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Fünf Monate nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ging der amerikanische Soziologe Theodore Abel in Bremen von Bord eines Transatlantikdampfers. Der sechsunddreißigjährige Professor aus New York war zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern auf dem Weg ins polnische Posen, um dort seine Eltern zu besuchen. Wie jedes Jahr führte die Reise in die Sommerfrische die Familie über Berlin. Ein Glücksfall für Abel, denn was er dort sah, erwies sich als weitaus interessanter als sein eigentliches Urlaubsziel. »Überall Nazi-Propaganda - überall Radio, Reden und Musik von fahrenden Omnibussen herunter, große Plakate an den Straßenecken, Fahnen und Uniformen«, notierte er am 30. Juni 1933 in Berlin in sein Tagebuch. Abel sprach fließend Deutsch und kam auf der Straße, in Cafés und Restaurants mit den Menschen ins Gespräch. Einige äußerten sich entsetzt darüber, wie die Nazis die Juden misshandelten und ihre politischen Gegner verfolgten. Die meisten jedoch sprachen ganz anders über das neue Regime. Als glühende Patrioten rechneten sie es Hitler hoch an, das krisengeschüttelte Land geeint und zu neuer Stärke geführt zu haben. Der Führer hatte ihnen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zurückgegeben. Abel beschrieb, was er als historischen Moment ansah: die bewusste Abkehr der Deutschen von »Liberalismus, Demokratie, Toleranz und internationaler Zusammenarbeit« und den Rückfall in einen primitiven Zustand von »nationalem Egoismus und Intoleranz«. Als er Anfang September in die Vereinigten Staaten heimkehrte, wusste Abel, dass er eine Studie über den Nationalsozialismus schreiben musste.[48]
Abel überlegte, wie er an die dafür erforderlichen Quellen gelangen könnte, und hatte eine zündende Idee: Er wollte einen Schreibwettbewerb ins Leben rufen. Jeder, unabhängig von Geschlecht und Alter, der vor Januar 1933 der NS-Bewegung beigetreten war, sollte teilnehmen dürfen. Geldpreise - der höchste belief sich auf 125 Mark, was damals etwa einem halben durchschnittlichen Monatsgehalt entsprach - winkten für »die detailgetreuesten und glaubwürdigsten Berichte« über die eigene politische Biographie, insbesondere für die Jahre nach dem (Ersten) Weltkrieg, in denen die NSDAP gegründet worden war und ihren Aufstieg erlebt hatte. Als Abel im folgenden Sommer nach Deutschland zurückkehrte, stellte er sein Projekt den Beamten des Reichspropagandaministeriums als eine großangelegte soziologische Studie vor, die von seiner Universität durchgeführt werde, um die amerikanische Öffentlichkeit über die Geschichte des Nationalsozialismus zu informieren. Beeindruckt schickten die Beamten Bulletins an alle örtlichen Parteistellen der NSDAP mit der Anweisung, den Wettbewerb in der NS-Presse anzukündigen.[49]
Bis zum Herbst 1934 hatten 683 Mitglieder der NSDAP Aufsätze eingereicht, die eine einzigartige Sammlung von Innenansichten der Partei ergaben.[50] Das Teilnehmerfeld, Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Berufen, zumeist Männer, aber auch einige Dutzend Frauen, war sehr heterogen. Auch die Form der Beiträge variierte stark. Einige Einsender beschränkten sich auf wenige Absätze, andere präsentierten auf vielen Seiten eine ganze Autobiographie. Doch alle Autorinnen und Autoren stellten eine enge Verbindung zwischen ihrer Lebensgeschichte und der NS-Bewegung her. Den Moment, als sie Hitler zum ersten Mal gesehen hatten oder in seine Partei eingetreten waren, beschrieben sie als ein Schlüsselerlebnis, das ihnen die Kraft verlieh, mit neuer Entschlossenheit für die Wiederherstellung einer großen, von äußeren Feinden und durch innere Streitigkeiten geschwächten Nation zu kämpfen.
Deutschlands Niedergang, so der Tenor der meisten Berichte, war das Werk finsterer Mächte, die nach außen hin vorgaben, unabhängig zu agieren, während sie in Wirklichkeit konspirativ zusammenwirkten. Viele der Autoren machten gleich zu Beginn »die Juden« dafür verantwortlich, dass Deutschland in die Knie gezwungen worden sei: Die Juden hätten Deutschland in den Weltkrieg getrieben, um die deutsche Kriegswirtschaft an sich zu reißen, und dann 1918 die Niederlage provoziert, um erneut zu profitieren.[51] Dabei handelten sie stets im Verborgenen, wie einige der Autoren nicht müde wurden zu betonen. Verstreut auf der ganzen Welt hielten die Juden hinter den Kulissen die Fäden in der Hand, und Millionen ahnungsloser Deutschen waren ihre Marionetten. Die wirksamste Waffe der Juden war die marxistische Ideologie vom Klassenkampf, mit der sie Deutsche gegen Deutsche auszuspielen und die Nation als Ganzes zu schwächen suchten.[52] Mehrere Einsender - wie etwa Grete Kircher, die, aus wohlhabendem Elternhaus stammend, von ihrem Fahrlehrer zum Nationalsozialismus bekehrt worden war - behaupteten, dass »der internationale Marxismus und das jüdische Problem« Hand in Hand daran arbeiteten, Deutschland zu zerstören.[53] Die größte Bedrohung gehe dabei von den marxistischen Parteien aus, weil sie über Rückhalt in der Bevölkerung verfügten und Aufstände und Revolutionen auslösen könnten: »Unser Kampf richtete sich hauptsächlich gegen den von den Juden unterstützten Marxismus, da dieser gewillt war, seine Macht bis aufs Äußerste mit brutaler Gewalt zu verteidigen.«[54]
Mehrere Autoren benannten als ihren Hauptfeind den »extremen Marxismus« oder »Bolschewismus« - den in Moskau gepredigten kommunistischen Glauben, der die Masse der deutschen Kommunisten in seinen Bann gezogen habe. Einsender, die der paramilitärischen Sturmabteilung (SA) beigetreten waren, berichteten von blutigen Straßenkämpfen der SA gegen ein »rotes Untermenschentum«, das anstrebte, Deutschland zu verwüsten.[55] Einer von ihnen bezeichnete die Verteidigung des Vaterlandes gegen das »rote Mordgesindel« als eine Frage des Überlebens für sechzig Millionen Deutsche.[56] Der Kampf gegen den »Bolschewismus«, der das Gegenteil von allem verkörpere, was deutsch sei, rechtfertigte nach Ansicht mehrerer Autoren jedes Opfer. »Mich schauderte bei dem Gedanken an ein Deutschland in der Gewalt des Bolschewismus«, schrieb ein Beiträger. »Die Parole >Arbeiter der Welt vereinigt euch!< ergab für mich keinen Sinn. Aber der Nationalsozialismus mit seinem Versprechen einer Blutgemeinschaft, die jeden Klassenkampf ausschließt, hat mich zutiefst angezogen.«[57] Hans Schönherr, ein Lehrer aus Wiesbaden, stellte seinem achtseitigen Lebenslauf eine kurze Vorrede voran. Mit seinem Beitrag wolle er »dem großen amerikanischen Volk« Folgendes erklären: »1.) dass die Gräuelnachrichten über mein Vaterland . nichts als die gemeinsten Lügen sind« und »2.) dass Deutschland und damit Europa vom Bolschewismus nur durch den Nationalsozialismus gerettet werden konnte.«[58]
Es ist viel darüber geschrieben worden, was Deutsche zu Nationalsozialisten hat werden lassen. Historiker haben als wichtige Faktoren etwa den militanten Nationalismus ausgemacht, die noch frische Erinnerung an die nationale Demütigung, die um sich greifende Wirtschaftskrise, Hitlers Charisma und den tief verwurzelten Antisemitismus. Oft als separat voneinander wirkende Kräfte dargestellt, befriedigen solche Benennungen zwar das Bedürfnis nach analytischer Klarheit, es geht mit ihnen jedoch die Gefahr einher, die Sprache und das Selbstverständnis der historischen Akteure aus den Augen zu verlieren.[59] Der von Hitler und seinen Anhängern beschworene Antibolschewismus war begrifflich diffus und beruhte auf einem Hass, der sich ungeteilt auf Marxisten, Kommunisten und Juden richtete und sie gleichsam zu einem einzigen Übel verschmolz. Ganz gleich, ob es um die Niederlage Deutschlands ging oder andere mit dem Ende des Ersten Weltkriegs einsetzende gravierende Veränderungen - in Deutschland und anderswo machten Vertreter der politischen Rechten ohne Unterschied Juden und Kommunisten dafür verantwortlich, die sie mit Chaos und Verderbtheit assoziierten. Die Bolschewiki um Wladimir Iljitsch Lenin, die die Macht an sich gerissen hatten, um ihr Land und die Welt in eine kommunistische Zukunft zu führen, waren in den Augen ihrer Gegner schlichtweg Juden - denn nur Juden konnten eine (kommunistische) Weltanschauung predigen, der eine Verankerung in einer Idee von Nation oder Rasse fehlte und die letztlich nur dem Ziel diente, sich zu Herren der Welt zu machen. Die »jüdische Pest« habe zusammen mit den kommunistischen Ideen des Internationalismus und der Frauenbefreiung eine »verkehrte Welt« hervorgebracht. Diese Verkehrung der hergebrachten Ordnung könne nur durch eine Weltanschauung rückgängig gemacht werden, die auf eine Erneuerung und »Befreiung« der Nation ausgerichtet sei. In einem durch zunehmende Krisenhaftigkeit gekennzeichneten gesellschaftlichen Klima zogen die von Hitler bellend vorgetragenen Versprechungen und die Gesänge der SA-Leute immer größere Menschenmengen in ihren Bann. Dass Deutschlands vorgeblich größter Todfeind dabei nur wenige konkrete Gestalt besaß, war für die Nationalsozialisten insofern von Vorteil, als dass es ihnen erlaubte, zu einem wilden Rundumschlag ausholen zu können. Diejenigen, die sich aktiv am Straßenkampf beteiligten, sahen ihre Aufgabe darin, »der bolschewistischen Mordfratze ein für alle Mal das lüsterne Grinsen abzugewöhnen...
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