Schweitzer Fachinformationen
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Der Westerwald im 19. Jahrhundert: Finchen und ihr Mann Konrad sind tüchtige Leute. Und dennoch leiden sie und ihre sieben Kinder Not - wie die gesamte Region, in der viele Menschen vor Hunger sterben. Erste Mütter geben ihre Kinder reisenden Händlern mit, um ihr Überleben zu sichern. Bald muss auch Finchen entscheiden, wie sie ihre Familie durchbringen will ... Annegret Held erzählt zutiefst berührend von der Geschichte der "deutschen Sklaven" und von einer von tiefster Armut geprägten Welt.
Die Wege staubten im Sonnenlicht und die Gräser und Kamillen vor den Lattenzäunen waren so geschossen, dass sie Finchen um die Röcke rankten.
Finchen schleppte den kränklichen Heinrich mit seiner Schmalzhaube auf der Hüfte, und an der anderen Hand hatte sie noch die kleine Hanne, die dauernd hinfiel und ihren honiggefüllten Lutschzipfel im Dreck verlor.
-Hör off dich zu jucke, Heinrich! Davon wird dat net besser!
Sie schob ihm die Haube wieder zurecht und betrachtete ärgerlich, wie sich darauf ein weiterer kleiner Blutstropfen ausbreitete.
-Guckt mol, da vorne spielt gleich die Musik, vielleicht kauft uns die Mutter en Zuckerstang!
Von der Kirche von Scholmerbach schepperte die gesprungene Glocke im hölzernen Turm herüber und von überall her kamen die Leute verzagt und missmutig in ihrer guten Tracht, die Frauen trugen ihre festlichen Brusttücher in das Mieder gestopft und die Männer Kniehosen mit Strümpfen und den weiten, blauen Leinenkittel. Ihre Schritte waren schwer und breitbeinig, die Schultern waren gebeugt und manchmal verzogen, der ein oder andere hatte ein lahmes Bein oder ein krummes Kreuz, nur die jungen Leute kamen aufrecht und unbekümmert daher, als ob ihnen niemals etwas geschehen könnte.
Finchens Großvater war schon losgehumpelt, weil er länger brauchte; der Vater sprach mit Jakob über eine neue Mistgabel, und die Mutter lief hinterher mit der kleinen Veronika auf dem Arm, die Tante saß bereits in der Kirche, ganz vorne, in der dritten Bank.
Die Kirche hatte überhaupt nur elf morsche Bänke, und die Mäuse kletterten in den Turm hinauf, der alte Hanjokeb behauptete, dass eine Eule darin wohnte. Während die Glocke von Scholmerbach verstummte, hörte man in der Ferne noch die Glocken von Linnen und Hellersberg, von Ellingen, von Wällershofen, Pfeifensterz und Wennerode.
Sie läuteten schon in der Frühe um sechs, und sie hatten gestern geläutet und am Mittag und am Abend läuteten sie wieder, und in Wällershofen wurde Salut geschossen und der alte Hanjokeb hatte ein paar Böller, die er beim Schultheiß krachen ließ, und vor Schreck brachen überall die Kühe durch. Beim Mattheskobes, bei Paulinchens und beim Müllerkarl hatten sie liederlich gewundene Fichtenkränze an die Hauswand gehängt, und in die Zäune hatten sie einige Margeriten, Blaublumen und Himmelsschlüssel gestopft, das ganze Dorf war leidlich geschmückt, und beim Schultheiß wehte ab heute eine Fahne in Blau-Weiß-Rot.
Es war der 15. August 1806. Napoleon hatte Geburtstag und Namenstag in einem und Scholmerbach war über Nacht französisch geworden.
Auf Anordnung Seiner kaiserlichen Majestät mussten Feierlichkeiten im ganzen Land durchgeführt werden, und der Gendarm stand vor der Kirchentür und passte auf, dass auch jeder erschien, aus allen siebenundfünfzig Häusern von Scholmerbach: der Schultheiß Backesse Dick, Pfarrer Vinzenz, Honiel, der Wirt, der Schulmeister, der Krämer, der Schreiner, die Zimmerer, der Schuster, die Schneiderin, der Kuhhirt, der Schweinehirt, der Schäfer, die Tagelöhner und die Bauern.
Von nun an kämpften alle im Rheinbund an der Seite des großen Franzosen für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Finchen war elf Jahre alt und trug ihr Festtagskleid, mit einer neuen Borte, und heute morgen hatte sie die Zöpfe schön fest geflochten, die ihr nun bis auf die Kirchenbank hingen und an denen Hanne zog, als wären es Glockenseile. Der Boden war kalt, und sie musste die Füße abwechselnd hochziehen oder auf die Kniebank stellen, sie ärgerte sich, wie kurz der Rock schon geworden war und dass sie nur ein neues Brusttuch bekommen hatte und die Borte für den Hals und den Saum. Heinrich kratzte sich wieder am Kopf, und Hanna wollte nicht stillsitzen und riss Finchen Löcher in die Zöpfe.
-Jetzt hört off!, zischte Finche. - Dat nächste Mal stopf eysch euch in den Ziegenstall!
Sie sah sich um, ob die älteren Leute ihr ärgerliche Blicke zuwarfen, aber die hatten die Köpfe gesenkt, drehten still und missmutig den Rosenkranz in den Händen und beteten. Den Franzosen untertan! Wer von Scholmerbach wollte den Franzosen untertan sein? Keiner hier konnte vergessen, wie die Soldaten in 1796 Reyhe so verwüstet hatten, das arme Reyhe, sie hatten dort die Gäule in die Kirche gestellt und an die Wände gepisst, alles Vieh weggenommen und die Häuser ausgeplündert und die Ernte zerstört, alle sind fortgerannt mit weinenden Augen.
Nur der alte Christ stand ganz hinten in der Kapelle und dachte sich seinen Teil, er war selbst Soldat gewesen und hatte in Lothringen das Bajonett gebraucht, sie wollten Franzosenblut spritzen sehen, so hatten sie gesungen, und dann waren sie in die Dörfer eingefallen, da waren die Bauern von Longwy fortgerannt mit weinenden Augen.
Wenn Napoleon einfach den Grafen von Wällershofen aus dem Schloss gejagt hätte mit all seinen goldenen Schüsseln und seidenen Wandteppichen, dann wäre es gut und die Leibeigenen vom Graf von Wällershofen wären endlich frei! Dann könnte man ein wenig Gleichheit und Brüderlichkeit auch im Westerwald spüren.
Aber Napoleon wollte eigentlich nur Soldaten, zwei von Scholmerbach und drei von Hellersberg, drei von Ellingen und einen von Linnen, sieben von Wällershofen und einen von Pfeifensterz und fünf von Wennerode.
Man konnte bloß beten, man musste ununterbrochen beten, es konnte immer noch schlimmer kommen und niemand kannte die Wege des Herrn und schon gar nicht die der Franzosen und ihrer Grande Armée.
Tante Helmine saß eine Bank hinter Finchen und machte wieder dieses Gesicht, so leidensergeben und selig, und dachte womöglich darüber nach, wie sie unter Schmerzen ins Himmelreich gelangte. In diesen immerwährenden Schmerzen des Daseins hatte sie Finchen heute Morgen schon eine verpasst, als diese ihr auf dem Weg zur Waschschüssel in die Quere gekommen war. Finchen war es gewöhnt, eine überzukriegen und machte sich nichts draus, aber Tante Helmine hatte so dürre Arme, die sie wie alte Knochen niedersausen ließ, ihr fauliger Zahn kam zum Vorschein und im wonnigen Eifer des Schlagens zuckte sie und rollte aufgeregt die Augen. Wenn die Tante am Abend ihren Dotz aufmachte, fiel ein verknickter, muffeliger Zopf vor Finchens Nase. Es war ein furchtbarer Tag gewesen, als der Vater Kaspar beschlossen hatte, dass Finchen nun bei Helmine schlafen musste und diese die gelblichen Beine unter ihren Strohsack steckte. Das war eine Fügung des Herrn, der Finchen sich nicht unterwerfen mochte, und sobald die Tante im Stall war oder vor dem Haus, begann Finchen mit ihrem Vater zu streiten. Sie könnte doch mit Heinrich und Hanne im Bett schlafen, oder Heinrich und Hanne konnten bei der Tante schlafen, und Jakob und der Großvater konnten in der Stube liegen und die Mutter und der Vater blieben weiterhin im Himmelbett hinter dem Ern, dem Hausflur. Die kleine Veronika war schon bald zu groß für die Bank und dann konnte die bei Finchen schlafen, überhaupt sollten sich alle anders verteilen in den drei Betten, jeder konnte woanders schlafen, aber bloß nicht sie bei der Tante Helmine.
Finchen beschwerte sich so lange, bis Kaspar ihr auch eine drüberhaute und Finchen sich den Kopf halten musste, aber sie machte sich nichts daraus. Tante Helmine war einmal in Stellung gewesen in Metternich, und darauf war sie sehr stolz, denn sie hatte die Welt schon gesehen, nur dass man sie dort hinausgeworfen hatte, weil sie die goldenen Kerzenleuchter der Herrin eingesteckt hatte, darüber sprach sie kein Wort.
Das schwere Kreuz mit seinem unsichtbaren Herrgott hing über den Leuten von Scholmerbach, und sie knieten nieder und beteten das Kyrie Eleison. Der Herrgott wachte über sie alle, aber er wachte auch über Frankreich, über Österreich, Spanien, die Russen und die Preußen. Warum aber sollte er eigentlich über Franzosen wachen, wenn die doch in die Kirchen pissten? Warum sollten die jungen Männer von Scholmerbach mit Napoleon gehen, wenn seine Leute Reyhe so drangsaliert und verwüstetet hatten?
Da trat der Pfarrer Vinzenz vor die Gemeinde, blickte zum Gendarmen an der Kirchentür und verkündete schließlich, dass wir nun für den Kaiser der Franzosen mit all unserer inbrünstigen Glut des Herzens beten wollen, und das von nun an jeden Sonntag . auf Beschluss des Präfekten.
Ganz Scholmerbach musste also niederknien, und auch Finchen zwang Heinrich und Hanne hernieder, sie bekreuzigten sich und beteten im Namen des Herrn:
»Für Napoleon, den Knecht, Kaiser und König Gottes, damit Du alle seine gemeinnützigen Unternehmen mit Erfolg krönen wollest und wir Unterthanen ein stilles Leben unter seiner Herrschaft führen mögen. Amen.«
Der Heens August stand auf der Treppe zur Wirtschaft und fiedelte zaghaft das Lied vom Waldblümelein, vorm Haus hatte der Honiels Tische und Bänke aufgestellt, und in der Scheune stand der Schanktisch mit Schnapskrügen und dem Bierfass an der Seite.
Die Kirchentore öffneten sich, und die Leute strömten in die Sonne mit gesenkten Köpfen und nahten heran in ihren blauschwarzen Trachten wie eine Bußprozession auf dem Weg zum Besäufnis. Es dauerte bis zum ersten Branntwein, da wandelte sich alles in ein lethargisches »Leck mich« und irgendwann in ein allgemeines »Gottes Namen Amen«; sie lamentierten und schwätzten daher und stießen an mit schwappenden Krügen.
Nur der Gendarm von Wennerode stand stramm unter der Fahne vom Schultheiß, er kniff die Augen zusammen und musterte die struppigen und schäbigen Kränze voller Luftlöcher, die an den Häuserwänden hingen.
-Das hätte man doch auch schöner machen können!, sagte er und...
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