Die treibenden Kräfte
Inhaltsverzeichnis Die Frage drängt sich auf: Wie hat es so kommen können? War es lediglich die geschicktere Diplomatie auf der Seite unserer Gegner, die es diesen ermöglicht hat, uns wichtige Figuren aus unserm Spiel zu nehmen und das eigne Spiel zu verstärken, oder haben elementare Kräfte des Völkerstrebens den Strom des Geschehens in jene Bahnen gelenkt?
Persönlich stehe ich nicht an, der Gegenseite, insbesondere den Engländern, die größere diplomatische Geschicklichkeit, die überlegene Führung der Politik zuzuerkennen. Ihre Staatsmänner haben insbesondere die wesentliche Kunst verstanden, der großen Richtlinie ihrer Politik entgegenstehende Interessen und Gefühle, auch solche von an sich erheblichem Gewicht, unterzuordnen. Ich erinnere an Frankreichs Haltung nach Faschoda, an Englands Preisgabe wichtiger eigener Interessen in Marokko zur Gewinnung Frankreichs, in Mittelasien zur Gewinnung Rußlands. Unseren deutschen Staatsmännern ist es nicht in gleichem Maße geglückt, Reibungspunkte mit Staaten, die nicht notwendigerweise unsere Gegner sein mußten, rechtzeitig zu beseitigen. Angesichts der auch nach meiner Ansicht nicht vermeidbaren Zuspitzung unseres Verhältnisses zu Großbritannien und der Rückwirkung dieser Zuspitzung auf unsere Verteidigungsgrundlage, den Dreibund, mußten von langer Hand Sicherungen, selbst unter großen Opfern, geschaffen werden. Unsere Politik war jedoch eine Politik der mangelnden Gegengewichte. Ich erinnere an Japan, das wir uns durch unser Eingreifen nach dem Frieden von Shimonoseki zum Gegner gemacht haben und dem wir durch unsere Festsetzung in Kiautschou einen unmittelbaren Anreiz für den Fall einer kriegerischen Konflagration geradezu vor die Haustür gesetzt haben.
Eine Politik der mangelnden Gegengewichte
Ich möchte behaupten, daß ohne unsere territoriale Festsetzung in Kiautschou - unsere Hafen- und Eisenbahnunternehmungen in der Türkei haben bewiesen, in welchem Maße weitgesteckte wirtschaftliche Ziele auch ohne territoriale Festsetzung erreicht werden können - Japan niemals aktiv gegen uns eingegriffen hätte; ebenso wie ich überzeugt bin, daß die Türkei, falls wir etwa in Haidar-Pascha oder Alexandrette bei irgendeiner Gelegenheit eine territoriale Festsetzung versucht hätten, im Weltkrieg statt unser Verbündeter unser Feind geworden wäre. Das ist meine Ansicht nicht erst seit dem Weltkrieg. Ich erinnere mich, die Auffassung, daß insbesondere Kiautschou, aber auch andere Teile unseres über die Welt zersplitterten Kolonialbesitzes, für den Ernstfall nicht Stützpunkte, sondern Reibungspunkte und Schwächepunkte darstellten, schon im Jahre 1904 als junger Hilfsarbeiter in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes dem Fürsten Bülow dargelegt zu haben. Dazu kamen bei uns gewisse Ungeschicklichkeiten und Schroffheiten in der diplomatischen Taktik und in der Form unsrer Meinungs- und Gefühlsäußerungen, die im Ausland teils falsch verstanden, teils gegen uns ausgenutzt wurden. Ich erwähne als Beispiel unsre Haltung auf der Haager Friedenskonferenz von 1907. Die Leiter der deutschen Politik und das deutsche Volk waren gewiß mindestens von ebenso friedlichen Absichten beseelt wie die Leiter der britischen Politik und das britische Volk oder irgend jemand sonst. Aber England erschien Arm in Arm mit Spanien und den Vereinigten Staaten im weißen Gewand des Friedensengels mit dem Antrag, die Frage der Rüstungsbeschränkungen auf das Programm der Konferenz zu setzen, Deutschland dagegen erschien mit seinem Einspruch gegen diesen Vorschlag im eisernen Gewand des Kriegsgottes. Ich bin mit dem Fürsten Bülow einig in der Meinung, daß eine Diskussion der Abrüstungsfrage mangels greifbarer Vorschläge und angesichts der in der Sache liegenden Schwierigkeiten zu keinem praktischen Ergebnis geführt hätte. Ich halte es darüber hinaus für wahrscheinlich, daß für England der Hintergedanke bestimmend war, das Übergewicht seiner maritimen Rüstung ein für allemal völkerrechtlich zu sichern und jede aufstrebende Seemacht, vor allem Deutschland, ohne weitere Anstrengung und ohne weitern Kostenaufwand niederzuhalten. Aber gerade deshalb wäre es wohl die bessere Taktik gewesen, den Engländern die Aufgabe des Formulierens von Vorschlägen, die nicht nur für Deutschland unannehmbar gewesen wären, zu überlassen, statt von vornherein zu erklären: »An einer nach unsrer Überzeugung wenn nicht bedenklichen so doch unpraktischen Diskussion können wir uns nicht beteiligen.«4
Diplomatische Ungeschicklichkeiten; rednerische Entgleisungen
In dasselbe Kapitel gehören die oft lauten und weithin klingenden Worte, mit denen wir es liebten, unsern Willen zum Frieden durch ein allzu deutliches Betonen unsrer Bereitschaft zum Krieg zu unterstreichen. Wir hatten den Wunsch, nicht wieder wie in vergangenen Zeiten infolge unsrer geographischen Lage im Zentrum Europas zum Schlachtfeld fremder Nationen zu werden, und wir hatten aus der Geschichte durch die Schaffung einer starken Wehrmacht die Folgerung gezogen. Das war berechtigt. Aber es war nicht klug, beständig »das Schwert im Munde zu führen« und damit unsern Feinden im Ausland die Möglichkeit zu geben, das friedlichste Volk und den friedlichsten Monarchen der Welt ihrer öffentlichen Meinung als besessen vom Kriegsteufel hinzustellen. Wir haben auf diese Weise den Mythus von unsern kriegerischen Absichten gefördert und damit eine internationale Stimmung erzeugen helfen, die einer gegen uns gerichteten Koalitionsbildung den massenpsychologischen Untergrund gegeben hat.
Aber eine die ganze Welt von Grund aus umkehrende Wandlung der Beziehungen zwischen den Völkern, wie sie in den zwei Jahrzehnten seit Bismarcks Abgang eingetreten ist, wäre auch als Werk der vollendetsten Staatskunst und politischer Schulung nicht möglich gewesen, wenn nicht starke Triebkräfte und Entwicklungstendenzen innerhalb der einzelnen Völker den Boden für diese Wandlung geschaffen hätten.
Eine Betrachtung der in den wichtigsten der am Weltkrieg beteiligten Völker wirksamen Triebkräfte und Entwicklungstendenzen ergibt in großen Zügen folgendes Bild:
Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn waren im wesentlichen politisch saturiert. In Europa hatten beide Reiche keinerlei Wünsche auf Ausdehnung; ihr Ziel war die Erhaltung des Status quo. Deutschlands koloniale Bestrebungen haben sich auf friedlichem Wege betätigt. Abgesehen von der Niederwerfung gelegentlicher Eingeborenenaufstände hat Deutschland um seine Kolonien keinen Krieg geführt. Reibungen mit den auf dem kolonialen Felde konkurrierenden Mächten sind gelegentlich aus den kolonialen Gebietserwerbungen Deutschlands hervorgegangen; sie haben aber - abgesehen von der besonders gelagerten marokkanischen Angelegenheit - niemals einen für die große Politik bedeutsamen Charakter angenommen und niemals auch nur von weitem an die Gefahr kriegerischer Verwicklungen herangeführt.
Die intensive Anteilnahme Österreich-Ungarns an den Dingen auf dem Balkan war frei von territorialen Aspirationen und lediglich auf die Erhaltung und Befestigung des Status quo gerichtet. Dasselbe gilt für die Stellung der beiden Reiche zur Türkei.
Das Bündnis der beiden Reiche hatte dementsprechend von Anfang an den ausschließlichen Zweck der Erhaltung und Verteidigung; Abmachungen über Beutezüge und Beute Verteilung hatten in ihm keinen Raum.
Frankreichs aggressive Politik
Anders bei den Mächten der gegnerischen Gruppe! Frankreichs Politik seit dem Krieg von 1870/71 war in erster Reihe diktiert von dem brennenden Wunsch nach Revanche für 1870 und Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen. Alle andern Rücksichten und Interessen, so wichtig sie an und für sich sein mochten, wurden in den 43 Jahren vom Frankfurter Frieden bis zum Ausbruch des Weltkriegs diesem einen Streben untergeordnet. Zu verwirklichen war dieses Streben nur durch Angriff und Eroberung. Für sich allein war Frankreich gegenüber dem an Bevölkerungszahl überlegenen und zu immer stärkerer Überlegenheit heranwachsenden Deutschland zu schwach. Es brauchte und suchte deshalb eine Koalition und war für jede denkbare, gegen Deutschland gerichtete Koalition ein absolut sicherer Partner.
Auf kolonialem Gebiet hat Deutschland den starken Ausdehnungsbestrebungen Frankreichs keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Es war im Gegenteil ein Zug der Bismarckschen Politik, die französischen kolonialen Bestrebungen zu fördern, in der Absicht, Frankreich von dem Revanchegedanken und dem Vogesenloch abzulenken und seinen überschüssigen Kräften außerhalb Europas ein Tätigkeitsfeld zu geben. So hat das in seiner Bevölkerung und seiner wirtschaftlichen Entwicklung kaum fortschreitende Frankreich unter wohlwollender Duldung Deutschlands sich seit dem Krieg von 1870/71 in Afrika und Ostasien ein gewaltiges Kolonialreich schaffen können, während Deutschland, trotz seines starken Bevölkerungsüberschusses und seines wirtschaftlichen Ausdehnungsbedürfnisses, sich mit einem überaus mageren Anteil an der kolonialen Welt begnügte.
Einzig und allein Marokko hat unter den überseeischen territorialen Fragen Anlaß zu ernster Reibung zwischen Deutschland und Frankreich gegeben. Aber auch hier entstand die Reibung und die Kriegsgefahr nicht etwa daraus, daß Deutschland territoriale Erwerbungen beabsichtigt hätte, sondern lediglich aus dem französischen Wunsch, Marokko - ohne Rücksicht auf die dort vorhandenen erheblichen deutschen Interessen zu nehmen und ohne Deutschland überhaupt darum zu begrüßen - sich einzuverleiben. Auch hier lag die aggressive und annexionistische Politik bei Frankreich, während Deutschland lediglich den durch einen internationalen Vertrag...