Schweitzer Fachinformationen
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Athos fand sie erst nach langer Suche. Mit dem Bus war er vom Zentrum zu dem grauen Wohnklotz am Stadtrand hochgefahren und hatte sich kurz nach elf unschlüssig für einen der abweisenden Eingangstürme entschieden. Wilde Sprayer hatten die grauen Stahlbetonwände mit unverständlichen Symbolen dekoriert. Als man ihn damals verhaftete, waren Schmierereien an den Hauswänden in Triest noch selten gewesen. Zaghaft stieg er das zugige Treppenhaus hinauf, bis er schließlich mit dem Fuß die breite Glastür zu einem endlosen Flur mit schwarzem Kunststoffboden und schwacher Beleuchtung aufstieß. Kein Mensch außer ihm war hier unterwegs. Die einsame Leuchtreklame einer Apotheke war der einzige Kontrast in der ansonsten anonymen Umgebung. Wer eintreten, Medikamente kaufen wollte, musste klingeln, stand an der Tür. Nach der ersten Ecke kam er sogar an einem karg eingerichteten Postamt vorbei, das an diesem Morgen geöffnet hatte. Nur die Werke der Sprayer brachten etwas Abwechslung in die Tristesse, wobei sie in diesen Korridoren offiziell angebracht worden sein mussten: Es waren sorgsam gestaltete Bilder mit ironischen Kommentaren, die karikaturengleich die kalte Betonarchitektur und ihre Bewohner illustrierten. Die Flure im Zellentrakt des Gefängnisses, in dem er die letzten siebzehn Jahre eingesessen hatte, waren ebenso karg gewesen, dafür sauberer und besser ausgeleuchtet. Aristèides Albanese erinnerte sich nicht mehr, an welchem der verschlossenen Treppenhäuser zu den oberen Etagen er nach dem Klingelschild suchen musste. Über zweieinhalbtausend Menschen wohnten hier, und erst am siebten Eingang fand er den kaum noch lesbaren Namen: Melissa Fabiani. Er hatte vergebens geläutet, sich schließlich die Appartmentnummer eingeprägt, war am Übergang zum angehängten zweiten, nicht weniger labyrinthischen Gebäudekomplex vorübergegangen. Im nächsten Flur standen schlecht gekleidete Frauen rauchend vor dem Schild einer Bar, wo auch Tabakwaren und Zeitungen verkauft wurden. Neben dem Eingang warb ein Streifenplakat mit der Schlagzeile der lokalen Tageszeitung: Tonino Gasparri freigesprochen. Tatbestand der Korruption verjährt.
Aristèides schob angewidert die Zeitung mit dem Foto des Politikers vom Tresen und bestellte. Die grauen Schlieren auf den kreisrunden Fenstern verschleierten den Blick auf den fernen Hafen, die Öltanker und Containerschiffe unten in der Stadt. Es beruhigte ihn, dass die Gläser und Kaffeetassen aus der Spülmaschine kamen.
Tante Milli saß an einem Tisch und war ins Kartenspiel mit anderen Greisen vertieft, vermutlich die einzige Abwechslung, der sie täglich folgte. Trotz ihrer Sauerstoffmaske und des Apparats, der auf Rollen neben ihrem Stuhl stand, erkannte er sie sofort. Sie schenkte dem bärtigen und langhaarigen Riesen, der sie vom Tresen aus fixierte, keine Beachtung. Athos war von ihrem Anblick erschüttert. In ihren Briefen, die ihn Woche für Woche in der Haftanstalt erreichten, hatte sie sich nie über ihre Gesundheit beklagt. Als sie die letzte Karte ausgespielt hatte, bezahlte er seinen Espresso und trat endlich an ihren Tisch.
»Tante Milli«, sagte er.
Die Alte schaute zögernd zu ihm auf, und erst als er seinen Namen nannte, erhellten sich ihre Züge. Melissa nahm die Atemmaske ab. Wie früher, als sie gut im Geschäft gewesen war und die Freier Schlange gestanden hatten, waren ihre Lippen grell geschminkt. Und trotz ihrer Gebrechlichkeit lackierte sie sich noch immer die Nägel. Entschieden drückte sie sich aus ihrem Stuhl und umarmte ihn, so fest sie konnte. Ihre Arme reichten ihm kaum auf den Rücken.
»Kiki? Bist du das wirklich? Vor lauter Haaren sieht man dein Gesicht nicht.« Sie strahlte, ihre Augen blitzten fröhlich, die Lachfalten durchzogen ihr Gesicht, dann verbarg sie es an seiner Brust und hielt sich am Revers seines elfenbeinfarbenen Jacketts fest. »Seit wann bist du draußen? Warum hast du mir nicht geschrieben?«
»Ach, Tante Milli.« Seine kräftigen Hände hielten sie an den Schultern. »Ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, vorzeitig rauszukommen.« Er überging, dass er bereits seit dem Sommer zurück in der Stadt war.
»Hast du dir im Bau angewöhnt, dein eigenes Besteck mit dir herumzutragen? Kochen da auch schon die Chinesen?« Sie zeigte auf die Essstäbchen und den Löffel, die aus der Brusttasche seines Sakkos ragten. »Und rasieren tut man sich im Gefängnis wohl auch nicht. Ohne Bart warst du hübscher, aber das wird schon wieder. Hoffentlich hast du dich wenigstens nicht tätowieren lassen.«
»Spielst du weiter, Melissa, oder müssen wir uns nach Ersatz umsehen?«, fragte eine ungeduldige Stimme vom Tisch.
Die Alte winkte glücklich ab, ihre Hände zogen ihn zu sich herunter, sie küsste ihn herzhaft auf beide Wangen, und ein roter Lippenabdruck blieb auf Höhe seines Jochbeins zurück. »Heute ist ein großer Tag. Du wirst mir alles erzählen, nicht wahr, Kiki?«
»Ich habe eingekauft, Tante Milli.« Wie lange hatte er seinen Kosenamen nicht mehr gehört? Nur sie durfte ihn so nennen. »Ich werde dir ein Mittagessen zubereiten, wie du ewig keines hattest. Darfst du alles essen, was du möchtest?«
»Alles, was mir schmeckt, Kiki.« Die Alte hängte sich bei ihm ein und tippelte hinaus in den langen Flur, das Beatmungsgerät folgte ihr wie ein Kinderspielzeug auf Rädern. Aristèides fürchtete, mit ihm zu kollidieren. Der Barista rief ihr einen Gruß nach, den sie nicht hörte, während ihre Mitspieler aufgeregt tuschelten, wer der bärtige Fünfzigjährige im hellen Anzug sein mochte, dem das zu einem mächtigen Pferdeschwanz gebundene kastanienbraune Haar tief über den Rücken fiel.
Als sie im Aufzug zur zweitletzten Etage des kolossalen Gebäudes fuhren, erklärte sie das Atemproblem. Sie musste das Gerät nicht ständig benutzen, ihre chronische Bronchitis ließ noch genügend Zeit zum Essen, Duschen und anderem. Kiki möge sich keine Sorgen machen, seit zwei Jahren ziehe sie das Ding neben sich her und habe sich so daran gewöhnt, dass sie es kaum mehr wahrnehme. Und wie er gesehen habe, könne sie beim Kartenspiel durchaus noch gewinnen. Nur sei sie schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr aus diesem Wohnkomplex herausgekommen, sie erlebe die wahre Welt höchstens noch vom Balkon ihrer Zweizimmerwohnung aus. Wenigstens habe sie von dort einen unverbaubaren Blick aufs Meer.
»Ich koch dir was Feines zu Mittag, Tante Milli«, sagte er, während sie die Wohnung hinter sich mit einer Sicherheitskette verschloss.
»Den Tisch decke aber ich, sonst habe ich das Gefühl, zu gar nichts mehr zu taugen. Und keine Sorge, mein Besteck ist sauber. Setz dich erst einmal hin und erzähl mir alles.« Melissa Fabiani hob die Atemmaske an, damit er sie besser verstand, wies ihm den Platz auf dem Sofa zu und tippelte in die Küche, wohin ihr Beatmungsgerät ruckweise folgte. Aristèides Albanese strich sich durch den dichten Bart, wie immer wenn er sich zur Ruhe zwang. Als das Geschirr neben dem Esstisch auf dem Boden zersprang, machte er sich Vorwürfe, aber die alte Frau nahm lachend einen Besen aus dem Wandschrank. »Scherben bringen Glück, Kiki. Und wenn heute kein Glückstag ist! Lass schon, das mach ich selbst. Wenn ich keine Teller mehr habe, gebe ich dir Geld, damit du mir neue kaufst. Setz dich wieder.« Wenig später kam sie mit einem Aschenbecher zurück und ließ sich neben ihm auf dem Sofa nieder.
»Aber, Tante Milli, in deinem Zustand solltest du nicht rauchen«, mahnte er, als sie sich setzte, die Maske wieder abnahm, eine extradünne Zigarette ansteckte und zwei Züge tat, die seiner Wahrnehmung nach tiefer waren als jene, die sie aus dem Gerät nahm, das sie am Leben halten sollte.
»Ich hab doch sonst kein Vergnügen mehr. Hast du es dir im Gefängnis abgewöhnt, Kiki?« Sie versuchte, einen Hustenanfall zu unterdrücken.
»Trüffel, Tante Milli. Weißer Trüffel aus Istrien, der hat jetzt Saison. Früher bist du verrückt danach gewesen. Und die Tagliolini habe ich heute Morgen selbst gemacht.«
Athos schraubte einen Glasbehälter auf und hielt ihn der alten Frau unter die Nase, die mit geschlossenen Augen den Duft der frischen Knolle einsog. Gleich darauf nahm sie den letzten Zug von der Zigarette, die fast bis zum Filter aufgeraucht war.
»Ich liebe den Geruch. Eine Freundin hat früher immer gesagt, es erinnere sie an drei Tage ungewaschenen Sack«, lachte sie hustend, wurde aber sogleich ernst. »Du musst auf dein Geld achten. Das Zeug ist wahnsinnig teuer, und im Gefängnis hast du nichts verdient.«
»Ein bisschen schon, mach dir keine Sorgen. Heute ist ein Festtag. Endlich haben wir uns wieder.«
Nachdem er ihr eine halbwegs plausible Geschichte über seine vorzeitige Entlassung erzählt und dabei unterschlagen hatte, dass er schon ein Vierteljahr draußen war, erhob Athos sich von dem durchgelegenen Sofa und ging in die kleine Küche hinüber, wo er eine Flasche Weißwein ins Eisfach des nur spärlich bestückten Kühlschranks legte und die Zutaten ausbreitete. »Mach dir keine Sorgen, Tante Milli. Ich finde mich in jeder Küche zurecht. Setz dich, streng dich bitte nicht an.«
»Ich will dir beim Kochen Gesellschaft leisten. Was hast du eigentlich im Knast zu essen bekommen, Kiki? Ist der Fraß dort wirklich so schlimm, wie sie im Fernsehen immer sagen?«
Selbst hinter Gittern hatte Aristèides Albanese Schlagzeilen gemacht, doch Melissa Fabiani waren die Meldungen entgangen, dass der wegen Totschlags zu zwanzig Jahren verurteilte Gastronom einen Teil der Mensa seines Gefängnisses in ein feines Restaurant verwandelt hatte. So wie er von...
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