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LUKAS HASELBÖCK
Zu Heinz Holligers (S)irató und Recicanto
1. Alles Vergängliche: Ein Gleichnis?
Ist die Welt, die uns umgibt und sich seit jeher in steter Veränderung befindet, bloß auf Evolutionsprozesse zurückzuführen? Oder ist dieses >faktisch Vorhandene< auch Gleichnis für etwas Anderes, Höheres?
Diese Frage ist so alt, dass wir nicht wissen, wann sie erstmals gestellt wurde. Seit Jahrtausenden lehrt die Theologie, dass die Schöpfung Gottes Wort verkünde. Auch in der Neuzeit, als die Rationalisierung der Lebenswelt und die industrielle Revolution um sich griffen - eine Tendenz zur >Entzauberung der Welt<, die das Vertrauen in überlieferte Vorstellungen erschütterte -, ging der Glaube an die allumfassende Sprachfähigkeit des Universums nicht zur Gänze verloren: In der Kunstauffassung der Romantik blieb er in verwandelter Form erhalten. Insbesondere der Musik wurde das Potenzial zugeschrieben, dort zu sprechen, wo die Sprache endet. In seiner Rezension von Beethovens 5. Sinfonie stellte E. T. A. Hoffmann fest, diese Musik sei romantisch, weil sie eine Ahnung des Absoluten vermittle: »Die Musik schliesst dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine Welt, die nichts gemein hat mit der äussern Sinneswelt, die ihn umgiebt, und in der er alle durch Begriffe bestimmbaren Gefühle zurücklässt, um sich dem Unaussprechlichen hinzugeben.«1
In der Musikalischen Rhetorik, welche die Musik jahrhundertelang nachhaltig prägte, war den Komponisten jedoch vor allem auch daran gelegen, das in der Welt Vorhandene und gefühlsmäßig Fassbare musikalisch abzubilden. Darin liegt eine seltsame Ambiguität begründet: Einerseits wollte man die Distanz zwischen Musik und Sprache (als fasslicher Sinnzuschreibung) überbrücken und griff dabei auf die Figurenlehre der Musikalischen Rhetorik zurück. Andererseits lebte der alte Traum, Unaussprechliches zu artikulieren, in Dichtkunst und Musik weiter fort. Die Sinnvokabeln der Rhetorik allein waren ungeeignet, diesen Traum in Klang zu setzen. Zahlreiche Meisterwerke - man denke etwa an Johann Sebastian Bach, Robert Schumann oder Alban Berg - sind somit nicht ausschließlich durch eine bildhafte und offen zugängliche Narrativität geprägt. Manches in dieser Musik liegt an der Oberfläche, anderes ist jedoch verborgen: Diese Komponisten entwickelten eine Meisterschaft in der Codierung durch Zahlen oder Tonbuchstaben mittels abstrakter Verfahren, die auf die Korrelation zwischen Ordnungssystemen abzielen. Was aber bedeutet dies für den Hörer?
Eine der Antworten lautet, dass eine restlose Dekodierung zumeist nicht intendiert ist. Romantiker wie Schumann oder Berg sind davon überzeugt, dass das Universum von einer immensen Fülle rätselhafter Chiffren durchdrungen sei. Man kann diesem Zusammenhang nachspüren, ihn aber niemals endgültig fassen. Ein Beispiel ist Schumanns Carnaval. Scènes mignonnes sur quatre notes op. 9: Durch den Maskenball, den der Komponist imaginiert, tanzen die Tonbuchstaben A-S-C-H bzw. As-C-H, die für ein böhmisches Städtchen sowie den Namen S-C-H-u-m-A-n-n stehen. Selten erklingen sie in dieser Reihenfolge: In unterschiedlichen Varianten und Permutationen schlingen sie sich durch das Notenbild. Überdeutlich manifestieren sie sich lediglich in den >Sphinxes< - gewichtigen Pfundnoten, die jedoch nur in der inneren Vorstellung des Spielers klingende Gestalt annehmen sollen. Hier wird Schumanns Überzeugung deutlich, dass sich die geheime Ordnung des Universums nicht durch intellektuelle Erkenntnis, sondern durch hingebungsvolles Lauschen erschließe. Demgemäß stellt er seiner Fantasie C-Dur op. 17 die folgenden Zeilen Friedrich Schlegels voran: »Durch alle Töne tönet im bunten Erdentraume ein leiser Ton gezogen, für den, der heimlich lauschet.«2
2. Über Heinz Holliger
Heinz Holliger (*1939) wurde in ein »Zeitalter der Extreme«3 hineingeboren - ein Szenario des Umbruchs, in dem die Auffassung, dass der Mensch in der Lage sei, sinnstiftende Prozesse zu initiieren, vielfach radikal hinterfragt wurde. Nicht nur Philosophen wie Claude Lévi-Strauss, sondern auch serielle Komponisten wie Pierre Boulez nahmen an, dass Sinn nicht primär vom Menschen als Sinnstifter ausgehe, sondern Strukturen als Sinnträgern inhärent sei - eine Tendenz zur Entsubjektivierung, die Karlheinz Stockhausen 1952 folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Der Komponist erlebt das Entstehen von Musik. Sie entsteht vor ihm, er entreißt sie sich nicht mehr.«4
Holliger hatte sich in der seriellen Musik nie wirklich heimisch gefühlt, sich aber für kurze Zeit der seriellen Disziplin unterworfen, um dann mit Glühende Rätsel (1964) und Der magische Tänzer (1963-65) aus diesem selbst errichteten »Käfig«5 auszubrechen. Bereits früh hatte er erkannt, dass er Romantiker sei - eine Einstellung zur Welt6, die er nicht gewählt habe, sondern in der er sich »am meisten bei sich selbst fühle«.7 Es überrascht demnach nicht, dass seine »semantisch aufgeladene, ja geradezu überladene«8 Musik vor allem auch durch Strategien musikalischer Sprachhaftigkeit geprägt ist.
Der Komponist, ein Forschergeist und intimer Kenner der Musikgeschichte, ist sich dieser Tatsache voll bewusst. Er reflektiert die Sprachhaftigkeit seiner Werke in Bezug auf musikalisch-rhetorische Figuren, historisch vorgeprägte Tonsymbole, soggetti cavati und Kryptogramme (hier verweist er auf Bach, Zelenka, Schumann, Berg und Messiaen) und betont, dass Zahlen für ihn etwas Magisches haben. All die Chiffren, die uns in Werken vergangener Jahrhunderte begegnen, seien nicht verloren, sondern im Unterbewusstsein präsent. Komponisten könnten auf diesen Fundus zurückgreifen [HH9].
Diese Grundhaltung der >Verinnerlichung< ist aber nur eine Seite von Holligers vielschichtiger Persönlichkeit. Sie wird durch eine ebenso präsente Gegentendenz ausbalanciert: Holliger ist ein bekannter Interpret, ist auf den Bühnen der Welt zu Hause und bezeichnet sich als »Berufsatmer«.10 Dies hat entscheidenden Einfluss auf seine kompositorische Arbeit: Im Schaffensprozess werden die komplexen Bezüge, die seiner Musik zugrunde liegen, energetisch überformt. Dieser scheinbare Widerspruch zwischen intellektueller Präzisionsarbeit (im Sinne semantischer Vielbezüglichkeit) und überbordender Musizierfreude (im Sinne musikalischer Eigengesetzlichkeit) wurde häufig bemerkt. So schrieb Roman Brotbeck über das Violinkonzert »Hommage à Louis Soutter« (1993-95/2002), dem Komponisten gelinge hier »das paradoxe Meisterstück, dass jeder Ton immer blosser Ton bleibt und doch nie blosser Ton ist«.11
Diese Grundzüge - einerseits die Sprachfähigkeit im weitesten Sinn (Abschnitt 2), andererseits der große Atem (Abschnitt 3) - sollen im Folgenden anhand der Werke (S)irató. Monodie für großes Orchester (1992/93) und Recicanto für Viola und kleines Orchester (2000/01) im Detail erörtert werden.12 Dabei werden die Skizzen, die sich in der Sammlung Holliger der Paul Sacher Stiftung Basel befinden, berücksichtigt.13
1. (S)irató. Monodie für großes Orchester (1992/93)
1992 war Sándor Veress gestorben - jene Lehrerpersönlichkeit, der Holliger zeit seines Lebens großen Respekt entgegengebracht hatte. Der in (S)irató weithin präsente Gestus der Klage14 ist auf dieses Ereignis zurückzuführen und lässt sich lesend und hörend auf mehreren Ebenen nachvollziehen.
1.1 Musikalische Rhetorik
Der Aufschrei der ersten beiden Takte ließe sich als exclamatio-Figur fassen - ganz im Sinne jenes Zorns (»irato«), den Holliger im Titel andeutet. Dazu kontrastiert der absteigende chromatische Gang (passus duriusculus), der traditionell für Leid steht und im metrisch freien parlando-Duktus der Takte 4 (Notenbeispiel 3), 8, 10 und 12-14 in den Violoncelli erklingt. Dieser sprachähnliche Gestus kommt allerdings häufig ins Stocken: An signifikanten Stellen (z. B. T. 12, 17 oder 19) reißen die Phrasen crescendierend ab. Diese Momente ließen sich mithilfe der rhetorischen Figuren abruptio und aposiopesis beschreiben. In Holligers (S)irató und Recicanto vermitteln sie die Unfähigkeit zur Artikulation und die Gefahr eines vorübergehenden Sprachverlusts - anders als etwa bei György Kurtág15, in dessen Musik sich die aposiopesis zusätzlich auch mit einer Beckett'schen, beinahe clownesken Doppelbödigkeit verbindet. Bei Holliger ist hingegen existenzieller Ernst bestimmend: Man hält inne, weil man »nach einem Schrei nicht weiter weiß« [HH]. Mit Fortdauer des Stücks festigt sich der Zusammenhang - eine Beruhigung, die mit einem Aufstieg (anabasis) und einer Intensivierung des Orchesterklangs einhergeht.
1.2 Codierung durch Zahlenfolgen
Zu Beginn der Partitur - gleich unter dem Titel »(S)irató«. Monodie für großes Orchester (in memoriam Sándor Veress) - notiert Holliger das Geburts- und...
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