Schweitzer Fachinformationen
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Proteo Laurenti raste vor Wut, Eifersucht und Verzweiflung. Er hatte sich die ganze Nacht unruhig im Bett hin und her gewälzt, geschwitzt und gefroren und kaum geschlafen. Ihm war speiübel.
Es war der 19. November, ein Sonntag, und das Tageslicht konnte sich kaum gegen die schwarzen Sturmwolken durchsetzen. Die Bora nera fegte seit gestern abend über die Stadt und riß alles mit sich, was nicht fest verankert war. Fensterläden klapperten, und immer wieder hörte man einen Knall von Blumentöpfen oder anderen Gegenständen, die auf die Straße oder die enggeparkten Autos krachten. Vom Hafen her kam das einzig versöhnliche Geräusch: der Wind schien Harfe zu spielen auf den Wanten und Stegen der Segelschiffe.
Laura hatte ihm gestern abend eröffnet, daß es einen anderen Mann in ihrem Leben gebe. Sie wisse nicht, ob sie ihn liebe. Sie brauche Zeit, um dies zu überprüfen, und wolle in aller Ruhe und allein darüber nachdenken. Proteo Laurenti mußte sie beinahe zu diesem Geständnis zwingen. Seit Wochen hatte er ihr Vorhaltungen gemacht, daß sich etwas verändert habe zwischen ihnen. Sie hatte es lange abgestritten. Bis gestern abend. Es sei Pietro, erzählte sie, der Versicherungsvertreter. Er habe sich vor einiger Zeit in sie verliebt, und sie genieße seine Aufmerksamkeit. Nein, geschlafen habe sie nicht mit ihm. Sie werde für ein paar Tage wegfahren, um mit sich ins Reine zu kommen.
Laura hatte die Nacht in Patrizia Isabellas Zimmer verbracht. Er hörte sie schon vor sieben Uhr im Bad, danach ihre Schritte in der Küche. Er stand auf, hoffte, sie doch noch umstimmen zu können, und fand sie schon im Mantel, vor gepackten Taschen im Flur, die Schlüssel in der Hand. Sie verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuß und entschlüpfte ihm, als er sie unsicher zu umarmen versuchte. Dann fiel die Tür hinter Laura ins Schloß, und Proteo stürzte verzweifelt zurück ins Schlafzimmer, vergrub sich unter der Decke und drosch mit aller Kraft auf die Kissen ein, bis sich die graue Müdigkeit, die ihm von der Nacht geblieben war, wieder über ihn schob und er in einen unruhigen, bleiernen Schlaf fiel.
Um neun Uhr war Proteo Laurenti klapprig auf den Beinen und irrte durch die Wohnung. Er hatte weder Lust, Kaffee zu machen, noch Musik zu hören oder zu lesen, wie er es Sonntag morgens gerne tat, wenn der Rest der Familie noch schlief. Schließlich ging er in Marcos Zimmer. Sein Sohn wunderte sich, als er die Augen aufschlug, über den kummervollen Blick seines Vaters.
»Was ist los, Papà?«
»Ich wollte dir sagen, daß Laura für einige Zeit weggefahren ist. Wir haben gewaltige Probleme, und sie will darüber nachdenken.«
»Was?« Marco schoß empor.
»Sie hat eine Geschichte mit einem anderen Mann.« Proteo lehnte sich an den Türrahmen. »Sie will allein sein, um sich über ihre Gefühle klar zu werden. Vielleicht wird ja alles wieder gut«, sagte er kleinlaut.
»Mit wem?« fragte Marco.
»Mit Pietro, dem Versicherungsvertreter.«
»Das darf nicht wahr sein! Mit diesem Langweiler?« Marco war entsetzt. »Ist sie mit ihm weggefahren?«
»Nein! Angeblich nicht. Sie wollte nach San Daniele zur Großmutter. Ob sie ihn trifft, weiß ich nicht. Aber ich gehe davon aus.«
»Ich ruf sie an!«
»Nein, Marco, laß sie. Sie wird sich selbst melden. Ich glaube, sie braucht erst mal Ruhe.«
»Warum hat sie nicht mit mir gesprochen?«
»Wir sind um ein Uhr schlafen gegangen. Du warst wie üblich noch nicht zu Hause und um sieben Uhr ist sie schon losgefahren.«
»Sie hätte mich wecken müssen!« Marco warf die Bettdecke zurück und stand kopfschüttelnd auf. »Ich versteh das nicht! Warum bloß?«
»Das frage ich mich auch.«
Marco schlurfte in die Küche, stellte fest, daß kein Frühstück auf dem Tisch stand, wie sonst am Sonntagmorgen, suchte die Espressokanne und setzte Kaffee auf. »Ich dachte, Pietro ist verheiratet?«
»Deine Mutter auch!«
»Seit wann geht das schon?«
»Keine Ahnung! Seit dem Sommer vielleicht.« Er zuckte die Achseln und setzte sich an den Küchentisch, als Marco den Kaffee brachte. Während draußen der Sturm ungebrochen tobte, unterhielten sich Vater und Sohn noch eine halbe Stunde über die ernsten Dinge des Lebens. Dann beschloß Proteo Laurenti, trotz des Unwetters einen Spaziergang zu machen. Er wollte Zeitungen kaufen und sich ins »Caffè San Marco« setzen. Er hoffte, sich so etwas zerstreuen zu können. Vielleicht fiel ihm ein Weg ein, Laura zur Rückkehr zu bewegen.
Es hatte wieder zu schneien begonnen, und die patschnassen Schneeflocken wurden von der Bora fast waagerecht durch die Straßen gepeitscht. Wenige Autos fuhren im Schrittempo vorbei. Nach den Spuren auf dem Gehweg zu schließen, hatte sich bis jetzt kaum ein Fußgänger hinausgewagt. Drei Häuser weiter stand die Feuerwehr. Ein Mann versuchte auf der zum vierten Stock ausgefahrenen, schwankenden Drehleiter einen nur noch an einem Haken schaukelnden Fensterladen abzunehmen, bevor der Wind ihn auf die Straße schleuderte. Laurenti schlug den Kragen hoch, wechselte die Straßenseite und ging nahe an den Hauswänden entlang. Die Naturgewalten, die ihm ins Gesicht peitschten, taten ihm gut, auch wenn sie ihn nicht von seinem Kummer ablenken konnten. Er kam an den geschlossenen Rolläden der Galerie seiner Freunde vorbei, mit denen er jetzt gerne gesprochen hätte. Ihre Anteilnahme hätte ihn getröstet. Doch am Sonntagmorgen war mit ihnen nicht zu rechnen. Wahrscheinlich lagen sie noch mit Barney, dem kleinen Terrier, im Bett.
Die Nässe drang durch die Ledersohlen seiner Halbschuhe. Kurz vor dem Zeitungsladen kam ihm ein anderer Mann entgegen, die Schultern hochgezogen und den Schal fast bis unter die Augen gewickelt. Sie begrüßten sich knapp, und Laurenti ging als erster hinein. Die Verkäuferin trug Wollhandschuhe, die ihre Fingerspitzen frei ließen, und eine dicke Lammfell-Jacke. Der kleine Gasofen war zu schwach, den Laden ausreichend zu beheizen.
»Was für ein herrlicher Tag«, begrüßte sie Laurenti.
»Das kannst du laut sagen!«
»Wie lange das wohl dauern mag?«
»Die Voraussagen geben nicht viel Grund zur Hoffnung.«
»Fast wie im Winter 1984/85«, sagte der andere Mann. »Damals war am Molo Audace sogar das Meer zugefroren.«
»Gib mir bitte den >Piccolo<, den >Corriere< und >Il Sole 24 Ore<.« Laurenti war nicht zum Plaudern aufgelegt. Obwohl er seit über fünfundzwanzig Jahren in Triest lebte, konnte er sich noch immer nicht daran gewöhnen, daß die Stadt tagein tagaus das zentrale Gesprächsthema für ihre Bewohner blieb, über das sie sich unermüdlich und endlos wiederholend unterhalten konnten. Wer erinnerte sich schon an einen Winter vor sechzehn Jahren?
Die Verkäuferin legte die Zeitungen aufeinander. »Fünftausendzweihundert.«
Er warf das Geld auf den Tisch, dann fiel sein Blick auf das Zigarettenregal hinter ihr. »Und eine Schachtel Marlboro und ein Feuerzeug, ein rotes, Gianna!«
»Was? Du rauchst doch gar nicht, Proteo!«
»Für alle Fälle.«
»Fünfzwei und sechsacht... genau zwölftausend.« Sie schüttelte den Kopf und sparte sich den Kommentar, schließlich lebte sie davon, das Zeug zu verkaufen.
Er zog ein paar weitere Geldscheine und Münzen heraus, klemmte die Zeitungen unter den Arm, steckte Zigaretten und Feuerzeug in die Jackentasche, schlug den Kragen wieder hoch und ging zur Tür.
»Hoffen wir, daß es bald vorbei ist. Buona giornata!«
»Gleichfalls, Proteo, und grüß Laura von mir!«
»Mach ich«, brummte er und zog die Tür auf. Eine heftige Böe schlug in den Laden und blätterte aufgeregt die Titelseiten einiger Zeitschriften um. Laurenti zog die Tür kräftig hinter sich zu und machte sich auf den Weg. Er kämpfte sich gegen die Bora durch die graue Stadt, die an diesem Morgen nicht zu erwachen schien.
Fünfzehn Minuten später saß er im »Caffè San Marco«, dem alten denkmalgeschützten Kaffeehaus auf der Rückseite der Synagoge. Es war das einzige aus jener großen Zeit der Stadt, das unverändert erhalten geblieben war, und man hatte immer den Eindruck, daß jeden Moment einer der famosen Dichter von einst eintreten könnte. Die Kellner wunderten sich, den Polizisten am Sonntagvormittag hier zu sehen. Er saß sonst nur unter der Woche in der Mittagspause am stets gleichen Tisch und las. Und heute hatte er sich nicht einmal rasiert.
Die letzten Wochen waren hart gewesen. Der Staatsanwalt hatte eine Aktion gegen die illegalen Chinesen in Triest von langer Hand vorbereitet. Unzählige und endlose Koordinationssitzungen gingen der Razzia im ganzen Stadtgebiet voraus. Der Untersuchungsrichter gab am Ende grünes Licht, und vergangenen Freitag hatten sie zugeschlagen: Sechzig Streifenwagen und dreihundert Mann Besatzung von der Polizia Statale und der Guardia di Finanza durchsuchten gleichzeitig dreizehn Geschäfte, neun Restaurants und siebenundzwanzig Wohnungen. Es war die große, seit langem erwartete Aktion gegen die Chinesen, die, vorwiegend über Belgrad kommend, die Stadt seit einem Jahr überrannten. Sie hatten einen Laden nach dem anderen eröffnet, viele Immobilien zu kraß überhöhten Preisen gekauft und grundsätzlich bar bezahlt. Man erzählte sich auch die Geschichte von den sechs Lieferwagen, die einer von ihnen in einem Autohaus gekauft und die Scheine auf den Tisch geblättert hatte, als bezahle er ein Pfund Tomaten. Die halbe Stadt vermutete, daß das Geld kaum aus legalen Quellen stammte.
Die Ausbeute der Durchsuchung war beträchtlich: Gefälschte Dokumente, gefälschte Markenware, illegale Einwanderung, Schwarzarbeit und Glückspiel, Erpressung und Geldwäsche, mehr als nur ein Mordverdacht. Der Einsatz...
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