Schweitzer Fachinformationen
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Das moderne Verständnis von Hirnfunktionen und psychischen Erkrankungen ist tief geprägt durch die Projektion kolonialer Hierarchien auf das Gehirn: Vermeintlich höheren Hirnzentren und Funktionen wird die Aufsicht über die angeblich primitiven Triebe und Lüste zugeschrieben. Psychische Erkrankungen wurden lange als Verlust dieser herrschaftlichen Kontrolle verstanden und die Betroffenen wurden Machttechniken ausgeliefert, die aus den Kolonien reimportiert wurden. Andreas Heinz rekonstruiert die Geschichte der Revolten gegen diese rassistischen Konstruktionen wie auch der Gegenbewegungen. Lassen sich noch bis in gegenwärtige Formen achtsamer Selbstdisziplin Spuren der verinnerlichten Hierarchien des kolonialisierten Gehirns finden?
Wie entsteht der koloniale Blick? Wie verankert er sich im alltäglichen Diskurs, ist er selbstverständlicher Ausgangspunkt eines immer schon Gewussten, das keiner Referenzierung, keines Belegs mehr bedarf? Genauer gefragt: Wie kommt Bleuler auf die Idee, in einem ansonsten durchaus differenzierten Buch über die »Gruppe der Schizophrenien«[1] das Wunschdenken schizophrener Patientinnen und Patienten mit dem zum Singular reduzierten Objekt kolonialer Herrschaft in Afrika gleichzusetzen? Bereits die Rede vom »Objekt« der Herrschaft trifft das Geschehen nicht ganz: In seiner Arbeit zur Faschisierung des bürgerlichen Subjekts beschreibt Wolfgang Fritz Haug[2] den Einfluss unterschiedlicher Herrschaftstechniken auf die Subjektivierung im Sinne der Unterwerfung (lateinisch: subicere) wie der ideologischen Selbstkonstitution der so adressierten Personen. Die Frage ist also, welche Funktionen die Konstituierung der neu definierten »Gruppe der Schizophrenien« als vermeintliche Manifestation des Objekts kolonialer Herrschaft für die Beherrschung und Disziplinierung der Betroffenen wie der (zumindest im je eigenen Selbstverständnis) Gesunden hat. Bevor die Auswirkungen rassistischer Konstruktionen diskutiert werden können, stellt sich die Frage nach der Besonderheit oder Allgemeingültigkeit der hier aktivierten Bilder und Konstruktionen. Die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen ist, dass es sich um einen Prozess der sukzessiven Internalisierung kolonialer Grenzziehungen handelt.
In seinem Buch Traumzeit vertritt Hans Peter Dürr[3] die These, dass vorindustrielle Gesellschaften durch eine Grenzziehung zwischen dem Lebensraum der sozialen Gemeinschaft und der sie umgebenen Wildnis gekennzeichnet seien. Diese Grenze wurde räumlich markiert, beispielsweise durch eine Hecke, die das Dorf von der 32umgebenden, ebenso verlockenden wie bedrohlichen, unkontrollierbaren Natur abtrennte. Im europäischen Kontext sei die Hexe dann die Person, die »auf der Hecke reitend« den durch soziale Regeln domestizierten Bereich menschlicher Interaktionen immer wieder verlasse, um auf die andere Seite möglicher Erfahrungen zu gehen. Etwas romantisierend postuliert Dürr weiter, dass vorindustrielle Kulturen durch ritualisierte Initiationen gekennzeichnet waren, in denen junge Menschen zum Erwachsenwerden eine bestimmte Zeit in dieser Wildnis verbringen, wodurch sie um die Erfahrung der anderen Seite reicher in ihre Lebensgemeinschaft zurückkehren. Dürr selbst hat in seinen späteren ethnologischen Arbeiten statt auf individuelle Sinnsuche verstärkt auf soziale Prozesse in der Interaktion mit einer als fragil erlebten Umwelt fokussiert.[4] Er versuchte zu zeigen, »daß die >archaischen< Menschen weniger das Wissen liebten als das Leben, und daß sie es unternahmen, das Leben zu erhalten und immer wieder zu regenerieren«.[5] Unabhängig von solchen Fragen eines romantisierenden oder verzerrenden Blicks europäischer Ethnologen auf vorindustrielle oder nichteuropäische Bevölkerungen und ihre Lebensweisen ist aber der Hinweis relevant, dass eine moderne oder postmoderne Naturerfahrung, die sich im Wesentlichen auf Reservate beschränkt, die dem verwertenden Zugriff als Nationalparks oder Schutzzonen zumindest teilweise entzogen werden, von früheren Formen menschlicher Umweltbegegnungen substanziell abweicht.
Mit der seit dem Mittelalter in Europa zunehmenden Durchdringung vielfältig strukturierter Lebensräume durch zentralisierte staatliche Herrschaft verlagert sich die imaginäre Grenze zwischen »Zivilisation« und »Wildnis«. Systematisch werden Sümpfe entwässert, Wälder gerodet, und keine noch so entlegene Gemeinschaft entgeht der Besteuerung. Die im Inneren Europas verschwindende Wildnis wird auf die zu kolonialisierenden Weltregionen projiziert, auch wenn dies dem Erstaunen früherer Begegnungen widerspricht:
Als die ersten europäischen Seefahrer in die Bucht von Guinea kamen, waren sie voller Staunen: sorgfältig angelegte Straßen, mit prächtigen Feldern bedecktes Land, Menschen in prunkvollen Gewändern aus selbstgewebten Stoffen, bis in kleinste durchgeführte Ordnungen großer, wohlgeglieder33ter Staaten, machtvolle Herrscher, üppige Industrien - Kultur bis in die Knochen. Die Vorstellung des barbarischen [N-Wort] ist eine Erfindung Europas.[6]
Die »Erfindung« dient einem Zweck - der Rechtfertigung der Sklaverei der zu Millionen aus Afrika in die Plantagenwirtschaft der Neuen Welt verschleppten Personen.[7] Mit der Versklavung ändern sich die Vorstellungen: erscheinen Afrikaner in der Bildwelt des Mittelalters meist in Person eines der drei Heiligen Könige, mit vergleichbarem Ornat und derselben Würde ausgestattet wie ihre europäischen und asiatischen Kollegen, so setzt im 17. und 18.Jahrhundert die »Vertierung« der Abbildungen ein - afrikanische Gesichter werden verzerrt dargestellt, um möglichst affenartig zu erscheinen.[8]
Auf die Phase der Sklaverei folgt im 18.Jahrhundert die Zeit des europäischen Imperialismus, jetzt unter dem Vorwand, den von Europa selbst initiierten massiven Sklavenhandel zu beenden, wobei die afrikanischen Königreiche und Völker der kolonialen Herrschaft unterworfen wurden.[9] Auch Bleulers zu Beginn des 20.Jahrhunderts verschriftlichte Spekulation über den angeblichen [N-Wort] im Singular muss vor dem Hintergrund der Kolonialpolitik des Deutschen Reiches in Afrika gelesen werden. 1904 erheben sich die Herero und die Nama (die sogenannten >Hottentotten<) in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Die Herero werden bei einer Schlacht am Waterberg im heutigen Namibia geschlagen und fliehen in Richtung Omaheke-Wüste. General von Trotha proklamiert einen Rassenkrieg, die Armee setzt den fliehenden Herero nach und besetzt die Wasserstellen. Von Trotha gibt Schießbefehl auf Frauen, Kinder und Männer, die es wagen, sich den Wasserstellen zu nähern.[10] Der Schießbefehl wird später aufgehoben, aber es ist zu spät: »Die Verfolgung des Hereros zeigte die rücksichtslose Energie der deutschen Führung in glänzendem Licht. Wie ein halb zu Tod gehetztes Tier war der Feind von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht worden, bis schließlich die wasserlose Omahek-Wüste vollendete, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Ver34nichtung des Herero-Volkes.«[11] Es ist unter Historikern strittig, wie viele der etwa 80000 Herero überlebten und wie hoch die genauen Zahlen der in der Wüste verdursteten Opfer dieses Völkermords sind. Von Trotha selbst äußerte sich dazu wie folgt: »Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss.«[12]
Die Überlebenden werden - ebenso wie die Überlebenden des Aufstands der Nama, die einen anfangs erfolgreichen Guerillakrieg führen -in sogenannte Konzentrationslager gesperrt.[13] Diese Lager wurden vom britischen Feldmarschall und Politiker Herbert Kitchener im Krieg gegen die aus den Niederlanden stammenden Buren 1900 in Südafrika eingeführt. Etwa 120000 Kinder und Frauen wurden in diesen »concentration camps« interniert, etwa 26000 starben dort. Auch in den deutschen Konzentrationslagern überlebten von ca. 2400 Nama nur etwa 500.[14] Der Völkermord kostet nach plausiblen Schätzungen in etwa 65000 Herero sowie ca. 7000 Nama das Leben.[15] Es ist nicht der einzige Völkermord im deutschen Kolonialismus: »In Tanganjika rottete die deutsche Kolonialverwaltung den Stamm der Maji-Maji vollkommen aus. Die Dörfer wurden zerstört, die Ernte verbrannt, die Felder verwüstet. Der Stamm wurde dem Hungertod ausgesetzt. Zahl der Toten: 120000.«[16]
In den Jahren nach dem Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika findet sich eine von den Kolonialbehörden geführte...
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