Schweitzer Fachinformationen
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März 1945
Seine Augen suchten den Himmel ab. Sternenklar. Auch das noch. Er rückte das Koppel zurecht, straffte die Schultern und ging mit forschem Schritt auf das Tor zu. Seine Erscheinung strahlte Autorität aus. Am Pförtnerhäuschen erstattete er Meldung. Der Wachhabende winkte ihn durch. Aus einer Nebentür des Gebäudes trat ein junger Gefreiter, salutierte und stellte sich als Begleitschutz vor. Oh mein Gott, dachte er, der ist ja noch ein halbes Kind.
Sie überquerten den großen betonierten Platz. Kaum sichtbar zwischen anderen Gebäuden lag der Eingang. Zum Hauptquartier vom Dicken. Versteckt bei Potsdam Wildpark.
»Hier entlang, Herr Hauptmann«, meldete der Gefreite. Er wies auf eine unscheinbare Tür zwischen den Erdhügeln, öffnete sie und ließ ihm den Vortritt. Hinter ihnen fiel die schwere Stahltür mit einem dumpfen Laut ins Schloss.
Die Luft drinnen war erstaunlich frisch. Gasschleusenanlagen, fiel es ihm ein. Er folgte dem vorauseilenden Soldaten die Treppen hinunter. Tiefer und immer tiefer gingen sie in den unterirdischen Riesenbunker. Bis auf das Geräusch ihrer schweren Stiefel auf den Betonstufen drang kein anderer Laut zu ihnen.
Im Geiste rekapitulierte er noch einmal, was er bisher erfahren hatte. Wegen eines Führerbefehls. Deshalb war er hier. Jeder Deutsche wusste seit seiner Schulzeit, dass die zwei Sarkophage der beiden Preußenkönige in der Potsdamer Garnisonskirche standen. »Üb immer Treu und Redlichkeit!« Beinahe hätte er aufgelacht. Nicht fröhlich. Nein. Die Fröhlichkeit war ihm schon seit Langem vergangen. Nicht erst seit Stalingrad. Mein Gott, das ahnten doch alle, dass das nicht gut gehen konnte. Unser Paule, dachte er und musste sich für einen Augenblick am kalten Stahlgeländer festhalten. Paule mit den gutmütigen Augen. Ein Kerl, riesig wie ein Grizzly. Immer zu einem Scherz aufgelegt. Und lachen konnte er. So ansteckend, auch über sich selbst. Aber seit Stalingrad - aus und vorbei. Er atmete tief ein. Versuchte, den Druck auf der Brust loszuwerden. Wenigstens Kulle war noch da. Sein Bruder im Geiste, Pendant seit Kindertagen. »Mensch, mach endlich, Arne«, hatte Kulle damals heiser geflüstert. In der Ferne hörten sie bereits das Rollen der anfliegenden Flugzeuge. Sie standen dicht beieinander an der Brandmauer einer ausgebrannten Ruine in der Prinzenstraße. Die Luftschutzsirenen waren gerade verstummt. Die Straßen menschenleer. Nur sie beide. Wie in einem Vakuum. Kulle und er. »Biste besoffen, oder was? Mach schon. Überleben will ick. Verstehste? Du bist mein Freund. Nur du kannst mir aus der Scheiße raushelfen.« Da trieb er ihm die Axt mit der stumpfen Seite in die Schulter. Fing den keuchenden Körper auf. Rieb Erdklumpen und Ziegelstaub über den Stoff. In der Ferne hörte er bereits die Flak losballern. Wartete wachsam auf die ersten Einschläge. Als die Bomben auf den Potsdamer Platz niedergingen, schleifte er den Freund zum nächsten Bunker. Der Sani blickte kaum auf, sagte nichts, verband nur die Wunde. Am nächsten Morgen verließ der Transport den Lehrter Bahnhof und Berlin Richtung Osten ohne den Feldwebel. Erst viel später hatten sie erfahren, dass Paule in einem der Waggons war.
Er tastete nach dem Foto in seiner Brusttasche. Das Einzige, was ihm von Paule geblieben war. Und immer noch Krieg. »Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende«, fiel ihm ein Zitat von Erich Kästner ein. Den durfte heute auch keiner mehr lesen.
Fanatiker, Bauernfänger waren sie, die Nazis. Nach der Niederlage von Stalingrad hatte Goebbels die Männer auf den totalen Krieg eingeschworen. Noch heute wurde ihm schlecht, wenn er daran dachte. Dicht an dicht hatten sie gestanden. Kein Radrennen, keine Boxkämpfe mehr im Sportpalast. Nur das Kreischen von dem ausgemergelten Dünnen da vorn. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten. Und die Gesichter der Männer um ihn herum, begreifen die denn gar nichts?, hatte er gedacht. Gebrüllt hatten sie. Alle. »Ja, wir wollen den totalen Krieg!«
In Gruppen verpuffen individuelle Wert- und Verhaltensmaßstäbe, war ihm damals wieder eingefallen. Der Erklärungsversuch seines ehemaligen Geschichtslehrers, als sich beinahe sämtliche Mitschüler seiner Klasse gegen den Schwächsten unter ihnen wandten. Der dicke Hartmut mit der Stahlbrille, die ihm immer von der Nase zu rutschen drohte. Der sich vor allem und jedem fürchtete. Und er? Hatte sich nicht eingemischt. Das war das Schlimmste. Sich nicht einmischen.
Schon einmal hatte er vor den beiden Sarkophagen gestanden. Damals, als die Särge aus der Garnisonskirche in das Objekt »Kurfürst« verlegt wurden. In den unterirdischen Bunker in Eiche bei Potsdam. Die Befehlszentrale des Oberbefehlshabers der Luftwaffe. Göring. Das Bunkerlabyrinth galt als absolut bombensicher. Natürlich rechnete man mit verstärkten Luftangriffen auf Potsdam.
War der schwer gewesen, der Sarg. Nur in zwei Teilen konnten sie ihn aus der Gruft der Kirche nach oben transportieren. Potsdam und seine Könige, dachte er. Sein Leben lang hatte er die Monarchie verachtet. Die Parks, die Schlösser, den Prunk. Aufgewachsen in Kreuzberg. Erster Hinterhof. Drei Treppen. Der Abort unten in einem separaten Gebäude im Hof. Der Vater ein Stiller. Herrenschneider. War in jungen Jahren aus Bayern nach Berlin gekommen. Seine Mutter aus Pommern. Eine kluge, resolute Person, die dem Vater den Rücken frei hielt. Ein älterer Bruder, eine Schwester und er. Immer die Besten in der Schule. Er bekam eine Empfehlung für das Gymnasium. Eine gnadenlose Zeit. Nicht wegen des Lernens. Wissen hatte er stets aufgesogen wie ein Schwamm. Aber die Klassenkameraden. Mit keinem hatte er sich angefreundet. Eingebildete Herrchen, die verächtlich auf ihn herabblickten. Aber er hatte es geschafft. Einser-Hochschulreife. Das war er den Eltern schuldig gewesen. Durchzuhalten.
Und jetzt musste er retten, was ihm widerstrebte. Die ganze Preußenherrlichkeit mit ihrem Tschingderassa. Scheißkrieg, dachte er. Auch noch die Särge des Ehepaars von Hindenburg. Die hatte man auf die Schnelle von Ostpreußen über die Ostsee nach Kiel und von dort nach Potsdam in diesen Bunker geschafft.
Der Geheimbefehl steckte in der Brusttasche. Mehr als zwei Stunden lang hatten sie ihn mit dem Sachverhalt vertraut gemacht. Danach Vereidigung und Unterschrift aller Anwesenden. Ordnung. Klar. Ganz wichtig. Er verzog die Mundwinkel, sodass seine ernsten, regelmäßigen Gesichtszüge mit den wachen dunkelgrauen Augen spöttisch wirkten. Deutsche Bürokratie. Die musste sein.
Der Gefreite vor ihm wartete. Sie waren angekommen. Die Luft, immer noch frisch. Tolle Ingenieurleistung, dachte er. Aber der Gang. Schmal wie ein Handtuch. Das würde schwierig werden. Genau wie vor zwei Jahren in der Garnisonskirche. Hochkant. Na dann, prost Mahlzeit! Wenn das die beiden Majestäten wüssten. Unwillkürlich musste er grinsen. Gut, dass der andere vor ihm lief. In der Bevölkerung erfuhr kaum jemand etwas von der Umbettung. Die Potsdamer, königstreu wie eh und je. Wenn er nur an seinen alten Klassenlehrer dachte, der hatte jedes Mal feuchte Augen bekommen, wenn er von »seinen« Hohenzollern erzählte. Und jetzt, dachte er, ist die Kacke am Dampfen.
Sie betraten den hallenartigen Raum. Die Kisten waren gepackt. Über zweihundert Fahnen aus der Schlacht bei Tannenberg. Messkelche, Wandteppiche, ein japanisches Teeservice und die Bibliothek Friedrichs des Großen. Herr im Himmel, dachte er, und wer kümmert sich um die Menschen da draußen? Die können verrecken. Endsieg. Das Wort krallte sich in seine Gedärme.
Der Transport sollte in Etappen verlaufen. Vom »Kurfürst« über Magdeburg nach Naumburg zum Heeresfeldzeugamt und weiter nach Bernterode. Nach jeder Teilstrecke war ein Fahrerwechsel vorgesehen. Keiner durfte das Endziel kennen. Nur er wusste über den gesamten Ablauf von Anfang bis Ende Bescheid. Bernterode im Eichsfeld war zwanzig Kilometer von Nordhausen entfernt. Ein stillgelegtes Kalibergwerk. Sie durften keine Zeit verlieren.
Steifbeinig kletterte er aus dem Fahrzeug. Sie waren endlich am Zielort angekommen. Er reckte sich. Die Fahrt war kein Zuckerschlecken gewesen. Sie waren nachts gefahren. Tagsüber immer wieder raus und ab in den Straßengraben wegen der Bedrohung durch Tieffliegerangriffe. Zum Glück kein Feindbeschuss. Er blickte sich um. Hohe Tannen. Hügelige Wiesen. Beinahe romantisch, wenn man nicht wüsste, was sich hier abspielte. Das ganze Werk war ein Munitionsdepot. Tonnenweise wurden hier immer noch Granaten produziert. Zwei Teile Steinsalz, ein Teil Pulver. Und das alles nur mit Kriegsgefangenen und ein paar wenigen deutschen Feuerwerkern, dachte er.
Er durfte keine Zeit verlieren. Alles musste in dieser Nacht in die nicht mehr benutzten Stollen transportiert werden. Er ließ die Lastwagen entladen. Die Männer arbeiteten schnell, verloren keine überflüssigen Worte dabei. Zuerst mussten die Särge hinunter. Aber der Förderkorb war zu klein. Also wieder hochkant. Der Zinnsarg vom Alten Fritz zuerst. Auch als Leichnam hatte der seine Eigenarten, ging es ihm durch den Kopf. Nach mehr als zwei Stunden hatten es seine Männer endlich geschafft. Und ab dafür. Fünfhundertdreiundsechzig Meter. So tief waren die Könige noch nie gewesen, dachte er.
Fertig. Bald Mitternacht. Seine Männer hatten die Särge und die Kisten in einem Nebengewölbe vom Hauptgang untergebracht. Er überprüfte akribisch anhand der Listen noch einmal alle Behältnisse. Dann ließ er den Eingang mit Steinsalz verschließen. Danach Vereidigung auf Geheimhaltung aller Anwesenden mit Handschlag und Unterschrift. Ordnung, das können wir Deutschen, dachte er erschöpft.
Die neue Order für den nächsten Einsatz steckte bereits hinter der alten in seiner Brusttasche....
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