Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Betrachtet man unsere Gesellschaft lediglich oberflächlich, dann erscheint sie friedlich und langweilig. Zumindest im Vergleich zu den konfliktbeladenen und spannungsreichen 1960er- und 1970er-Jahren tut sich an der (damals heißen) Generationenfront heute recht wenig. Die 1968er-Rebellion der Jugend richtete sich ja nicht nur gegen das politische Establishment und das unterschwellige Fortbestehen der Kultur des Nationalsozialismus. Im selben Maße war sie auch ein Aufstand gegen das autoritäre patriarchale Elternhaus, in dem die Ehefrau und die Kinder dem gestrengen Familienoberhaupt gehorchen mussten. Im Gegensatz dazu geht es heute in den Familien im Großen und Ganzen harmonisch zu. Man respektiert sich und übergeht höflich kleine Kränkungen und Meinungsverschiedenheiten, und tut so, als würde es keine Spannungen und Konflikte geben. Wie in den alten Mythologien sollen am häuslichen Herd Eintracht und Frieden herrschen.
Auch wenn unterschiedliche Generationen unter einem Dach zusammen wohnen, hat man gelernt, sich routiniert aus dem Weg zu gehen, wenn die Stimmung angespannt ist. Damit eine solche Kultur des Zusammenlebens funktioniert, ist jedoch genügend Wohnraum erforderlich - in einer Kleinwohnung kann dieses Experiment nicht gelingen. Schreiduelle und Streitgespräche kommen in Haushalten mit großzügiger Wohnfläche selten vor. Und wenn, dann geht man mit Spannungen und Kontroversen pragmatisch um. Die große Kunst unserer postmodernen Kultur besteht darin, sich selbst zu kontrollieren und das, was man wirklich denkt, meint und will, hinter Masken und Bühnenkostümen zu verbergen. Das Ideal unserer Zeit sind Selbstunterdrückung und Verstellung, ganz nach dem Motto »Wir alle spielen Theater«. Und wer das Theaterspiel gut beherrscht, hat beste Chancen, in der Wettbewerbsgesellschaft unter den Siegern zu sein.
Anleitungen zur Selbstüberwindung und Selbstunterdrückung und die Aufklärung darüber, welchen gerechten Lohn man dafür erwarten darf, findet man in der Beratungsliteratur, die heute in jeder Buchhandlung tonnenweise aufliegt. Oder man sieht sich eines der vielen Lehrvideos zum Thema auf YouTube an. Sie tragen Namen wie »Keine Angst vor Konflikten«, »Konflikte vermeiden« oder »Konflikte frühzeitig erkennen und Schäden vermeiden«. Die Bücher und Videos fallen in der Regel einfältig und vor allem schematisch aus und folgen alle derselben Dramaturgie. Immer tritt ein Guru auf und spricht von den gravierenden Problemen, die ihm sein früheres Leben zur Hölle gemacht haben. Dann aber erfolgte die dramatische Wende. Plötzlich wurde der Meister erleuchtet, der Weg zur Lösung aller seiner Schwierigkeiten wurde ihm offenbart. Und nun verkündet er seine ganz persönlich entwickelte Lehre von mehr Selbstbeherrschung und fokussierter Karriereorientierung, die klischeehaft ist und durchgehend das hohe Lob der Anpassung und der opportunistischen Unterordnung besingt. Der Konformismus, den die Gesellschaft dem Einzelnen abverlangt, wird in den Lehren der modernen Gurus und Religionsgründer nicht nur affirmiert, sondern zu einem ewig gültigen Naturgesetz überhöht.
Immer mehr Menschen berichten in unseren Forschungsprojekten darüber, dass sie den Eindruck haben, die Zahl der »seltsamen« Menschen, die unter Kontrollverlust leiden, steige auffällig an. Das dürfte der Preis dafür sein, dass man den Menschen ein grausames Über-Ich anerzogen hat, das sie, wie Erich Fromm meinte, dazu zwingt, »mehr zu unterdrücken, als sie verdrängen können«. Aus dieser »Verdrängungsüberlastung« folgt, dass die Betroffenen neurotisch werden. Solche Menschen sind extrem empfindsam und sensibel, stellen den Anspruch, dass sich die ganze Welt ihrem Ego unterzuordnen hat und werden unangenehm, wenn sich jemand weigert, dies zu tun.
Anna, Studentin, 27 Jahre:
Also ich habe wirklich den Eindruck, dass die Zahl der Menschen, die sich nicht ganz im Griff haben, größer wird. Ob zu Hause, im Freundeskreis oder auf der Uni, die Aggression nimmt zu. Zuletzt hat mich eine Frau in der U-Bahn angebrüllt, weil ich eine Käsesemmel gegessen habe. »Das ist hier verboten«, hat sie immer wieder geschrien. Sie konnte mir nicht sagen, was sie daran wirklich stört. Offenbar ging es ihr nur darum, der Essverbotsverordnung zum Durchbruch zu verhelfen. Und ein wenig inneren Druck abzubauen.
Vor allem im digitalen Raum nehmen die Konfrontationen zu, weil dort aufgrund der Distanz zum Gegenüber nicht viel Mut erforderlich ist, um dem anderen Frechheiten ins Gesicht zu sagen. Viele können es nicht mehr ertragen, dass es Menschen gibt, die anders sind als sie selbst und die sich nicht konformistisch den Geboten der Mainstreamkultur unterwerfen. Durch abschätzige Gesten und missfällige Kommentare wird den Unangepassten signalisiert, dass man mit ihrem abweichenden Verhalten nicht einverstanden ist. Mehr als noch vor zehn oder zwanzig Jahren scheint Konformismus oft auch aggressiv eingefordert zu werden. Könnte dies eine Folge des allerorts propagierten »Zusammenhaltens« sein? Möglicherweise handelt es sich um einen neuen sozialen Radikalismus, der eine autoritäre Gemeinschaft konstruiert und das Individuum dazu verpflichten möchte, sich in diese einzuordnen und den Herrschenden bedingungslose Gefolgschaft zu leisten.
Zusammenhalt wird heute in vielen Wahlprogrammen propagiert. Vor allem die politischen Kampagnen der SPÖ Wien stellen die Gemeinschaftlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Propaganda. Wer sich der Gemeinschaft verweigert, wird bezichtigt, Hass und Hetze zu verbreiten. Die Argumentationstechnik liegt auf der Hand: »Gut und Böse« werden kontrastreich gegenübergestellt und es wird behauptet, es gäbe nur diese zwei Optionen. Entweder man gehört zu den Guten, dann hat man sich deren Gemeinschaftsregeln unterzuordnen, oder man steht außerhalb und zählt zu den Bösen, den gemeinschaftslosen Outlaws, den Schädlingen. Dieses unterkomplexe, bipolare Denken verstellt den Blick auf die komplexe Realität der postmodernen Gesellschaft, die aus vielen kleinen Interessensgruppen besteht, die sich nicht in eine große Massengemeinschaft einordnen lassen wollen. Zudem wird verschleiert, dass es zwischen diesen Gruppen auch Interessenskonflikte geben kann, die ausgetragen werden wollen. Diesen totalisierenden »Gemeinschaftsradikalismus« kritisierte Helmuth Plessner in seinem 1924 erschienenen Buch »Die Grenzen der Gemeinschaft«. Beispiele für die Fantasie der totalen Gemeinschaft, die die SPÖ Wien mit ihrer Ideologie des Zusammenhaltens propagiert, finden sich in folgenden Äußerungen:
»In Wien seien das Miteinander und der Zusammenhalt schon vor der Corona-Krise groß gewesen. Klar sei aber auch: >Zusammenhalt und Vertrauen brauchen Respekt und Rücksichtnahme.< Dr. Michael Ludwig schloss mit einem Appell: >Ziehen wir gemeinsam an einem Strang, nehmen wir die Herausforderung durch Türkis-Grün offensiv an und senden wir heute das Signal, dass sozialdemokratische Politik zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Miteinander und Zusammenhalt führt!<« (SPÖ, Presseaussendung 2022)
»Bei der Nationalratswahl haben die Wiener*innen sozialen Zusammenhalt gewählt. Mit knapp 30 Prozent ist die Sozialdemokratie in Wien die stärkste Kraft. Wenngleich der Ausgang der Wahl zum Nationalrat für die Sozialdemokratie insgesamt zwar nicht erfreulich ist, stimmt das Wiener Ergebnis zuversichtlich.
Mit einem deutlichen Plus konnte der Vorsprung auf den Zweitplatzierten ausgebaut werden. Damit hat Wien bei der Wahl ein klares Zeichen gesetzt und gezeigt, dass das respektvolle Miteinander und der soziale Zusammenhalt im Vordergrund stehen. In unserer Stadt gibt es keinen Platz für rechte Hetze und die Spaltung der Gesellschaft.« (SPÖ, 2024)
In den Familien hört man den paternalistischen Sager »Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, wird getan, was ich sage«, heutzutage seltener. Offenbar weiß sich das postmoderne Patriarchat zu benehmen. Unterschwellig existieren die alten Dominanzstrukturen weiter, wenn auch abgeschwächt. Aber diese angeschlagenen und im Vergehen begriffenen Autoritäten fühlen sich nun verpflichtet, ihre Herrschaft mit freundlichen Gesichtern auszuüben. Hannah Arendt scheint richtig gelegen zu sein, als sie bemerkte, dass in der modernen Gesellschaft die alte Tugend der Aufrichtigkeit durch Etikette und Manierlichkeit ersetzt wurde. Dies passt gut zu einer Theater-Gesellschaft, in der das oberflächliche Rollenspiel Authentizität und Wahrhaftigkeit verdrängt hat. Auf den Punkt gebracht: Heute herrschen nicht mehr Werte und Moral, sondern leere Moralsignifikanten. Tradiert werden also nur mehr die symbolischen Hüllen des Moralischen, die innere Substanz ist verdampft und wurde durch die Nützlichkeitserwägung ersetzt. Auch hier dient die Wiener Politik als gutes Beispiel. Während auf der Vorderbühne von Gemeinschaft und Zusammenhalt die Rede ist, wird auf den Hinterbühnen der Politik, im Rathaus der Stadt, Klientelpolitik betrieben, die vornehmlich jene Vereine, Unternehmen, politische Gruppierungen, Medien und Beutegemeinschaften begünstigt, die dem eigenen politischen Spektrum angehören. Wenn es um Macht und Geld geht, ist das Zusammenhalten suspendiert und die Gemeinschaftlichkeit ad acta gelegt.
In der Familie oder am Arbeitsplatz werden Streitigkeiten »zivilisiert« und unterkühlt ausgetragen, als würde sich das postmoderne Leben in einem Eishaus oder auf einer Eisscholle am Nordpol ereignen. Die Streitthemen haben sich von Lippenstift, langen Haaren, Klamotten oder Knutschen am Schulhof...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.