Das Muttermal

Anna war lange vor Oliver aufgestanden und hatte sich herausgeputzt. Sie wollte schön sein, um ihn günstig zu stimmen für die Neuigkeit, die sie ihm mitzuteilen hatte. Sie wollte selbstsicher und überzeugend wirken und sich unter keinen Umständen von ihm bereden lassen. Sie streifte den feuerroten seidenen Kimono mit der goldenen Drachenstickerei über, den Oliver ihr vor sechs Jahren in Hongkong auf der Hochzeitsreise gekauft hatte. Einen Hauch Parfüm hinter die Ohrläppchen: »Mit diesem betörenden neuen Duft stimmen Sie Ihren Partner ein«, hatte die Werbung in der Frauenzeitschrift versprochen. Aber der erste Versuch gestern nacht war fehlgeschlagen. Oliver schien nichts bemerkt zu haben. Entweder war es der falsche Duft, oder die Müdigkeit hatte gesiegt. »Deine Praxis frißt unsere Ehe auf«, hatte sie sich wie schon so oft beklagt. »Es ist der Streß«, verteidigte er sich, »der Streß macht mich noch impotent.« In solchen Augenblicken tat er ihr leid. Sie drückte ihn an sich, wie man ein Kind liebkost, strich ihm übers Haar und tröstete: »Ich finde es auch so schön, Oliver.« Sie konnte sich kaum mehr an den Zeitpunkt erinnern, wann die körperliche Entfremdung begonnen hatte. Der Wunsch nach einem Baby wurde immer seltener erwähnt. Anna litt still. Sie stürzte sich mit Eifer auf Haus und Garten und erntete damit Olivers uneingeschränktes Lob. Sie baute biologisches Gemüse an, engagierte sich ehrenamtlich für den Umweltschutz und machte sich stark für die Rettung der Wale. Als sich nach Jahren immer noch kein Nachwuchs einstellte, ließ sie kommentarlos die Wiege auf dem Dachboden verschwinden und kaufte sich einen Computer. Oliver, fand sie, hatte sich hinter den tausend Frauen verbarrikadiert, die er gynäkologisch betreute. Oder sollte sie besser sagen: ihren Schößen? Den Unterleib kannte er, aber der übrige Teil der Frauen war und blieb für ihn offenbar ein Rätsel. Anna konnte ihn nur selten mit ihrem Optimismus und ihrer Lebenslust anstecken, und trotzdem mochte sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Er war treu, höflich, ermöglichte ihr ein komfortables Leben. Sie konnte sich auf ihn verlassen. Während sie eine Handvoll Hafergrütze in das kochende Salzwasser schüttete, summte sie den alten Beatles-Song mit, der aus dem Küchenradio schmuste. Yesterday all my troubles seemed so far away... Langsam und gleichmäßig verrührte sie die Masse, die sie an Tapetenkleister erinnerte, zog den Topf von der Platte und fügte einen Klacks Butter hinzu. Oliver betrat die Küche wie ein Offizierskasino, in dieser ihm eigenen Säbelschluckerhaltung, das Kinn etwas zu hoch, der Hals steif: Er wirkte immer ein wenig arrogant und von oben herab mit seinen ein Meter neunzig. Sein kurzes aschblondes Haar war scharf gescheitelt und glatt, die klaren grauen Augen hinter den randlosen Brillengläsern blickten forschend, aber oft auch kühl und abweisend. Seine Patientinnen fanden ihn attraktiv. Seine Selbstsicherheit flößte ihnen Vertrauen ein. Anna dagegen wünschte sich ihren Mann lockerer, weniger pedantisch und diszipliniert. Vielleicht lag es an dem englischen Internat, das er in Afrika viele Jahre besucht hatte. Rita hatte ihr davon erzählt, denn er selbst sprach nie darüber. Überhaupt wußte Anna sehr wenig über seine Vergangenheit. Für sie begann sein Leben erst mit dem Tag, als sie sich kennenlernten. Des öfteren hatte sie ihn auf Afrika angesprochen, aber er war stets ausgewichen und wurde gereizt, wenn sie insistierte. »Es genügt, wenn Mutter diese alten Geschichten immer wieder aufwärmt. Die Zeiten sind vorbei.« Aber Rita erzählte selten etwas Persönliches von der Familie. Anna vermutete, daß Olivers Verschlossenheit mit dem mysteriösen Unfall seines Vaters zusammenhing. Dessen Tod schien ihn damals völlig aus der Bahn geworfen zu haben, war zum Trauma geworden, über das er bis heute nicht hinweggekommen war. Anna schwieg, um ihn nicht zu quälen, und glaubte, daß das der Grund für sein fest geplantes Leben war. Aus Angst vor dem Chaos überließ er nichts dem Zufall. Bei ihm unterlag alles Denken, Handeln, Fühlen einem bestimmten Schema und Ritual. Geschah etwas Außergewöhnliches, dann hatte er sogleich einen Rettungsplan für den Notfall parat, bis alles wieder im Lot war. »Guten Morgen, Liebes«, sagte er und nickte ihr zu. Er setzte sich auf seinen Platz am Tischende und wartete auf Toast und Marmelade. Anna ließ ihn noch ein wenig zappeln und beobachtete, wie er leicht irritiert auf die Armbanduhr schaute. Er begann, das Besteck neu auszurichten und die Messerklinge mit der weißen Stoffserviette zu polieren. »Ich habe eine Überraschung für dich!« sagte sie und stellte mit einer großen Geste die Hafergrütze vor ihn hin. »Porridge!« rief er erstaunt. Er nahm den Löffel und probierte. »Nicht schlecht«, lobte er. »Woher hast du das Rezept? Mutter?« Sie schüttelte den Kopf. »Eine Kollegin aus England hat mich auf die Idee gebracht.« »Was für eine Kollegin?« fragte Oliver irritiert und hob die Augenbrauen. Anna gab sich einen Ruck. »Oliver«, sagte sie sanft und legte ihre Hand auf seinen Arm, »ich habe mich um eine Stellung beworben und bin angenommen worden. Ich arbeite ab nächsten Monat im Zoo.« »Du arbeitest?« Er spuckte den Satz aus wie eine heiße Kartoffel. »Ja.« »Hast du nicht genug am Hals?« »Ich rede nicht von Beschäftigung, von einem Job. Ich will etwas tun, was mich fordert. Schließlich habe ich einmal Biologie studiert...« »... abgebrochen«, korrigierte er sie. »Es war deinetwegen, mein Lieber. Ich habe es für dich getan, und das gern. Das weißt du doch.« »Ich dachte, daß ich es wüßte. Wenn ich richtig verstehe, scheint sich das geändert zu haben. Willst du das damit sagen?« Der Radiowecker klingelte. Oliver erhob sich, wischte sich den Mund mit der Serviette ab und sagte entnervt: »Ich verstehe dich nicht. Du hast ein großes Haus und den schönsten Garten der Umgebung. So wie du es dir immer gewünscht hast. Und nun willst du im Zoo arbeiten. Laß uns heute abend noch mal darüber reden. Ich muß jetzt los.« »Heute ist Donnerstag«, rief sie ihm nach. Aber er schlug bereits die Haustür zu. Zwei Minuten später hörte sie den Motor seines Wagens aufheulen. Das Versprechen der Parfümwerbung hatte sich nicht erfüllt. Anna stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände.  

Oliver kam an diesem Abend pünktlich nach Hause. Anna war für eine längere Auseinandersetzung gewappnet, aber auf dem Weg zu Rita redeten sie nur über Belanglosigkeiten. Oliver wirkte müde und abgespannt. Am liebsten hätte er die Verabredung bei seiner Mutter abgesagt, aber zweimal hintereinander konnte er ihr das nicht antun. Anna bestand darauf, daß er sich umzog. »Du kennst doch deine Mutter...« »Ja, ja. Ich hasse es aber, mich in meiner Freizeit herauszuputzen. Schon früher hat sie mich immer verkleidet, wie einen kleinen Affen. Wahrscheinlich war ich in ganz Afrika das einzige Kind, das im Matrosenanzug durch den Busch lief.« Anna mußte bei der Vorstellung lachen. »Sie wollte in der Wildnis eben ein Stück europäischer Kultur bewahren«, verteidigte sie ihre Schwiegermutter, »so wie sie sich heute in Deutschland ein Stück Afrika erhält.« Rita empfing sie mit ausgebreiteten Armen, küßte Anna auf beide Wangen und nahm den kleinen Teerosenstrauß entgegen, den Oliver ihr mit einem ironisch angedeuteten Handkuß überreichte. »Ach Olly!« Noch immer nannte sie ihn mit diesem verhaßten Kosenamen. Genervt verdrehte Oliver die Augen. »Na gut, dann eben Herr Visser. Ich muß sagen, du hast den feinen Humor deines Vaters geerbt.« Nur Annas unauffälliger Rippenstoß hinderte ihn daran, seinem Unmut freien Lauf zu lassen. Er lenkte ein. »Was hast du gekocht, Mama? Es riecht schon so gut.« Rita lachte. »Immer noch die Nase im Topf! Laß dich überraschen. Ich habe noch kurz in der Küche zu tun. Am besten macht ihr es euch gemütlich und nehmt einen Sundowner. Bin gleich wieder da.« Anna ließ sich auf das weiche Sofa fallen und schaute sich um. Es überraschte sie immer wieder aufs neue, mit wie wenigen Mitteln ihre Schwiegermutter eine heimelige Atmosphäre zu zaubern verstand. Der Raum war nur von Kerzen erhellt. Im Hintergrund, kaum wahrnehmbar, erklangen Trommelrhythmen. Zum hundertsten Mal betrachtete sie die alten Afrika-Fotos an der Wand: das ehemalige Farmhaus Mugongo, Oliver in seiner ersten Schuluniform, Rita vor ihrem kleinen Laden, Elton, Rosina. Auf der Ladefläche eines Geländewagens stand ein hochbeiniger Jagdhundmischling und schnupperte neugierig Richtung Kamera. »War das deiner?« hatte sie ihren Mann einmal gefragt. Oliver hatte kaum hingesehen und nur wortlos genickt. »Wie hieß er?« »Jock.« »War er ein guter Jagdhund?« »Er war ein Juwel«, hatte Rita ausgerufen, »ein Hund, wie ihn sich jeder Jäger erträumt.« »Er lebt nicht mehr«, war Olivers barsche Antwort gewesen, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, daß Anna nicht mehr zu fragen gewagt hatte. »Was für eine...