gehröcken und Männern mit Koteletten vergrößerte sich auf zwanzigtausend Personen; Bewohner beobachteten aus ihren Fenstern, wie die Reihen aus schwarzen Zylindern gleich einem Lavastrom unaufhaltsam in Richtung Bankenbezirk zogen. Die reichen Herren verlangten von den Bankmitarbeitern ihr Geld zurück, doch diese schlossen erst die Schalter, dann die Eingangstüren. Die Protestierenden wanderten ziellos auf den Straßen herum, manche schimpften vor sich hin, andere stocherten ratlos mit ihren Spazierstöcken in Wertpapieren, die über den Boden flatterten.
Neben den verzweifelten erhoben sich auch optimistische Stimmen. Einige Journalisten fanden beruhigende Worte in ihren Beiträgen: Was in New York passiere, müsse den Westen des Landes nicht aufregen - dort, wo man nicht mit Aktien, sondern mit anständiger Arbeit, nämlich Ackerbau und Viehzucht, sein Geld verdiene, und das so gut, dass die Bauern sogar das vom Krimkrieg gebeutelte Europa mit Weizen belieferten. Doch bereits ein Jahr vor der Bankenkrise erklärte der russische Zar Alexander II. jenen Krieg, den sein Vater begonnen hatte, für verloren. Endlich herrschte Frieden, die französischen und britischen Soldaten kehrten in ihre Heimat zurück, bestellten nun wieder ihre eigenen Äcker. Die Ernte hatte sich gut angelassen, und bald gab es in Europa keinen Bedarf mehr an Getreide aus den USA. Die amerikanischen Bauern blieben auf ihrer überschüssigen Ware sitzen und konnten ihre Kredite nicht zurückzahlen.
Langsam wurden die optimistischen Stimmen verhaltener, die panischen hingegen gewannen an Kraft. Telegrafendrähte übermittelten die Neuigkeiten in rasanter Geschwindigkeit. Zwei Monate nach der Erklärung von Charles Stetson gerieten die ersten Banken in Schottland und England in Zahlungsschwierigkeiten. Bald wurde die Krise auch in Europa zum allgegenwärtigen Gesprächsthema. So setzte sich Karl Marx (1818 - 1883) am 20. Oktober in London beschwingt an seinen Schreibtisch, zückte die Feder und schrieb an Friedrich Engels (1820-1895) in beispielhaft globalisiertem Duktus: »Dear Frederick, . Die amerikanische Krise - von uns in der Novemberrevue 1850 als in New York ausbrechend vorhergesagt - ist beautiful.«
Friedrich Engels, ganz euphorisch, ließ Marx nicht lange auf eine Antwort warten: »Lieber Marx, . Der American crash ist herrlich und noch lange nicht vorbei .«
Während Marx und Engels den Bankenkollaps freudig begrüßten und den endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus kaum erwarten konnten, beobachtete wohl die Mehrheit der Menschheit mit großem Unbehagen, wie die Krise sich allmählich über Kontinente hinweg ausbreitete.
Nach England und Schottland erreichte die Wirtschaftskrise im Winter 1857 Holland, Frankreich und Russland. Die Schweiz, Österreich und Polen gerieten alsbald in denselben Strudel, irgendwann auch Südamerika. Tausende von Unternehmen auf der ganzen Welt gingen in Konkurs. Die Preise für Kolonialprodukte in den Erzeugerländern sanken um fünfzig Prozent. »Die Krisis«, schrieb eine Frankfurter Zeitung, »ist zur Weltfrage geworden.«
Die von Marx und Engels prophezeite und sehnsüchtig erwartete Revolution trat mit der Wirtschaftskrise dennoch nicht ein: weder in den USA noch in Europa oder sonst irgendwo auf der Welt. Rund zwei Monate nach Stetsons Verkündigung öffneten die Angestellten der meisten New Yorker Banken wieder die Schalter und empfingen ihre Kunden - die meisten von ihnen mit Koteletten und Zylindern - so freundlich wie eh und je. Als wäre nie etwas gewesen.
*
Im Jahr 1857 bangt Schliemanns Vater, sicherlich nicht unbegründet, ganz besonders um seinen Sohn, der sich als Kaufmann mittlerweile eine äußerst lukrative Existenz aufgebaut hatte. Seine Sorgen, aber auch seine persönliche Theorie zur Ursache der Krise teilt Ernst Schliemann ihm in einem Brief unverblümt mit: ». einzig und allein nur durch die Einwirkungen des Satans konnte eine solche Zeit kommen, durch die Tausende zu Grunde gerichtet werden! . Möge doch das Dir drohende Ungewitter ruhig vorüberziehen, ohne Dich im mindesten zu beschädigen!«
Schliemann beruhigt in einem Antwortschreiben daraufhin seinen Vater: ». Es ist eine Schreckenszeit im Handel eingetreten und die Crisis stürzt überall die ältesten und stärksten Handelshäuser [in den Ruin] . Durch wunderbare Zufälle . blieb ich bis jetzt Gott sei Dank ziemlich verschont, denn meine Verluste waren bis heute 9 Uhr 58 Minuten morgens verhältnißmäßig klein. . Ich habe das Waarengeschäft schon längst aufgegeben und seit Neujahr nur Bank- und Geldgeschäfte betrieben.«
Dennoch macht Schliemann sich Sorgen. Er will so viel wie möglich von dem Erworbenen retten und sich dann »vom Gewühl des Geschäfts« zurückziehen.
Gleichzeitig spürt er seit der Krise einen Ekel vor seinem Beruf, mit all den spekulativen Geschäften. Bereits viele Monate zuvor, nach dem Ende des Krimkrieges, hatte er begonnen, sich nach und nach aus dem Handel zurückzuziehen und sich dem Bankgeschäft zu widmen. Sobald diese schwere Zeit überstanden ist, will er sich ausschließlich mit der Einnahme von Zinsen begnügen.
Durch die Krise verliert Schliemann etwa vierhunderttausend Rubel, gewinnt dafür mehrere graue Haare. Während er Ersteres als mehrfacher Millionär einigermaßen verkraften kann, findet er Letzteres angesichts seines Alters erschreckend: Immerhin ist er erst sechsunddreißig. In diesen Tagen fühlt er sich so deprimiert wie lange nicht mehr. Morgens fällt es ihm zunehmend schwerer, sich in das Kontor zu begeben. Der einzige Lichtblick ist das allwöchentlich stattfindende Treffen bei ihm zu Hause, zu dem er stets einen auserlesenen Kreis gebildeter Männer einlädt. Schliemann sitzt mit den Professoren dann meist um seinen Kamin im Wohnzimmer. Während das brennende Holz knistert und knackt, halten die Gäste Vorträge zu ihren jeweiligen Fachgebieten. Ihr Gastgeber hört den Professoren mit Genuss zu und beteiligt sich noch lieber am regen Austausch danach. Jene Vorträge, die ihm besonders gut gefallen haben, kann er nach dem Abend aus dem Gedächtnis wiederholen. Die Gespräche mit den Wissenschaftlern beschwingen Schliemann. Zugleich nagen sie innerlich an ihm; meist gerade dann, wenn er im Kontor sitzt und über seinen Warenlisten brütet. Seiner Tante aus Kalkhorst schreibt er während einer dieser frustrierenden Momente, dass er in wissenschaftlicher Hinsicht wohl sein Leben lang ein Stümper bleiben würde.
Im Jahr 1858, fast genau ein Jahr nach der Weltwirtschaftskrise, ist wieder einmal ein trister Abend in St. Petersburg angebrochen, an dem Schliemann ohne Gesellschaft in seinem Arbeitszimmer sitzt und überlegt, wie er die folgenden Stunden sinnvoll nutzen könnte. Da fällt ihm ein, dass...
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