1 - Spiritualität und Spiritual Care [Seite 1]
1.1 - Inhaltsverzeichnis [Seite 7]
1.2 - Geleitwort [Seite 13]
1.3 - Vorwort [Seite 17]
2 - 1. Spiritual Care: Die Wiederentdeckung des ganzen Menschen [Seite 19]
2.1 - 1.1 Kranksein und Sterben in der Moderne [Seite 21]
2.2 - 1.2 Zur Genese von Spiritual Care [Seite 22]
2.3 - 1.3 Spannung zwischen traditioneller Seelsorge und Spiritual Care [Seite 25]
2.4 - 1.4 Spiritual Care fu?r alle? [Seite 26]
2.5 - 1.5 Sterben Gläubige/Spirituelle leichter? [Seite 28]
2.6 - 1.6 Wer ist zuständig fu?r Spiritual Care? [Seite 31]
2.6.1 - 1.6.1 Ausgangsthese: Spiritual Care geht alle an [Seite 31]
2.6.2 - 1.6.2 Verschiedene Kompetenzebenen [Seite 32]
2.6.3 - 1.6.3 Wie erlernt man Spiritual Care? [Seite 34]
2.6.4 - 1.6.4 Spiritual Care ist zuallererst Selbstsorge [Seite 34]
2.6.5 - 1.6.5 Der Tod setzt dem Expertentum eine Grenze [Seite 35]
2.7 - 1.7 Zur Erhebung spiritueller Bedu?rfnisse [Seite 36]
2.8 - 1.8 Ethische Prinzipien und Ziele von Spiritual Care [Seite 37]
2.9 - 1.9 Zur Funktion von Spiritual Care [Seite 39]
2.10 - 1.10 Wu?rde entsteht in Beziehungen [Seite 41]
2.10.1 - 1.10.1 Engfu?hrungen im Wu?rdeverständnis [Seite 41]
2.10.2 - 1.10.2 Wu?rde braucht ein Gegenu?ber [Seite 42]
2.10.3 - 1.10.3 Wu?rde ist unverlierbar [Seite 43]
3 - 2. Spiritualität versus Religion/Religiosität? [Seite 45]
3.1 - 2.1 Alltagsverständnis und aktuelle Begriffsdebatte [Seite 47]
3.1.1 - 2.1.1 Religiös und/oder spirituell oder keins von beiden [Seite 47]
3.1.2 - 2.1.2 Verschiedene Verhältnisbestimmungen von Religion/Religiosität und Spiritualität [Seite 48]
3.1.3 - 2.1.3 Spiritualität: ein offener, aber schwammiger Begriff [Seite 50]
3.2 - 2.2 Was ist Spiritualität? [Seite 51]
3.2.1 - 2.2.1 Spiritualität: Kern jeder religiösen Tradition [Seite 51]
3.2.2 - 2.2.2 Spiritualität: persönliche Religiosität und Mystik [Seite 52]
3.2.3 - 2.2.3 Spiritualität und religiöse Transformationsprozesse [Seite 52]
3.2.4 - 2.2.4 Spiritualität: Demokratisierung mystischer Religiosität [Seite 54]
3.2.5 - 2.2.5 Spiritualität: Gegenbegriff zu Religion? [Seite 55]
3.2.6 - 2.2.6 Spiritualität: traditionelle und moderne Religiosität [Seite 57]
3.3 - 2.3 Gibt es eine nichtreligiöse Spiritualität? [Seite 57]
3.3.1 - 2.3.1 Spiritualität wird meist religiös definiert [Seite 58]
3.3.2 - 2.3.2 Spiritualität mit oder ohne "große" Transzendenz? [Seite 59]
3.4 - 2.4 Moderne oder postmoderne Spiritualität? [Seite 60]
3.5 - 2.5 Spiritualität als Ausdruck moderner Selbstbezogenheit? [Seite 63]
3.5.1 - 2.5.1 Spirituelle Bastelexistenz, Ego-Trip und "Health Shopping" [Seite 64]
3.5.2 - 2.5.2 Eigenverantwortliche Heilssuche und kosmopolitische "Melange-Religiosität" [Seite 65]
3.6 - 2.6 Sind alle Menschen spirituell? [Seite 67]
4 - 3. Christliche Krankenhausseelsorge: ein Spiegel fu?r Spiritual Care? [Seite 69]
4.1 - 3.1 Defizite der Gesundheitsberufe und des Gesundheitssystems [Seite 71]
4.2 - 3.2 Das Krankenhaus heute [Seite 71]
4.3 - 3.3 Kranken-Haus-Seelsorge [Seite 72]
4.4 - 3.4 Professionelle Krankenhausseelsorge [Seite 74]
4.5 - 3.5 KrankenhausseelsorgerInnen: Spezialisten fu?rs Sterben? [Seite 76]
4.6 - 3.6 Das Multioptionsdilemma [Seite 79]
4.7 - 3.7 Die Haltung der Begleitung [Seite 81]
4.8 - 3.8 Spannung Seelsorge - Kirche [Seite 82]
4.9 - 3.9 Seelsorge: die Erinnerung an Selbstsorge und Sorgebeziehungen [Seite 84]
4.10 - 3.10 Die Haltung der offenen Hände und die Kritik am System [Seite 86]
4.11 - 3.11 Von der Seelsorge zur Spiritual Care? [Seite 87]
4.12 - 3.12 Interkulturelle Kompetenz der Krankenhausseelsorge [Seite 92]
4.12.1 - 3.12.1 Interkulturelle Praxis der Sorge [Seite 93]
4.12.2 - 3.12.2 Politische Dimension des Zuhörens [Seite 95]
4.12.3 - 3.12.3 Krankenhausseelsorge praktiziert interkulturelle Kompetenz [Seite 97]
5 - 4. Die Spiritualität der Hospizbewegung [Seite 99]
5.1 - 4.1 Sterben im Wandel [Seite 101]
5.2 - 4.2 Sterben heute [Seite 103]
5.3 - 4.3 Hospizbewegung: christlich motivierte Gastfreundschaft [Seite 105]
5.4 - 4.4 Spiritualität der offenen Tu?ren [Seite 107]
5.5 - 4.5 Von Sterbenden lernen? [Seite 109]
5.6 - 4.6 Zwei Pionierinnen an der Wiege der internationalen Hospizbewegung [Seite 111]
5.7 - 4.7 Konzeptionelle Perspektiven von Hospizarbeit und Palliative Care [Seite 112]
5.8 - 4.8 Hospizliche Haltungen [Seite 113]
5.8.1 - 4.8.1 Von der Wu?rde des Lebens und des Sterbens inspiriert [Seite 114]
5.8.2 - 4.8.2 Von der Individualität des Lebens und Sterbens inspiriert [Seite 114]
5.8.3 - 4.8.3 Vielseitig musikalisch und mehrsprachig [Seite 116]
5.8.4 - 4.8.4 Sich kritisch positionieren [Seite 117]
5.8.5 - 4.8.5 Widerspru?che aushalten [Seite 118]
5.8.6 - 4.8.6 Die Spiritualität der Gabe [Seite 119]
5.8.7 - 4.8.7 Die Spiritualität der "Umsonstigkeit" (Ivan Illich) [Seite 120]
6 - 5. Zwischen Bindung und Loslösung: weibliche und männliche Religiosität/Spiritualität [Seite 123]
6.1 - 5.1 Religiosität/Spiritualität und Geschlecht [Seite 124]
6.2 - 5.2 Sex und Gender: Natur versus Kultur? [Seite 125]
6.3 - 5.3 Die "Geburts- und Todeskompetenz" von Frauen [Seite 126]
6.4 - 5.4 Der Tätigkeitsbereich "care" als Geschlechterfalle [Seite 128]
6.5 - 5.5 Von der beziehungsorientierten Sorge zur autonomen Selbstentsorgung [Seite 129]
6.6 - 5.6 Trauer ist weiblich: Trauer als Aufgabe und Talent von Frauen? [Seite 131]
6.7 - 5.7 Sind Frauen grundsätzlich religiöser/spiritueller als Männer? [Seite 133]
6.8 - 5.8 Wie lässt sich der Geschlechtsunterschied erklären? [Seite 136]
6.9 - 5.9 Kennzeichen einer femininen Religiosität/Spiritualität [Seite 138]
6.10 - 5.10 Spirituelle Bedu?rfnisse kranker und sterbender Frauen und Männer [Seite 141]
7 - 6. Spiritualität als Aufgabe des Alters? [Seite 145]
7.1 - 6.1 "Mythen" u?ber Spiritualität und Alter [Seite 146]
7.1.1 - 6.1.1 Mythos: Spiritualität als Sinnsuche gehört zum Menschsein [Seite 147]
7.1.2 - 6.1.2 Mythos: Religiosität/Spiritualität verläuft in Stufen [Seite 149]
7.1.3 - 6.1.3 Mythos: Religiosität/Spiritualität nimmt im Alter zu [Seite 150]
7.1.4 - 6.1.4 Mythos: Erfolgreiches Altern umfasst die spirituelle Entwicklung [Seite 152]
7.1.5 - 6.1.5 Mythos: Spiritualität ist geschlechtslos oder "altersandrogyn" [Seite 153]
7.1.6 - 6.1.6 Mythos: Zielvision des Alters: das volle menschliche Potenzial entwickeln [Seite 157]
7.2 - 6.2 Alter und Spiritualität in religiösen Traditionen [Seite 160]
7.3 - 6.3 Spiritualität ist keine Aufgabe des Alters [Seite 164]
8 - 7. Werde, der/die du bist: Auf der Suche nach Heilung [Seite 167]
8.1 - 7.1 Heil und Heilung [Seite 169]
8.2 - 7.2 Zerfall von Körper und Seele/Geist [Seite 170]
8.3 - 7.3 Das neue Interesse am "ganzen" Menschen [Seite 172]
8.4 - 7.4 Heilung von Krankheit oder Heilung als Transformationsprozess? [Seite 177]
9 - 8. Schmerz und Leiden: Zugänge zu einer spirituellen Wahrnehmung [Seite 183]
9.1 - 8.1 Die Praxis der Narrativität [Seite 186]
9.2 - 8.2 Befund versus Befinden [Seite 187]
9.3 - 8.3 Das größere Ganze erschließen [Seite 190]
9.4 - 8.4 Der Schmerz ist vielschichtig und vielgesichtig [Seite 191]
9.5 - 8.5 Spiritueller Schmerz und Leiden in der Literatur [Seite 193]
9.6 - 8.6 Der instrumentell-technische Umgang mit Schmerz [Seite 195]
9.7 - 8.7 Der existenziell-spirituelle Umgang mit Schmerz und Leiden [Seite 197]
9.8 - 8.8 Schmerz ist nicht immer zu bekämpfen [Seite 199]
9.9 - 8.9 Der Schmerz der Einsamkeit und Sprachlosigkeit [Seite 201]
9.10 - 8.10 Der Sehnsuchtsschmerz der Liebenden [Seite 203]
9.11 - 8.11 Protest gegen den Schmerz [Seite 205]
9.12 - 8.12 Mit dem Leiden umgehen [Seite 207]
9.13 - 8.13 Leiden und Mitleidenschaft (compathie) in der ju?disch-christlichen Spiritualität [Seite 208]
9.14 - 8.14 Schmerz und Leiden in einer "leidfreien Zukunft"? [Seite 209]
10 - 9. Wohin gehen unsere Toten? Jenseitsvorstellungen und Spiritualität [Seite 211]
10.1 - 9.1 Jenseitsverlust in der Moderne? [Seite 213]
10.2 - 9.2 Der Tod als Übergang: Jenseitsvorstellungen in den Religionen [Seite 216]
10.2.1 - 9.2.1 Wo liegt das Jenseits? [Seite 216]
10.2.2 - 9.2.2 Wie lebt es sich im Jenseits? [Seite 217]
10.2.3 - 9.2.3 Der Tod macht nicht alle gleich [Seite 219]
10.3 - 9.3 Jenseitsreisen und Nahtoderfahrungen [Seite 221]
10.3.1 - 9.3.1 Leben und Tod als Reise [Seite 221]
10.3.2 - 9.3.2 Totengericht und negative Jenseitsvisionen [Seite 223]
10.3.3 - 9.3.3 Zur Funktion von Jenseitsreisen und Nahtoderfahrungen/End-of-Life Experiences [Seite 225]
10.3.4 - 9.3.4 Wie real ist visionäres Erleben? [Seite 228]
10.4 - 9.4 Spirituelle Suchbewegungen [Seite 232]
10.4.1 - 9.4.1 Jenseits und Reinkarnation [Seite 232]
10.4.2 - 9.4.2 Jenseits, Raum und Zeit [Seite 236]
10.4.3 - 9.4.3 Jenseits und Identität [Seite 238]
11 - 10. Totensorge: Solidargemeinschaft zwischen Lebenden und Toten [Seite 243]
11.1 - 10.1 Beziehungen zwischen Diesseits und Jenseits [Seite 245]
11.2 - 10.2 Vorsorge [Seite 246]
11.3 - 10.3 Übergangsriten [Seite 247]
11.4 - 10.4 Facetten der Totensorge [Seite 249]
11.4.1 - 10.4.1 Totenpflege als Frauensache [Seite 249]
11.4.2 - 10.4.2 Von der Totenfrau zum Bestatter [Seite 250]
11.4.3 - 10.4.3 Bestattung: mehr als ein Menschenrecht [Seite 251]
11.4.4 - 10.4.4 Identifikation und Solidarität mit den Toten [Seite 253]
11.4.5 - 10.4.5 Gefährliche Tote [Seite 254]
11.4.6 - 10.4.6 Die Reise nach dem Tod: Nicht nur Sterbende benötigen Unterstu?tzung [Seite 255]
11.4.7 - 10.4.7 Begegnung mit den Toten: Nachtodkontakte haben eine lange Tradition [Seite 256]
11.4.8 - 10.4.8 Die Toten sorgen fu?r die Lebenden (und die Sterbenden) [Seite 258]
11.4.9 - 10.4.9 Verbundenheit u?ber den Tod hinaus [Seite 260]
12 - 11. Spirituelle Sorge in sorgenden Gemeinden [Seite 261]
12.1 - 11.1 Sterben und Tod im suizidassistenzbereiten Sozialstaat [Seite 264]
12.2 - 11.2 Sterben und Tod in einer Gesellschaft ohne Tod [Seite 264]
12.3 - 11.3 Spiritual Care und sorgende Gemeinden [Seite 268]
13 - Autorin/Autor [Seite 273]
14 - Literaturverzeichnis [Seite 275]
15 - Internetquellen [Seite 295]
16 - Sachwortverzeichnis [Seite 297]
17 - Palliative Care und Spiritual Care im Verlag Hogrefe [Seite 303]
1.6 Wer ist zuständig für Spiritual Care?
War es früher klar, dass religiöse ExpertInnen, Angehörige und der Freundeskreis für die spirituelle Begleitung zuständig sind, so hat sich diese Eindeutigkeit längst aufgelöst. Derzeit scheint ein interprofessioneller Wettbewerb, ein regelrechter Kampf zwischen den Konfessionen und Religionsgruppen, den Haupt- und Ehrenamtlichen ausgebrochen zu sein: Wer hat den besten Zugang zu den PatientInnen? Wer ist zuständig für Spiritual Care?
1.6.1 Ausgangsthese: Spiritual Care geht alle an
Spiritual Care wird nicht nur für alle gefordert, sondern geht auch alle an: Konsequenterweise müsste sie daher im multidisziplinären Team verortet werden. Aktuell sind ein besonderes Interesse an spiritueller Begleitung und die Übernahme von Zuständigkeit auf der Seite der Pflegepersonen festzustellen. Das ist insofern verständlich, als die Pflegenden die höchste Präsenz und Kontinuität in der Sorge für die kranken und sterbenden Menschen haben. Da die schematische Bedürfniserhebung auf diesem Gebiet höchst fragwürdig ist, sind Personen, die durch den täglichen Kontakt Nähe zu den Betroffenen entwickeln, auch prädestiniert für die Wahrnehmung spiritueller Bedürfnisse. Allerdings sind es auch zunehmend Ärztinnen und Ärzte, die eine tragende Rolle im Kontext von Spiritual Care für ihre Profession beanspruchen und sich dabei auf entsprechende Studienergebnisse berufen. Demnach möchten viele PatientInnen ihre spirituellen Belange am liebsten in die Hände des behandelnden Arztes legen (vgl. Borasio, 2009: 113).
In Diskussionen über die Frage nach der Zuständigkeit für Spiritual Care werden immer wieder auch die Putzfrauen, das Reinigungspersonal in den Gesundheitseinrichtungen als Gesprächspartnerinnen für spirituelle Themen genannt. Obwohl deren Tätigkeiten hierarchisch auf der niedrigsten Ebene der Institution angesiedelt sind, scheint die existenziell-spirituelle Dimension hier am meisten Raum zu finden. Offenbar ermöglichen alltagsnahe, niederschwellige, unmittelbare Kontakte eher eine existenzielle Kommunikation, der eine spirituelle Dimension zugeschrieben wird. Implizit äußert sich hier auch eine Kritik an ExpertInnen, als ob nur der ausgebildete und trainierte Profi sich spirituell relevant in Beziehung setzen könnte. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich reichlich Stoff zum Nachdenken. Eine erste Vermutung ist, dass dieser Raum des Spirituellen frei ist von Absichten und Erwartungsdruck und vielleicht gerade deshalb geschätzt wird.
1.6.2 Verschiedene Kompetenzebenen
In Bezug auf die Zuständigkeit für Spiritual Care können verschiedene Ebenen unterschieden werden (Abb. 1-1). Als allen professionell und ehrenamtlich Tätigen gemeinsame Basis ist eine grundsätzliche Haltung erforderlich, die den jeweils anderen Menschen als Autorität seines spirituellen Lebens absichtslos respektiert (vgl. Rumbold, 2002b: 225). Hier geht es weniger um spirituelles Sorgen als um eine Spiritualität der Sorge. Spiritual Care als Fundament von Sorgekultur überhaupt setzt voraus, dass Menschen aus der Krankenrolle herausgelöst werden. Nur wer sich selbst mit den Unsicherheiten und den grundlegenden Fragen des Lebens auseinandergesetzt hat, wird die nötige Offenheit und Resonanzfähigkeit in der Beziehung mit Menschen, die sich in einer kritischen Phase ihrer Existenz befinden, entwickeln können.
Abbildung 1-1: Ebenen der Zuständigkeit für Spiritual Care (Quelle: Heller/Heller, 2008)
Von dieser allgemeinen Ebene von Spiritual Care lässt sich eine Ebene der besonderen spirituellen Kompetenz, die eine tief greifende existenzielle Auseinandersetzung voraussetzt, unterscheiden. Hier sind traditionell die professionellen Rollen der Seelsorge und der verschiedenen religiösen ExpertInnen angesiedelt, wobei teilweise die rituellen Kompetenzen viel höher gewichtet sind als die spirituellen. Spirituelle und rituelle Kompetenzen sind zwar nicht deckungsgleich, überschneiden sich jedoch. In der Gestaltung von Abschiedsritualen für die betroffenen Menschen und für diejenigen, die sich ihrer angenommen haben, drückt sich Spiritualität aus.
Neben dieser traditionellen spirituellen Expertise entstehen nun zunehmend Formen einer neuen spirituellen Professionalität. Zum einen sind es einzelne VertreterInnen aus dem Kreis der verschiedenen Professionsgruppen im Gesundheitswesen, die auf individuellen Bahnen ein besonderes spirituelles Interesse ausbilden und in ihren Tätigkeitsbereich einbringen. Zum anderen ist der Bezug auf die spirituelle Dimension ein integrativer Bestandteil der meisten komplementär- und alternativmedizinischen Angebote sowie der ganzheitlichen Körper-Bewusstseins-Praktiken wie z.B. Yoga, Tai Chi oder Shiatsu. Spiritual Care ist hier ein selbstverständlicher Aspekt der professionellen Zuwendung. Neben den traditionellen Formen der Seelsorge für konfessionell-religiöse und interessierte Menschen könnte Spiritual Care auch unterschiedliche komplementär- und alternativmedizinische Angebote sowie energetische Methoden und Meditationsformen in Kooperation mit ExpertInnen umfassen, die Impulse für die spirituelle Entwicklung freisetzen (vgl. Wenzel, 2013). Inwieweit sich spirituelle ExpertInnen, die aus individuell gestalteten Ausbildungswegen hervorgehen, durchsetzen können und welche Wege der Überprüfung oder Evaluation im Dienst der kranken und sterbenden Menschen hier sinnvoll sind, ist derzeit noch nicht absehbar. Diese verschiedenen spirituellen Kompetenzen berühren und überschneiden sich mit therapeutischen und sozialkommunikativen Kompetenzen.
Die dritte Ebene bezieht sich auf Funktionen oder Rollen, die in einer Organisation generell den Rahmen für Spiritual Care herstellen. Hier geht es um Verständigungsprozesse zum spezifischen Zugang zu Spiritual Care im Leitbild der jeweiligen Organisation und um die Koordination der spirituellen Angebote. Wer dafür zuständig gemacht wird, ist nicht von vornherein klar. Prinzipiell kommen VertreterInnen aller Berufsgruppen in Frage, vermutlich ist es sogar günstiger, wenn diese Aufgaben nicht von spiritual caregivers wahrgenommen werden. Auch Traugott Roser (2009: 52) spricht von einer organisationalen Ebene von Spiritualität, die für ihn in der gemeinsamen Haltung aller in einer bestimmten Einrichtung Tätigen, dem "Geist" einer Institution, besteht. Spiritual Care gilt demnach als Ausprägung und Garant für die ganzheitliche Haltung aller Berufsgruppen, wobei der Seelsorge eine spezielle (rituelle) Handlungskompetenz zugesprochen wird. So wichtig Spiritualität als Haltung für das ganze Team auch sein mag, scheint für Roser doch weiterhin die Seelsorge für Spiritual Care zuständig zu sein. Da sich letztere in Resonanz auf ihre AdressatInnen immer stärker ausdifferenzieren muss, spricht jedoch einiges dafür, auf der Ebene der Organisation eine Person für die Belange von Spiritual Care zuständig zu machen, die selbst keine spirituelle Professionalität beansprucht.
1.6.3 Wie erlernt man Spiritual Care?
Hinsichtlich der erforderlichen Kompetenzen für die Umsetzung von Spiritual Care scheiden sich die Geister: Gehen die einen davon aus, dass Spiritualität in Kursen - die Palette reicht von Wochenendseminaren, Online-Kursen bis hin zu intensiveren Lehrgängen - erlernbar ist, entwerfen die anderen das Profil des heiligen und daher heilenden Menschen, der ausgestattet sein sollte mit Freundlichkeit, Toleranz, Mitgefühl, Geduld und Weisheit (vgl. z.B. Radzey/Kreutzner, 2007: 39). Demgegenüber steht die relativ ernüchternde Realität aller religiösen Traditionen. Die Zahl der wirklichen spirituellen Meister und Meisterinnen scheint doch sehr begrenzt zu sein. Möglicherweise sind sie deshalb auch so gefragt. Beobachten kann man oft auch, dass diese spirituellen Lehrer und Lehrerinnen eher selten in den Organisationen des Versorgungssystems anzutreffen sind. Man muss sie anderswo suchen, in jedem Fall sich selbst auf die Suche begeben. Sie suchen einen nicht auf.
1.6.4 Spiritual Care ist zuallererst Selbstsorge
Über all den Debatten professioneller Zuständigkeit wird man eines nicht vergessen dürfen: Es liegt zuallererst in der Verantwortung des kranken oder sterbenden Menschen selbst, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ihm wirklich wichtig ist, was dem eigenen Leben und Sterben einen letzten Sinn gibt, was hält und trägt in der Erfahrung der Angst und Einsamkeit und was angesichts von Zweifel und Verzweiflung hoffen lässt. Spiritualität ist zuerst Selbstsorge (vgl. auch Kellehear, 2002) und dann Sorge füreinander. Allan Kellehear schärft in der Debatte um die Zuständigkeit für Spiritual Care den Blick für die tragende Rolle der Betroffenen selbst. Er spricht von einem Ungleichgewicht zwischen Unterstützung und Rückzug, der "respektvollen Abwesenheit" der Professionellen und vertritt einen kommunalen Ansatz von Spiritual Care. AdressatIn ist nicht der Patient bzw. die Patientin, sondern eine Person, die Teil einer Gemeinschaft ist. Demnach könne das Grundprinzip von Spiritual Care, die zu umfangreich sei, um den Klinikern überlassen zu werden, nur das der Arbeitsteilung sein. Neben dem betroffenen Menschen selbst werden es dann zunächst auch die Angehörigen, Freunde und Freundinnen und andere wichtige Personen seiner sozialen Welt sein, die hier als Mit-Sorgende bedeutsam sind.
Die Gefahr einer paternalistischen Vereinnahmung der PatientInnen durch therapeutisch Tätige benennt auch Eckhardt Frick (2009: 106f.). Auch er betont, dass Spiritual Care zunächst Selbstsorge sei. Um die spirituellen...