Schweitzer Fachinformationen
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Keinem, auch nicht Lucie, der schönen Klassenbesten, darf der dreizehnjährige Daniel sagen, wohin sein Vater ihn gleich bringen wird: nach Westberlin. Dort soll er das Gymnasium besuchen, weil das zu Hause, in der mitteldeutschen Kleinstadt, nicht möglich ist. Der neue Schuldirektor und der Pfarrer warnen vor Besuchen in der Heimatstadt: »Es sei zu gefährlich, sagten sie, weil ich heimlich nach Westberlin gegangen sei. Ich hatte die Republik verraten und stand auf der Liste.« Mit den Mitteln einer fiktiven Autobiographie erzählt Christoph Hein von einer Jugend in der DDR der fünfziger Jahre.
An dem Tag, an dem ich mich von Tante Magdalena verabschieden musste, traf ich Lucie vor dem Tor in der Molkengasse. Sie hatte mich gesehen und war stehen geblieben, um auf mich zu warten. Sie trug ein dunkles Samtkleid, ihr Haar war mit einer schwarzen Schleife zusammengebunden, in der Hand hielt sie eine Rose. Anscheinend ging sie zur Frühmesse. Sie sah so schön aus, dass ich kein Wort herausbrachte. Ich lächelte verlegen.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie.
»Ich muss jemanden besuchen. Meine Tante«, sagte ich.
»So früh?«
»Ja, ich fahre weg.«
Ich hätte ihr beinahe erzählt, dass ich mich bei der Tante verabschieden müsse, weil ich die Stadt verlasse und für immer nach Westberlin ziehe, aber dann erinnerte ich mich noch rechtzeitig daran, wie sie mich bei Fräulein Kaczmarek verraten hatte.
»Ich wollte dir noch sagen, dass ich das mit der Oberschule gemein finde«, sagte Lucie, als habe sie etwas von meinen Gedanken erraten, »du hast viel bessere Zensuren als Bernd.«
»Wenn es geklappt hätte, wären wir jeden Tag zusammen mit der Bahn gefahren. Schade, aber das ist Schicksal.«
»Und was machst du? Hast du eine Lehrstelle?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gehst du auch nach Westberlin? Wie dein Bruder?«
»Wie kommst du denn darauf?« Ich spürte, dass ich rot wurde, aber ich konnte ihr nicht sagen, dass ich ebendas vorhatte, und zwar in genau einer Stunde.
»Ich dachte nur. Ich würde es verstehen, Daniel.«
»Du?«
»Ja. Na, ich muss jetzt gehen. Ich hoffe, man sieht sich gelegentlich.«
»Das hoffe ich auch, Lucie.«
Ich reichte ihr plötzlich die Hand. Sie war überrascht, weil wir uns noch nie die Hand gegeben hatten, aber dann nahm sie das Buch und die Blume in ihre Linke, und wir verabschiedeten uns förmlich und etwas verlegen. Sie lief in ihre Kirche, und ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war.
Als ich die Treppe hochrannte, war ich so vergnügt, dass ich laut vor mich hin sang.
Tante Magdalena wohnte über der Bäckerei Theuring in der Mühlenstraße, wo wir unser Brot kauften und die Brötchen und manchmal auch ein paar Plunderstücke. Der Eingang zu ihrer Wohnung war aber nicht in der Mühlenstraße, man musste um die Ecke gehen, in die Molkengasse, zu dem großen Holztor, das im Unterschied zu allen anderen Toren in der Stadt nie offen stand und in das eine Tür eingeschnitten war. Wenn man diese öffnete, bewegten sich die beiden mächtigen Torflügel in den Angeln, und man musste einen Moment warten, bis sie wieder stillstanden und man über den Fußteil des eisernen Türrahmens treten konnte. Durch einen breiten Torgang gelangte man auf den Hof, dort waren die Karnickelställe des Bäckers und ein Drahtverschlag für die Hühner. Es gab auch einen winzigen, mit Draht geschützten Garten, in dem Tante Magdalena Kräuter anbaute.
»Kräuter muss man selber ziehen, Daniel«, sagte sie, »die Kartoffeln kann man sich kaufen und Brot und Milch und alles andere. Mit Kräutern hat es so seine eigene Bewandtnis, die will ich mir nicht von fremden Händen ziehen lassen. Sieh mal, den Dill hier, den braucht man nun alle Nase lang, in meiner Küche muss jedenfalls alles gut gedillt sein. Wenn man aber damit nicht umgehen kann, wenn man nicht weiß, dass der Dill auch Zauberkraft besitzt, da kann es das reinste Hexenkraut sein. Meinen Dill kann sich jede Braut unbesorgt in den Schuh tun.«
Die Fenster im Erdgeschoss gehörten zur Backstube und waren sommers wie winters leicht geöffnet. Man hörte die Geräusche der Maschinen, den Knetarm der Backmulde, das elektrische Sieb und die Schlagmaschine, das metallene Klicken der Türen und des Gestänges vom Backofen. Und natürlich die Stimmen von Bäcker Theuring und seinen beiden Gesellen.
Links schloss sich ein Hofgang an, von dem man zu den Hintertüren der anderen Häuser in der Molkengasse gelangte und der bis zum Anger reichte, wo die Garagen standen. Am Ende des Torgangs rechter Hand führten drei Steinstufen zu einer Tür, hinter der sich ein Treppenhaus und der Eingang zur Backstube von Herrn Theuring befanden.
Über eine gewundene, sehr schmale Treppe gelangte man in den ersten Stock zur Wohnung von Tante Magdalena. Wenn man die Wohnungstür öffnete, war man in ihrer Wohnküche, in der neben dem Eingang ein Gaskocher auf einem mit bunten Stoffgardinen verhängten Regal stand. Zwischen dem Fenster und der nächsten Tür waren der Eisschrank, ein Schränkchen, ein ausziehbarer Tisch vor dem hohen Küchensofa und zwei Stühle. An die Küche schloss sich das gute Zimmer an. Auf dem runden Tisch mit den Intarsien lag stets eine feine, durchbrochene Decke. Sie war so fein, dass sie eher wie ein kostbares Netz wirkte und die Einlegearbeiten der Tischplatte nicht verhüllte, sondern hervorhob. Um den Tisch standen sechs Stühle mit hohen geschnitzten Lehnen und dunklen Samtpolstern. Neben dem Fenster, das zum Hof ging, war eine Vitrine. Der obere Teil hatte Glastüren, hinter denen farbige Kelche zu sehen waren und Blumenvasen, in die Tante Magdalena aber nie Blumen stellte. Das seien Ziervasen, hatte sie mir erklärt, viel zu schön, um sie zu benutzen. Daneben befand sich die Kommode mit dem Musikwerk, einer alten Spieluhr. Eine schmale niedrige Tür führte zu ihrer Schlafkammer, einem winzigen Raum ohne Fenster. Tante Magdalena ließ uns nie hinein. Wenn sie etwas aus der Kammer benötigte, vergewisserte sie sich zuvor, dass wir beschäftigt waren. Sie huschte hinein und verschloss die Tür hinter sich, um dann, sorgsam um sich blickend, mit dem Gesuchten herauszukommen. Die Schlafkammer lag direkt über dem großen Ofen der Backstube, dadurch war es dort immer warm, und sie brauchte im Winter nicht zu heizen. Auch die beiden anderen Räume heizte sie selten, da die Backstube an sechs Tagen in der Woche ausreichend Wärme in die darüberliegende Wohnung abgab.
Im Sommer wurde es dort unerträglich heiß. Als ich Tante Magdalena einmal fragte, wie sie in einer so heißen Kammer schlafen könne, lachte sie auf und sagte: »Ich freue ich mich einfach auf den Winter, weil ich dann so viel Geld für Kohlen sparen kann. Und wenn ich aufwache, ist schon geheizt. Wie bei den vornehmen Herrschaften.«
Einmal, als die Tür nur angelehnt war und Tante Magdalena in der Küche beschäftigt, war meine Schwester einfach in die Kammer gehuscht. Tante Magdalena war sofort erschienen und hatte Dorle rasch herausgezogen und dann die Tür verschlossen. Sie war sehr aufgeregt und schimpfte mit ihr, und Dorle sagte, sie hätte nur die Tür richtig zumachen wollen, aber Tante Magdalena wirkte nervös und konnte sich gar nicht beruhigen. Als wir nach Hause gingen, fragte ich Dorle, was in der Kammer ist.
»Es sieht aus wie bei Hempels unterm Sofa. Verstehst du?«
Ich nickte. Vor ein paar Monaten hatte uns der Superintendent besucht, die Familie hatte mit ihm zusammen Mittag gegessen. Mitten in der Woche gab es Fleisch und jeder bekam eine dünne Scheibe. Als der Teller mit den beiden restlichen Stücken nochmals herumging, sagten wir alle, dass wir satt seien, wie Mutter es uns eingeschärft hatte. Der Superintendent hatte sich schließlich beide Bratenscheiben vom Teller genommen. »Es wäre doch schade, wenn die Gottesgabe verdirbt«, sagte er, als er das Fleisch vor unseren Augen auffraß. Später hatte er von seinen Besuchen in den anderen Pfarrhäusern erzählt und gesagt, dass es bei einem der Pfarrer ausgesehen habe wie bei Hempels unterm Sofa. Dorle hatte ihn gefragt, was er damit meinte, und er hatte erklärt, dass es in der Amtsstube dieses Pfarrers sehr unordentlich sei und ein fürchterliches Durcheinander herrsche.
»Was ist denn drin? Red schon«, drängte ich Dorle.
»Lauter Kisten. Und stapelweise Kartons. Man kann sich in der Kammer gar nicht bewegen, so voll ist sie. Wenn mein Zimmer so aussehen würde, dann bekäme ich Stubenarrest, und zwar eine ganze Woche.«
»Und was ist in den Kartons, hast du das gesehen?«
»Nein. Vielleicht hat sie Schätze dort gesammelt.«
»In Pappkartons? Du bist blöd. Woher soll Tante Magdalena denn Schätze haben.«
»Vielleicht hat sie geerbt und ist ganz reich.«
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Jedenfalls habe ich die Kammer gesehen und du nicht.«
Wir gingen regelmäßig nach der Schule zu Tante Magdalena, meine Geschwister und ich, um dort unsere Schularbeiten zu machen. Sie half sehr großzügig dabei. Das Schönschreiben, das ihr besonders wichtig war, mussten wir allein bewältigen. Sie ermahnte uns lediglich, langsam zu schreiben. Bei allen anderen Schularbeiten brauchten wir nur eine längere Pause zu machen und verzweifelt die Augen zu verdrehen, dann setzte sie sich neben uns und flüsterte das richtige Wort, die fehlende Zahl, erst tonlos und unhörbar, und wenn wir sie nicht erraten konnten, ein wenig lauter,...
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