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Jörg Helbig
Zweifel, Vertrauensverlust und erzählerische Unzuverlässigkeit in Filmen von Ridley Scott
My friend you're in a dream
and things are never what they seem.
No, things are never what they seem.
(Harry Nilsson)
Harry Nilssons Song »How Can I Be Sure Of You«, aus dem das obige Zitat stammt, ist Teil des Soundtracks von Ridley Scotts romantischer Komödie A GOOD YEAR (EIN GUTES JAHR, 2006). Der mit einem Budget von 35 Millionen US-Dollar produzierte Film betont den Kontrast zwischen Scotts damaligen zwei Wohnorten - dem hektischen, von zynischem Geschäftsleben geprägten London und dem romantischen Südfrankreich, wo die unschuldige, verspielte Zeit der Kindheit stehengeblieben zu sein scheint. Zum ersten Mal seit seinem Debütfilm THE DUELLISTS (DIE DUELLISTEN, 1977) drehte Scott wieder in Frankreich, auf dem Gelände des Château La Canorgue in Bonnieux, nur wenige Kilometer von seinem Wohnsitz, einem kleinen Weingut im Luberon, entfernt.
Mit dem harten Kontrast der beiden geografischen Schauplätze führt Scott seinen Protagonisten, den abgebrühten Londoner Broker Max Skinner (Russell Crowe), in eine Zwickmühle: Als dieser erfährt, dass er das Weingut seines kürzlich verstorbenen Onkels Henry (Albert Finney) in Südfrankreich geerbt hat, betrachtet Skinner das Anwesen, in dem er eine selige Kindheit verbrachte, zunächst nur als Kapitalobjekt, das es schnellstmöglich zu veräußern gilt. Schon bald verfällt er jedoch dem Charme der neuen Umgebung, an der viele positive Erinnerungen hängen. Kurzerhand bricht er seine Zelte in London ab, gibt seine lukrative Karriere auf und genießt fortan das französische savoir vivre.
Dieser scheinbar mühelose 180-Grad-Wandel vom raffgierigen Workaholic zum tiefenentspannten Frührentner mag nicht unbedingt plausibel sein, aber er führt zurück zu Harry Nilssons eingangs erwähntem Song »How Can I Be Sure Of You«. Die Lyrics des Songs, der erklingt, als Max erstmals das Haus seines verstorbenen Onkels betritt, drücken einen grundsätzlichen Zweifel am Konzept einer objektiven Wahrheit aus, und dieser Zweifel könnte als Motto von A GOOD YEAR dienen: Schon als kleiner Junge lernte Max von seinem Onkel, Unterschriften zu fälschen, und damit etabliert der Film seine zentralen Motive der Fälschung, Verheimlichung und vorgetäuschten Identitäten. Dies gilt für beide Schauplätze: Max betreibt an der Londoner Börse dubiose Luftgeschäfte und prellt Anleger um Millionensummen. Seine Mitarbeiter geben sich loyal, verfluchen Max jedoch insgeheim oder warten nur darauf, ihm bei erstbester Gelegenheit einen Dolch in den Rücken stoßen zu können, und das bewunderte Van-Gogh-Gemälde im Büro des Firmenchefs ist lediglich eine Kopie. Nach seiner Ankunft in Frankreich wird Max in ein ganzes Netz falscher Spiele verstrickt. Kaum eine der Figuren, die ihn dort umgeben, erweist sich als das, was sie zu sein scheint: Die wenige Tage nach Henrys Tod auftauchende Christie Roberts (Abbie Cornish) behauptet, dessen uneheliche Tochter zu sein, und könnte Skinners Erbansprüche zunichte machen - oder ist sie eine Betrügerin? Die Einheimische Fanny Chenal (Marion Cotillard) lässt Skinner lange in dem Irrglauben, eine Fremde zu sein, obwohl sie seine Jugendliebe war. Der Vigneron Francis Duflot (Didier Bourdon) verschweigt Skinner, dass es sich bei dem angeblich minderwertigen Wein von Henrys Weinberg um einen Grand Cru handelt, und der eigens bestellte Önologe ist ein bezahlter Schwindler.
Verschleierte und gefakte Identitäten ziehen sich wie ein roter Faden durch Ridley Scotts filmisches Werk. Zu den frühesten Beispielen zählt der Raumfahrer Ash (Ian Holm) in ALIEN (ALIEN: DAS UNHEIMLICHE WESEN AUS EINER FREMDEN WELT, 1979). Ash ist nur scheinbar ein normales Crewmitglied des Raumschiffs Nostromo, tatsächlich jedoch ein getarnter Android, der ein doppeltes Spiel betreibt und insgeheim die Überlebensbemühungen der restlichen Crewmitglieder sabotiert, die von ihm ebenso in die Irre geleitet werden wie das Publikum. In BLACK RAIN (1989) überführen zwei New Yorker Polizisten (Michael Douglas und Andy Garcia) einen gefangenen Yakuza-Gangster nach Osaka, wo sie ihn den vermeintlichen japanischen Kollegen übergeben, ohne zu ahnen, dass es sich bei diesen um verkleidete Mafiosi handelt. In GLADIATOR (2000) entkommt der vom römischen Kaiser Marcus Aurelius zum Thronfolger bestimmte Feldherr Maximus (Russell Crowe) nur knapp einem Mordkomplott und lebt fortan inkognito als Gladiator unter dem Pseudonym »Der Spanier«. Und in BODY OF LIES (DER MANN, DER NIEMALS LEBTE, 2008) gehören gefälschte Identitäten zu den Selbstverständlichkeiten im Verwirrspiel geheimdienstlicher Operationen.
Bis aufs Äußerste strapaziert Scott die Suche nach der wahren Identität in seinem Neo-Noir-Klassiker BLADE RUNNER (1982). Dort stößt der Replikantenjäger Rick Deckard (Harrison Ford) an die Grenzen seiner Urteilsfähigkeit, als es um die scheinbar simple Frage geht, was einen Menschen von einer Maschine unterscheidet. Um die Replikantin Rachael (Sean Young) als künstliche Person zu entlarven, benötigt Deckard Unterstützung durch den sogenannten Voigt-Kampff-Test, eine futuristische Variante des legendären Turing Tests. Doch selbst mit ausgeklügelten technischen Hilfsmitteln droht Deckard an der Wahrheitsfindung zu scheitern. Er braucht außergewöhnlich lange, um Rachael als Maschine zu identifizieren, und er stellt ihr dafür absurd erscheinende Testfragen wie die, was sie empfände, wenn sie in einer Zeitschrift das Foto einer nackten Frau aufschlagen würde. Rachaels messerscharfe Replik, »Is this testing whether I'm a replicant or a lesbian, Mr Deckard?«, lässt berechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit des Testverfahrens aufkommen.
Rotes Augenglühen bei der Replikantin Rachael und der Erzählerfigur Rick Deckard in BLADE RUNNER
In BLADE RUNNER erstreckt sich dieser Zweifel über die reine Handlungsebene hinaus auch auf die Erzählerebene, denn es spricht einiges dafür, dass Deckard, der in der ursprünglichen Kinoversion von 1982 als Voiceover-Erzähler fungiert, selbst ein Replikant ist. Bereits in der 1982er-Version wird diese Annahme durch einige subtile Hinweise gestützt, etwa das markante rote Augenglühen, das Deckard mit anderen Replikanten teilt. Noch deutlicher wird indes der Director's Cut von 1992, in den Ridley Scott eigens eine Szene einfügte, die Deckards Traum von einem Einhorn zeigt. Dieser Traum verleiht der Schlussszene, in der Deckard ein Origami-Einhorn vor seiner Wohnungstür findet, eine völlig neue Bedeutung, denn der Fund lässt darauf schließen, dass Gaff (Edward James Olmos), der das Einhorn gefaltet hat, den Inhalt von Deckards Träumen kennt. Dessen Träume und Erinnerungen wären folglich, ebenso wie bei Rachael, nicht authentisch, sondern von der Produktionsfirma künstlich implantiert.
Wenn es sich bei Deckard aber um eine vorprogrammierte Maschine handelt, so hätte dies gravierende Auswirkungen auf seine Wahrnehmungsweise. Sein Wissenshorizont wäre beschränkt, sein Urteilsvermögen voreingenommen und seine Informationsvergabe an das Publikum wäre dementsprechend lückenhaft. Mit anderen Worten: Viele Ereignisse in BLADE RUNNER würden aus der Perspektive eines unzuverlässigen Erzählers geschildert werden. Die Suggestivfrage »Do you trust me?«, die Deckard an Rachael richtet, ist daher zugleich die Gretchenfrage, die die Zuschauer für sich beantworten müssen.
Der Aspekt unzuverlässigen Erzählens im Film, ein von der Narratologie lange Zeit völlig vernachlässigtes Thema, rückte zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den Fokus der Filmwissenschaft und generierte besonders im deutschsprachigen Raum zahlreiche Forschungsbeiträge.2 Ridley Scotts Filme fanden hierbei kaum Berücksichtigung, obwohl einige von ihnen die Frage »Was ist wahr? « in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Neben BLADE RUNNER wäre hier zunächst der 2003 erschienene Film MATCHSTICK MEN (TRICKS) zu nennen.
Nach drei groß angelegten Produktionen (GLADIATOR, HANNIBAL und BLACK HAWK DOWN) drehte Scott mit einem vergleichsweise bescheideneren Budget von 62 Millionen US-Dollar die Gaunerkomödie MATCHSTICK MEN, die Ian Nathan rückblickend als »one of Scott's most unsung and unusual films«3 bezeichnete. Obwohl der Film in Scotts Schaffen einen eher geringen Aufmerksamkeitswert besitzt, ist er doch ein kleines Meisterwerk. Das auf Eric Garcias gleichnamigem Roman basierende Drehbuch von Nicholas und Ted Griffin erachtete der Kritiker Roger Ebert für oscarwürdig.4 Hans Zimmers Filmmusik mit starken Anlehnungen an den großen Nino Rota verdichtet die Atmosphäre ebenso wie der Filmschnitt: Da der Italiener Pietro Scalia, der Scotts vorherige vier Filme geschnitten hatte, nicht zur Verfügung stand, wurde Dody Dorn5 verpflichtet, die passende optische Äquivalente (Jump Cuts,...
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