Schweitzer Fachinformationen
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Meine Mutter, Herta Heizmann, wurde 1911 geboren und stammte aus Gurschno, einem Dorf in Westpreußen, 20 Kilometer südöstlich von Danzig. Sie war eine fröhliche, warmherzige, immer singende und stets besorgte Mutter, wenn es um ihre Familie ging. Ihr Vater, den ich nie kennenlernen durfte, war Gutsverwalter und hatte sieben Kinder. In seiner Freizeit war er Laienprediger in den umliegenden Dörfern in evangelischen Kreisen.
Als mein Großvater Reinhold Janke an einer Bakterienruhr starb, stand meine Großmutter Ida Janke mittellos und alleine in Westpreußen mit ihren sieben Kindern da. Von diesem Schicksalsschlag las die ledige Studienrätin Hedwig Volk aus Haan im Bergischen Land (bei Solingen) in der christlichen Zeitschrift Licht und Leben. Sie organisierte, dass einige dieser Kinder zu ihr nach Haan zogen. Das war ein Akt glaubwürdiger Nächstenliebe. Später hat sie alle Kinder nach Haan geholt und ihnen eine Ausbildung ermöglicht oder ihnen eine Arbeitsstelle vermittelt. Wir nannten sie Omatante Volk oder Tante Vo.
Eine der Ersten, die Omatante nach Haan holte, war meine Mutter. Sie wurde Schneidermeisterin und konnte durch ihr handwerkliches Geschick und durch ihre liebenswerte Art gerade in den Zeiten der Hungersnot einen wesentlichen Beitrag zum Überleben der Familie beitragen.
Mein Vater, Rudolf Heizmann, wurde 1913 in Hussinetz in Niederschlesien, 41 Kilometer südlich von Breslau, geboren. Er hatte eine interessante Familiengeschichte, die auf mein Leben einen großen Einfluss haben sollte. Seine Vorfahren waren seit 1742 böhmische Exulanten, die wegen ihres religiösen Bekenntnisses aus Königgrätz in Böhmen (heute Tschechien) fliehen mussten. Als Exulanten oder auch Böhmische Brüder bezeichnet man die protestantischen Glaubensflüchtlinge, die in der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wegen ihres Glaubens aus ihrem Heimatland vertrieben wurden. (Das ist offensichtlich der Grund dafür, dass meine Familie schon immer ein weites Herz für Flüchtlinge hatte und sich für sie tatkräftig einsetzte.)
Ihr erster Anlaufpunkt war Münsterberg in Schlesien, das lag ungefähr 50 Kilometer südlich von Breslau. 1749 kauften sie auf Veranlassung und mit Unterstützung des preußischen Königs Friedrich des Großen ein Vorwerk (kleines Dorf) in der Nähe von Strehlen und gründeten den Ort Hussinetz, dem wahrscheinlichen Geburtsort von Johann Hus, einem christlichen Theologen und Reformator, der als Ketzer in Konstanz 1415 verbrannt wurde.
2016 habe ich mit meinen Brüdern Lothar und Rudi dieses Dorf meiner Vorfahren besucht. Wir waren sehr von ihrer Glaubensstärke und dem Mut ihres christlichen Bekenntnisses beeindruckt. Sichtbar wurde sie auf einigen Giebelwänden von Scheunen, in denen durch die Verwendung von dunkelroten Ziegeln etwa vier bis fünf Meter hohe schlanke Abbildungen des Abendmahlskelches dargestellt wurden. Eine Frömmigkeit, die sich in unserer Familientradition fortsetzen sollte.
Diese abgekapselte, eingeschworene und verfolgte christliche Gemeinschaft war schon seit dem 15. Jahrhundert eine fromme und stark singende Gemeinde, die eigene Liedtexte verfasste und die Melodien dazu schrieb. Noch heute stehen 16 Melodien und drei Liedtexte der Böhmischen Brüder im Evangelischen Gesangbuch. Daher stammen also meine Wurzeln.
Zurück zu meinem Vater: Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise um 1932 war mein Vater froh, überhaupt noch Arbeit in einem der berühmten Strehlener Steinbrüche und in einer Weberei zu erhalten. Dann wurde er zum Militärdienst eingezogen.
Im Jahr 1940, ein Jahr nach Ausbruch des 2. Weltkrieges, heirateten meine Eltern in Saegen/Ostpreußen. Sie hatten sich auf einem Jugendtreffen in Hussinetz-Oberpodibrat kennengelernt.
In den Wirren des Krieges kam ich am 16. Mai 1944 in der Gartenstadt Haan zur Welt. Einige Monate später warf die englische Royal Air Force mit ihren Avro-Lancaster-Flugzeugen viele Bomben auf meine Heimatstadt. Viele starben und es begann eine große Hungersnot. Mein Vater erzählte mir später, wie er nachts, bei einem Heimaturlaub vom Militär, auf einem Feld in der Nähe unserer Wohnung Kartoffeln »organisierte« bzw. klaute, damit wir etwas zum Essen hatten. Als er freudestrahlend mit den Kartoffeln nach Hause zurückkehrte, fing er plötzlich an zu zittern und konnte nur noch stotternd sagen: »Hab mein Soldbuch auf dem Acker verloren.« Er schlich zurück in die stockdunkle, mondlose Nacht und kroch auf allen vieren durch die Furchen des Kartoffelackers. Plötzlich fasste er an eine fremde kalte Hand. Eine Stimme fragte flüsternd: »Auch Hunger?« Mein Vater erklärte ihm den Grund seines Suchens. Nun krochen beide durch die Furchen und?. fanden endlich das Soldbuch. Wäre mein Vater ohne das Dokument angetroffen worden, hätte ihm eine Gefängnisstrafe oder in einigen Fällen sofortige Erschießung gedroht.
Um meine hungernde Familie zu versorgen, fuhr mein Vater auch einige Male rund 100 Kilometer mit dem Zug in die Eifel, um bei einem Bauern ein großes Stück Speck gegen ein kleines Schmuckstück einzutauschen. Auf der Rückreise musste er wegen des überfüllten Zuges auf dem Dach eines Waggons bei Wind und Wetter ausharren. Ich erinnere mich auch daran, wie es noch Jahre später immer wieder Steckrübensuppe, Steckrübensalat, Steckrübenpüree mit Milch oder frittierte Steckrüben gab. Bis heute hat sich diese Hungersnot tief in mein Gedächtnis und in mein Leben eingenistet: Ich kann keine Lebensmittel wegwerfen. Und auch: Das harte Arbeiten meines Vaters, um die Familie zu versorgen, war für uns Kinder immer ein großes Vorbild, das wir in unserem Leben verinnerlichten.
Mein Vater, der als Kraftfahrer beim Militär eingesetzt war, sah viel Elend und Tod und musste sehr viel Hunger erleiden. Das schlug sich auch auf seine Gesundheit nieder. Er erzog uns streng nach preußischem Vorbild: Fleiß, Ordnung, Sauberkeit, Disziplin, Ehrlichkeit, Sparsamkeit, christlichem Weltbild und Zuverlässigkeit. Manches Mal unterstrich er bei mir seine Erziehungsmethode mit einem Rohrstock.
1945 wurde er aus dem Kriegsdienst entlassen und fand trotz einer Granatsplitterverletzung in einer Maschinenfabrik in Haan eine Anstellung als Dreher. Er war froh, eine feste Arbeit zu haben.
Dennoch blieben wir eine arme, aber glückliche Familie.
Der Wunsch meiner Eltern für uns Kinder war: »Unsere Kinder sollen es einmal besser haben.« Damit stimmten sie in das allgemeine Credo der Nachkriegsgeneration ein.
Im Jahr 1946 erblickte mein Bruder Lothar das Licht der Welt. Bisher war ich ein Einzelkind gewesen, das nun froh war, einen Bruder und Spielkameraden zu haben.
Kurze Zeit später ereignete sich etwas, das ich nie vergessen werde. Vor unserem damaligen Haus in Haan hielt ein eisernes Ungetüm an. Ein schwarzer Soldat sprang von einem englischen Panzer und schenkte mir meine erste Tafel Schokolade.
Mein zweiter Bruder, Hans-Rudi, wurde 1950 geboren. Auf ihn waren wir mächtig stolz. Zu dritt waren wir meistens ein Herz und eine Seele. Aber wir konnten uns auch manches Mal heftig kloppen, wie man im Rheinland zu sagen pflegt.
Wir wohnten inzwischen in einem kleinen Haus in Haan, einer ehemaligen Schmiede am Rande der Stadt. Es war eine ländlich geprägte Gegend in einer leicht hügeligen, lieblichen Landschaft des Bergischen Landes, rund zwölf Kilometer vom Rhein entfernt.
Dort verbrachten wir unbeschwerte Kindheitstage. Wir wohnten nämlich ganz in der Nähe eines Bauernhofs. Bauer Dächer und seine Frau spannten uns in das Bauernleben ein: Kuh- und Pferdestall ausmisten, Taubenschlag säubern, nicht gerade fröhlich Rüben vereinzeln, Kartoffeln pflanzen, Kartoffeln ernten, Kühe auf die Weide treiben, beim Melken helfen, stolz den Porsche-Traktor fahren?. Ich fand das herrlich und wollte natürlich auch Bauer werden. Aber es sollte anders kommen, die Liebe zur Natur und den Tieren ist aber geblieben.
Meine Brüder und ich waren ebenso wie unsere Nachbarskinder und Freunde aber auch echte Lausbuben. Wir legten in dem kleinen Bach in unserer Nähe einen »Staudamm« an, der nicht hielt und große Verwüstung am Unterlauf anrichtete. Wir fanden im nah gelegenen Ittertal Gewehrmunition aus Kriegsbeständen, mit der wir es mittels eines Hammers mal »richtig krachen« ließen, obwohl uns die Geschosse um die Ohren flogen. Heute weiß ich, dass wir Kinder einen Schutzengel hatten, der uns vor Verletzungen behütete. In einer Höhle fanden wir Karbidlampen, die Soldaten in den letzten Kriegstagen versteckt hatten. Wir ließen sie in einem Teich »explodieren«.
Der Ernst des Lebens erreichte mich bei der Einschulung. Wir waren 70 Kinder in der ersten Klasse. Trotzdem hatte uns unsere Lehrerin Anna Ohlig fest im Griff. Im 3. Schuljahr hatte ich einen Musiklehrer - Herrn Koll -, er war von Beruf Sänger und hatte von Pädagogik sehr wenig Ahnung. Manches Mal musste ich mit anderen Klassenkameraden vor die Klasse treten und die heftigen Schläge mit dem Rohrstock auf die Hände oder auf den Hosenboden in Empfang nehmen.
Als die Zensuren für den Musikunterricht vergeben wurden, rief Herr Koll im militärischen Ton: »Heizmann, aufstehen! Vorsingen.« Anstatt eines ernsten Vortrages, den ich ohne Weiteres gekonnt hätte, interpretierte ich ein Volkslied auf die alberne Art und Weise. »Heizmann, setzen! Vier.« Das war meine erste Musiknote.
Während der Schulzeit und auch während des Studiums blieb ich ein schüchterner, introvertierter und verträumter Junge.
Omatante Volk war für unsere Familie ein Geschenk des Himmels. Als Studienrätin am Gymnasium in Hilden (bei Düsseldorf) war sie in der...
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