Schweitzer Fachinformationen
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Diese Geschichte beginnt mit einem Cappuccino im Café Hadley's im Hamburger Stadtteil Rotherbaum. Das Café, benannt nach der ersten Frau Ernest Hemingways, wurde vor 25 Jahren in der ehemaligen Notaufnahme des Rote-Kreuz-Krankenhauses Beim Schlump eingerichtet, nachdem ein Investor den unpraktisch gewordenen Prunkbau aus der Zeit des kaiserlichen Gesundheitswesens erworben hatte, um die Krankensäle in gewinnbringende Mietwohnungen zu verwandeln. Seit damals betreibt Tina das Café, unsere Schwiegertochter und Mutter unserer Enkelinnen Hadley und Hannah, und sie hatte von Anfang an den Ehrgeiz, hier, am Rande des Univiertels, Raum und Gelegenheit für Gespräche und Musik zu schaffen. Deshalb bat sie immer wieder Dozenten aus den umliegenden Instituten in ihr Café, um dort Vorträge zu halten über Themen wie "Was ist eigentlich Geld?" oder "Wie laut war der Urknall?"
An einem Sommertag im Jahr 2017 - in den USA regierte der ehemalige TV-Entertainer Donald Trump und erschreckte die europäischen Leitartikler mit der Ankündigung, die NATO aufzugeben, weil sie "obsolet" sei - hatte Tina einen Professor aus dem benachbarten Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik für einen Vortrag mit Diskussion gewonnen. Das Thema, zu dem sich rund fünfzig Zuhörer eingefunden hatten, überwiegend weiblich, allesamt gebildet und wissbegierig, lautete, der trüben Nachrichtenlage entsprechend: "Bricht der Westen auseinander?" In einer Ecke saßen auch ihre Tochter Hadley, damals gerade zwanzig und Politik-Studentin im englischen Colchester, und ich, weil Tina uns darum gebeten hatte: "Das wird euch interessieren."
Das tat es dann auch, aber anders als erwartet. Denn was wir die folgende Stunde hörten, war eine sehr konventionelle Beschreibung der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, wie sie jedem Leser von "Welt", "Bild" oder "FAZ" vertraut ist - eine Abfolge von Bedrohungen des Westens durch den kommunistischen Osten, von Kaltem Krieg und friedenssicherndem Handeln der NATO und der westlichen Regierungen und von der wirtschaftlichen Vernunft der Deutschen, die doch jede Menge Klippen zu bewältigen hatten wie die Gefährdung der Banken durch die Hypothekenkrise in den USA, die des Euro durch die maßlos verschuldeten Griechen, und auch noch durch den Wirbel, den der Brexit erzeugen würde. Der Vortrag wie die Wortmeldungen hinterher hatten einen Tenor: Die Deutschen, immer wieder schuldlos in die Opferrolle gedrängt, hatten umsichtig alle Krisen bewältigt, und ihrer Beharrung auf den westlichen Werten, die doch nur Gutes bringen konnten wie bisher, würde es zu verdanken sein, wenn der nationalistisch verblendete Trump mit seinem Ziel, das Bündnis zu zerschlagen, scheitern werde. Und ich saß da und dachte daran, dass ich mal wieder Zeuge war, wie wir Deutschen uns als die Guten feiern, an deren Friedlichkeit nicht zu zweifeln ist. Es war eine Lehrstunde über das Walten von Vorurteilen und das warme Gefühl von Überlegenheit, das sie erzeugen.
Als Tina hinterher wissen wollte, was ich von der Veranstaltung hielt, sagte ich, das ließe sich nicht in ein paar Sätze fassen. Das müsse ich aufschreiben. Was ich dann tat - zunächst für Hadley, aber auch für unsere beiden anderen Enkelinnen Hannah und Sophie, und für jeden, den ich für die Frage gewinnen kann, warum man gar nicht darum herumkommt, seine Vorurteile zu überwinden und folgerichtig ein Linker zu sein. Ja was denn sonst?
Liebe Hadley,
vor einiger Zeit haben wir gemeinsam einem Friedensforscher zugehört, der zum Thema "Bricht der Westen auseinander?" sprechen wollte, der aber schon bei der Definition dessen, was denn das wohl sei, der Westen, in die zu erwartenden Schwierigkeiten geriet und diesen dann als ein kulturelles Phänomen bezeichnete, das auf den Gedanken von Hobbes, Locke und Kant fuße. Diese Philosophen hätten ein Wertesystem entwickelt, auf das sich dann die Französische Revolution berufen habe, deren Botschaft von bürgerlicher Freiheit, von Gleichheit und Brüderlichkeit den bis heute gültigen westlichen Wertekanon begründe, auf den sich die europäischen und nordamerikanischen Staaten bezögen. Nun zucke ich immer zusammen, wenn jemand von unseren Werten spricht, denn meine Werte sind das meistens nicht. Ich will zum Beispiel auf keinen Fall, dass meine Freiheit am Hindukusch verteidigt wird - ich bezweifle ja schon stark, dass irgendjemandes Freiheit irgendwo mit Panzern und Bomben zu verteidigen sein könnte. Und ich will auch nicht, dass unser Land freigehalten wird von anderer Leute Religionen, mögen die auch noch so seltsam sein. Ich will nicht, dass jemand, der die Hartz-Gesetze mit ihren Zumutbarkeitsregeln und Strafmaßnahmen für eine gute Sache hält, auch nur auf die Idee kommen könnte, er habe irgendwas mit mir gemein - oder gar mit Hobbes, Locke oder Kant. Und auch vom russischen Präsidenten, dem Lieblingsfeind aller Freunde westlicher Werte, fühle ich mich weit weniger bedroht als von seinem Washingtoner Gegenstück und zwar unabhängig von der jeweiligen Besetzung.
Womit wir wieder beim Friedensforscher sind. Der ließ den philosophischen Grundlagen des Westens dessen jüngere Geschichte auf eine Art folgen, wie ich es zuletzt in der Schule bei meinen Geschichtslehrern hatte; eine bunte Folge von Machtausübung und Machtvakuum, in das dann immer die Falschen stoßen, von Kriegen, die sich konsequent ergeben, von friedenstiftenden Abkommen, von Währungsreform und Kaltem Krieg, von Montanunion, EWG und den Verträgen von Rom und Maastricht. Die Krisen des letzten Jahrzehnts wurden vollständig aufgezählt, wie sie auch dem "Bild"-Leser geläufig sind: Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Eurokrise, Griechenlandkrise. Und gegen Krisen, das weiß auch der "Bild"-Leser, kann man praktisch nichts machen, das sagt ja schon der Name, höhere Gewalt eben. Als der Vortragende die Dekaden bundesdeutscher Geschichte in gebotener Kürze abhandelte, war mir, als wäre ich nicht dabei gewesen. An die letzten sieben Jahrzehnte habe ich ganz gut funktionierende, aber deutlich andere Erinnerungen.
Angefangen bei den Bombennächten im Luftschutzkeller am Meppener Markt, dem Hauptmann von der Wehrmacht, der die Nachricht vom Tod meines Vaters brachte, gefallen im Osten, in Libau, am Tag, als ich drei wurde, dem Einmarsch polnischer Regimenter der britischen Armee, dem verbotenen Spielen in den Trümmern auf der anderen Straßenseite, dem Sammeln von Bucheckern, gegen die meine Mutter Öl eintauschen konnte, dem Torfstechen im Versener Moor, damit wir im Winter was zum Heizen hatten, später die Einschulung im April 1948 und kurz darauf die Währungsreform. Noch Jahre später konnte meine Mutter sich darüber aufregen, dass alle Geschäfte am Tag danach wieder gefüllte Regale hatten - musste nicht bis gestern noch gehungert werden, weil es nichts gab? Dann dauerte es nicht lange und die Nachbarn fuhren mit ihrem Opel Kapitän über den Großglockner nach Venedig, was sie daheim mit bunten Aufklebern beweisen konnten. Und wir verkauften unser Klavier, damit wir was zum Anziehen hatten, denn Mutters Rente war winzig. Dass sie meinen Bruder und mich über diese Jahre brachte, war eine Leistung, die ich noch immer bewundere.
"Nein, euer Vater war kein Nazi", war ein Satz, den mein Bruder Hans und ich oft gehört haben, der war ihr wichtig. Und sie? Genau wie all die Nachbarn, mit denen sie manchmal über die Vorkriegszeit redete, war sie in einer inneren Emigration gewesen, die zu dieser Zeit auch von allen schon so genannt wurde. Man hatte ja nicht anders gekonnt, man musste ja mitmachen. Und das, obwohl der Hitlergruß so entwürdigend war und dann noch die ewige Sammelei für das Winterhilfswerk. Bevor ich wusste, was die Deutschen angerichtet hatten, wusste ich, dass niemand von denen, die ich kannte, dabei mitgemacht hatte - und dass Nazis einfach nur peinlich waren.
Hatten die Braunhemden in manchen Dingen aber vielleicht doch recht gehabt?
Meine Oma, Deine Ururgroßmutter, zeigte mir auf der Europakarte, wie umzingelt das Deutsche Reich gewesen war, das doch so friedlich in der Mitte lag und aussah wie eine knieende, betende Jungfrau, wie Oma sagte. Im Wohnzimmerschrank standen Bücher wie Ettighoffers "So sah ich Afrika", eine Lobpreisung der kaiserlichen Kolonialherrschaft in "Deutsch-Südwest", die von den infamen Engländern beendet worden war, oder Rothackers "Das Dorf an der Grenze", eine einzige Entlarvung der "polnischen Fratze". Und hatten die Nazis uns nicht vor den schrecklichen Russen schützen wollen, die "nächstes Jahr mit ihren Panzern am Rhein" stehen werden, wie eine Nachbarin aus verlässlicher Quelle wusste und beim Einkaufen auf dem Markt weitersagte?
In der Volksschule sangen wir die melancholischen Lieder aus dem geraubten Ostpreußen, dem "Land der tausend Wälder, Land der tausend Seen", und die Klassenkameraden aus den "Vertreibungsgebieten" versammelten sich abends an den Lagerfeuern der "Deutschen Jugend des Ostens". "In diesen schweren Zeiten", wie sie der Osnabrücker Bischof Berning als Festredner auf der 300-Jahrfeier unseres Gymnasiums nannte - nicht die Zeiten der Nazis, mit denen er 1933 für die katholische Kirche das Reichskonkordat ausgehandelt und deren Führer Adolf Hitler er bei einem KZ-Besuch im Emsland einst mit dem wachküssenden Prinzen aus "Dornröschen" verglichen hatte, sondern die frühen Fünfziger, in denen in Niedersachsen ein Sozialdemokrat regierte -, in diesen Jahren, in denen Historiker immer noch so etwas wie eine Stunde null zu entdecken versuchen, waren die Menschen, die ich...
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