Schweitzer Fachinformationen
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Manchmal fühlst du dich wie ein Schatten deiner selbst. Bis du merkst: Das geht nur, weil die Sonne scheint.
Das Leben ging weiter, aber in eine Richtung, die ich mir nie hätte vorstellen können. Eines Morgens sehr früh stand Mutter bei meinem Bruder und mir im Zimmer und weckte uns: »Guten Morgen. Aufstehen. Zieht euch an und kommt bitte gleich runter.« Unten angekommen ging unsere Mutter mit uns vors Haus. Dort standen viele unserer Möbel auf dem Gehweg. Daneben parkte ein kleiner Lkw. Am Steuer saß ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Mutter umarmte ihn und stellte ihn uns vor: »Das ist Helmut, euer neuer Vater.«
Sie luden die Möbel ein, wir packten noch unsere Kleidung in Koffer und jeder von uns nahm seine persönlichen Sachen mit, dann wurden wir ins Führerhaus gesetzt und fuhren weg. Vorübergehend wohnten wir mit Helmut im benachbarten Lengede - dem Ort, der ein paar Jahre vorher durch ein Grubenunglück und die Rettung der beteiligten Bergleute berühmt geworden war. Ich verstand diesen plötzlichen Umzug nicht, aber wie die anderen war ich froh, dass die Angst erst einmal ein Ende hatte. Obwohl ich erst vier war, weiß ich noch, wie ich aufatmete.
Helmut war ein Kollege meines Vaters. Er war schon einmal verheiratet gewesen und auch seine Ehe muss katastrophal gewesen sein. Wenn er als Fernfahrer von einer Tour heimkam, begegnete er in seinem Haus öfter fremden Männern, die bei seiner Frau waren. Bei einer Betriebsfeier kam er mit meiner Mutter ins Gespräch, und als sich die beiden näher kennenlernten, konnten sie sich gut in die jeweilige Lebenssituation des anderen einfühlen. Ihr Verständnis füreinander wurde zu Freundschaft und entwickelte sich zu Liebe, die für beide ein Strohhalm war, den sie ergriffen, um aus ihren kaputten Beziehungen herauszukommen.
Eine Weile später wurde ich in Lengede eingeschult. Auch wenn ich wissbegierig war, tat ich mich schwer damit, eine komplette Schulstunde konzentriert dabeizubleiben. Öfter träumte ich mich einfach heraus aus dieser Wirklichkeit. Die Schule nervte mich nicht besonders, aber mehrstündiges Stillsitzen war nicht mein Ding. Einmal schwänzte ich als Erstklässler sogar einen ganzen Schultag.
Es geschah völlig ungeplant. Als ich eines Morgens etwas lustlos zur Schule ging, begegnete ich einem vierzehn- oder fünfzehnjährigen Jungen, für mich also fast ein Erwachsener. Er trug Werbeblättchen aus, hatte in den ersten Stunden frei und erledigte seine Arbeit deshalb vor dem Unterricht. Er schimpfte wie ein Rohrspatz: »Ich hab keinen Bock auf diesen Scheißjob. Aber mein Vater meint, ich soll was dazuverdienen. So ein Mist - am liebsten würde ich mit den blöden Zetteln ein Lagerfeuer machen!« Ein Lagerfeuer - das klang spannend. Ich war sofort dabei. Wir liefen in den Wald und suchten uns eine schöne Ecke. Dort sammelten wir totes Holz und mein neuer Freund nahm seine Prospekte und entzündete damit ein spektakuläres Lagerfeuer. Wir fühlten uns als große Abenteurer. Die Schule hatte ich komplett vergessen .
Irgendwann im Laufe des Nachmittags machte ich mich auf den Heimweg. Meine Mutter war völlig aufgelöst, als ich dort ankam. Die Lehrerin hatte sie angerufen und gefragt, ob ich krank sei. »Wieso?« »Er ist nicht zur Schule gekommen.« Viele Mütter hätten sofort gedacht, dass ihr Kind wohl ein Alternativprogramm zur Schule gefunden hatte - nicht meine Mutter! Nicht in ihrer Situation! Sie hatte befürchtet, dass mein Vater mich entführt hätte, um Druck auf sie auszuüben oder einfach Tatsachen zu schaffen. So war sie zwar wütend, weil ich nicht zur Schule gegangen war, aber ihre Erleichterung überwog. Denn obwohl sie aus ihrer unglücklichen Beziehung geflohen war, war die Sache noch nicht ausgestanden.
Meinem Vater ging es nie ernsthaft darum, die Ehe mit meiner Mutter zu retten, aber für ihn war es ein Unding, dass sie einfach ausgezogen war. Wie stand er jetzt vor den Leuten da? Im Scheidungsprozess ging es ihm deshalb darum, meine Mutter als einzig Schuldige darzustellen. Das war nach dem Scheidungsrecht damals der wichtigste Punkt: Wer schuldig geschieden wurde, verlor seine Ansprüche. Und mein Vater erreichte sein Ziel. Meine Mutter war zu einem anderen gezogen, das genügte. Gewalt, Missbrauch, Fremdgehen - nichts von dem, was mein Vater getan hatte, spielte eine Rolle. Das Haus, das meine Mutter gemeinsam mit meinem Vater gebaut hatte, wurde ihm allein zugesprochen. Im Gegenzug bekam sie immerhin das Sorgerecht für uns Kinder, doch damit war mein Vater auch frei von allen finanziellen Verpflichtungen uns gegenüber.
Ich war zu jung, um diese Details zu verstehen - was ich mitbekam, war, wie angespannt meine Mutter oft war. Trotz der neuen Liebe ging sie durch sehr schwere Zeiten.
Der Bruch zwischen meinen Eltern war endgültig. Meine Mutter wollte ihren Ex-Mann nie wiedersehen. Auch ich traf meinen Vater jahrelang nicht mehr. Und als ich mit über zwanzig Jahren einmal versuchte, den Kontakt zu ihm aufzunehmen, ging das gründlich schief: Wir kannten uns nicht und hatten uns nichts zu sagen.
Glücklicherweise war das jedoch nicht das Ende. Jahre nach seinem Tod bekam ich einen Brief von einer mir unbekannten Frau. Sie schrieb: »Sehr geehrter Herr Heimowski, sind Sie vielleicht der Sohn von Heinz Heimowski aus Hämelerwald?« Ich schrieb zurück und bestätigte es ihr. Darauf antwortete sie mir: »Es mag seltsam für Sie klingen, aber ich hatte es auf dem Herzen, Ihnen zu schreiben. Ich bin die Tochter der Frau, die Ihren Vater nach seiner Scheidung geheiratet hat.« In dem Brief erzählte sie weiter, dass mein Vater eine Entziehungskur gemacht und nie wieder etwas getrunken hätte. Auch gewalttätig wurde er nicht mehr. Sie schloss ihren Brief mit dem Satz: »Er ist mir ein liebevoller Stiefvater geworden. Ich dachte, dass das vielleicht für Sie schön zu hören ist.« Das war es tatsächlich. Es versöhnt mich im Nachhinein damit, ein Sohn dieses Mannes zu sein. Und es zeigt mir, dass Veränderung immer möglich ist. Ich habe keine Ahnung, wie mein Vater am Schluss zu Gott stand, aber irgendwie trägt diese Entwicklung Gottes Handschrift. Trotzdem blieb ein Schmerz: Er hätte sich ja auch bei seinen leiblichen Kindern melden können .
Meine beiden älteren Geschwister mussten kurz nach der Trennung das Haus verlassen, und ich hatte über Jahre hinweg nur wenig Kontakt zu ihnen. Sie hatten massive Probleme, die direkt von unserer desolaten Familiensituation herrührten - was ich als kleines Kind weggeträumt oder nicht mitbekommen hatte, hatten sie ungefiltert erlebt. Mein Bruder kam nach einem Diebstahl bei meinem Vater in ein Kinderheim, als der ihn anzeigte. Wahrscheinlich tat er das in erster Linie, um unserer Mutter eins auszuwischen. Die Fürsorgeerziehung war in der damaligen Gesetzgebung knallhart. Meine Schwester wurde mit siebzehn schwanger und heiratete mit achtzehn, wie meine Mutter. Auch ihr Mann war Alkoholiker. All das belastete und prägte mich und die gesamte Familie, doch obwohl das für jeden von uns spürbar war, waren diese Themen damals tabu: Wir sprachen nicht darüber.
Bald darauf zogen Helmut, meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich in eine völlig andere Gegend. Helmut hatte im hohen Norden eine neue Arbeitsstelle gefunden - wieder als Kraftfahrer. Kurz unterhalb der dänischen Grenze lebten wir in Nordfriesland in einem Dorf mit nur wenig mehr als hundert Einwohnern. Zunächst wohnten wir zur Miete. Später konnte Vati, wie ich ihn inzwischen nannte, ein günstiges Baugrundstück kaufen. Dort baute er mit meiner Mutter zusammen unser Haus. Eine Weile später bekam meine Mutter noch ein Kind, meine Halbschwester. So wuchsen wir auf dem platten Land auf.
Unser Einzug ins eigene Haus brachte etwas Ruhe in unsere Familiensituation, auch wenn es der dritte Umzug in kürzester Zeit war. Sicher spielte das eine Rolle dabei, dass ich zu Beginn in der neuen Schule extrem schüchtern und zurückhaltend war. Die Gegend war wunderschön, doch mein Einstieg ins Dorfleben war hart. Auf dem Land wurde eben »Platt geschnackt« und ich verstand nur Bahnhof. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich als Zugezogener diese fremde Sprache lernte. Dazu kamen die anderen Kinder im Dorf, die nicht unbedingt auf mich gewartet hatten.
Auf einem meiner ersten Streifzüge in die Nachbarschaft entdeckte ich ganz in der Nähe unserer Wohnung eine große Sandgrube. Das war ein wunderbares Spielfeld, da konnte ich mit Autos fahren, etwas aus Sand bauen und einfach meinen Spaß haben. Schon bei meinem ersten Besuch dort kamen zwei Jungs aus der Nachbarschaft vorbei. Ich freute mich, sie zu sehen, und dachte, dass wir zusammen spielen könnten, doch sie schauten sich nur kurz gegenseitig an und stürzten sich dann mit Indianergeheul auf mich. Für sie war ich der Neue und musste erst einmal verprügelt werden, schließlich war ich in ihr Revier eingedrungen. Als ich längst am Boden lag, steckten sie mir noch Sand und Regenwürmer in den Mund. Ich weiß nicht, was sie noch mit mir angestellt hätten, da kam wie aus dem Nichts ein anderer Nachbarsjunge, der etwas älter war als wir. »Hey«, rief er schon von Weitem, »lasst den Jungen hier gefälligst in Ruhe!« Er stieß sie zur Seite und baute sich kampfbereit auf. Sie zögerten kurz, aber dann liefen sie fort - und er ließ sie gehen. Offensichtlich hatten sie Respekt vor ihm. »Ich bin übrigens Michael«, meinte er und half mir, aufzustehen. »Uwe«, antwortete ich, nachdem ich die Würmer ausgespuckt hatte. Das war der Beginn unserer Freundschaft.
Die beiden Jungs, die er vertrieben hatte, waren weder seine Freunde, noch hatte er etwas gegen sie, er konnte nur keine Ungerechtigkeiten ertragen, deshalb stand er mir bei,...
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