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Hundegebell, Hilfeschreie und jetzt auch noch das Heulen des Martinshorns. Drei gute Gründe, sich den Mittagsschlaf aus dem Kopf zu schlagen.
Frau Gütlich hämmerte im Treppenhaus gegen die Tür der Nachbarswohnung. Und das völlig zu Recht. Der nette Herr König von nebenan schrie wie am Spieß. Er war blind, Anfang achtzig und wurde zweifellos vom eigenen Hund bedroht.
»Herr König, hallo?«
Keine Antwort. Nur der Hund kläffte im Sekundentakt.
»Geht es Ihnen gut? So melden Sie sich doch!« Sie rief nun so laut, dass selbst die anderen Nachbarn im Haus es kaum überhören konnten.
Wieder nichts.
Der Hund dagegen bellte sich immer weiter in Rage. Schon seit Tagen drang sein markerschütterndes Jaulen durch die Wände. Dabei war er doch immer so ein braver Kerl gewesen.
»Das ist nur eine Phase«, hatte Herr König neulich noch gesagt, als Frau Gütlich ihm beim Spazieren begegnet war. »Auch mein Charly hat doch hin und wieder ein Recht auf Unpässlichkeit. Und wie Sie sehen, ist er hier draußen so friedlich wie ein Lamm.«
Dann hatte Charly mit dem Schwanz gewackelt, Frau Gütlichs Schuhe abgeleckt und sein Herrchen sicher über die Straße geleitet, wie es sich für einen pflichtbewussten Blindenhund gehörte.
Zurück in der Wohnung war er jedoch sofort wieder in den Angriffsmodus verfallen, und seit heute Nachmittag hatten sich unter das Gekläffe auch noch Schreie gemischt.
Was soll das?
Womit hab ich das verdient?
Und das war kein Grönemeyer-Song aus dem Radio, sondern eindeutig Herrn Königs Stimme gewesen. Als sich dann auch noch Klagelaute wie >Argh!< und Kraftausdrücke wie >Scheiße!< und >Du Miststück!< hinzugesellt hatten, war Frau Gütlich nichts anderes übrig geblieben, als den Notruf zu wählen.
Noch ein letztes Mal klopfte sie vergeblich gegen Herrn Königs Tür, dann setzte sie sich auf die Treppen und wartete. Während die Sirene des Einsatzwagens und Charlys Heulen zu einem betörenden Klangteppich miteinander verschmolzen, wäre sie beinahe doch noch eingenickt, als plötzlich ein bedrohliches Hecheln sie aus dem Halbschlaf riss.
Charly?
War der verrückte Hund aus der Wohnung entkommen?
Erleichtert atmete sie auf, als sie erkannte, dass sich nur zwei Polizeibeamte mühsam in den fünften Stock kämpften.
Zwanzig Minuten später waren aus den beiden Polizisten zehn geworden. Einen farblichen Kontrast bot die Feuerwehr, da Herrn Königs Tür aufgebrochen werden musste. Am Gehsteig stand das Auto eines Notarztes, ein Leichenwagen bog eben in die Straße ein.
Hauptkommissar Jens Schiemann, kriminalistisches Schwergewicht des Polizeireviers Karlsruhe-West, beugte sich über Herrn Königs Körper, der völlig verkrümmt und mausetot auf dem Asphalt des Hinterhofs lag. Er musterte zuerst das zerrissene Hosenbein und die klaffende Wunde an der Wade, dann wanderte sein Blick die Hausfassade hinauf. »Ist das der Balkon?«, fragte er und deutete nach oben.
»Ja genau, von dort ist er runtergefallen«, antwortete der Kollege von der Spurensicherung. »Wir vermuten, dass ihn sein Hund angegriffen und in die Enge getrieben hat. Da sind überall Kampfspuren in der Wohnung. Entweder ist er nach der Flucht auf den Balkon über das Geländer gestürzt, oder vor Panik gesprungen.«
»So sieht's aus«, bestätigte der Kommissar.
»Ja, so sieht's aus.«
Schiemann rieb sich die roten Augen, dann die blasse Stirn. Ein Anflug von Übelkeit bohrte sich durch seinen wohlbeleibten Bauch. Gestern Abend war mal wieder alles aus dem Ruder gelaufen, und das, obwohl er genau wusste, wie seine Eskapaden jedes Mal endeten. Selbst heute Nachmittag steckten ihm die Nachwirkungen noch tief in den Knochen.
Warum passierte ihm das immer wieder?
War es der Ärger mit seiner Ex-Frau? Der Streit mit dem Nachbarn? Vielleicht auch nur eine Midlife-Crisis?
Aber war man mit zweiundfünfzig dafür nicht schon zu alt?
Wenigstens näherte sich der Feierabend mit großen Schritten, und dieser Einsatz schien so gut wie beendet. Kein Selbstmord. Kein Verbrechen. Alles deutete auf einen banalen Unfall hin.
»Die Wohnungstür war verschlossen?«, fragte der Kommissar. »Keine Hinweise auf einen Einbruch? Oder auf die Anwesenheit einer weiteren Person?«
»Nein. Nichts dergleichen«, erwiderte der Mann von der Spurensicherung. »Die Tür war zu. Keine Einbruchsspuren feststellbar. Wenn noch jemand drin war, hatte derjenige einen Schlüssel oder wurde reingelassen.«
»Was ist mit dem Hund?«
»Der ist immer noch auf hundertachtzig und hält unsere Leute auf Trab. Wir haben es inzwischen geschafft, ihn mit der Hilfe von zwei Feuerwehrmännern in die Küche zu sperren, aber sein Gejaule ist unerträglich.«
»Irgendwelche Zeugen?«
»Die Nachbarin. Ebenfalls Rentnerin und alleinstehend.«
»Na gut. Ich will noch mit ihr reden, dann kümmern wir uns um den Hund.«
Nach einem schweißtreibenden Aufstieg in den fünften Stock traf Schiemann im Treppenhaus auf eine kleine, aber immer noch sehr rüstig wirkende Grauhaarige, die zitternd vor Herrn Königs aufgebrochener Wohnungstür stand. »Kommissar Jens Schiemann. Kriminalpolizei«, stellte er sich vor. »Und Sie sind Frau .?«
»Gütlich«, ergänzte sie und reichte ihm die Hand. »Dora Gütlich. Sagen Sie, Herr Kommissar, ist es so, wie ich befürchtet habe? War es der Charly? Hat der Hund ihm das angetan? Ist er wegen ihm in den Tod gesprungen?«
Schiemann nickte. »So sieht's aus.« Dabei wischte er sich mit einem Taschentuch die Stirn trocken. »Kannten Sie Herrn König?«
Gütlich winkte ab. »Ach, nur flüchtig. Aber wir haben uns jeden Tag hier im Treppenhaus gesehen. Und manchmal im Park. Also, genau genommen konnte nur ich ihn sehen, Herr Kommissar. Der Herr König war blind, wissen Sie? Ein einziges Mal hat er mein Gesicht abgetastet, um sich ein Bild von mir zu machen, aber das war auch schon alles. Vielleicht hat ihm die Frau nicht gefallen, die da vor seinem inneren Auge erschienen ist, vielleicht wollte er auch einfach nur für sich bleiben. Wissen Sie, er war sehr selbstständig, und das ist vor allem dem Charly zu verdanken.«
»Aha. Können Sie mir sagen, wie lange Charly schon sein Blindenhund war?«
»Ach, lassen Sie mich überlegen. Zwölf Jahre. Mindestens. In meinem Alter vergeht die Zeit so schnell, dass man sich leicht verschätzt. Ich bin auch bald achtzig, wissen Sie? Kaum hat man den Kaffee gekocht, schon muss wieder das Kalenderblatt weg. Können Sie sich das vorstellen? Sie haben bestimmt jede Menge Kalender. Gerade bei der Polizei.«
Schiemann gelang es kaum, ein Gähnen zu unterdrücken. Das Kläffen hielt ihn jedoch wach. »Ähm, Frau Gütlich. Noch mal wegen Charly. Ist Ihnen an dem Hund in letzter Zeit etwas aufgefallen?«
»Ach, der Charly war immer so ein lieber Kerl. Hat mir jedes Mal die Schuhe abgeleckt, wenn wir uns getroffen haben. Ich weiß auch nicht, vielleicht lag es am Imprägnierspray, das ihm so geschmeckt hat. Und zuverlässig war er. Bis zum Gehtnichtmehr. Er hat sein Herrchen überall hingeführt. Zum Arzt. Zum Einkaufen. Zur Fußmassage. Zielsicher und ohne Umweg. Ich verstehe gar nicht, woher so ein Tier weiß, in welche Richtung es laufen muss. Es ist ja nicht so, dass ein Hund vorher den Stadtplan studiert, nicht wahr?«
»Und warum hat er sein Herrchen angegriffen und gebissen? Für einen Blindenhund ist das sehr ungewöhnlich.«
»Keine Ahnung, was auf einmal in ihn gefahren ist. Seit Tagen bellt und knurrt der Charly rund um die Uhr. Das ganze Haus hat sich schon beschwert. Sie können ja mal die anderen Nachbarn fragen, da herrscht überall dicke Luft wegen des Lärms.« Dora Gütlich schaute bestürzt zu Boden. »Die ganze Zeit war mir angst und bange. Der arme Herr König hatte den Charly kaum noch unter Kontrolle. Wenn ich gewusst hätte, dass so etwas passiert, hätte ich schon viel früher die Polizei gerufen und nicht abgewartet, bis dieser Hund ihm etwas antut. Denken Sie, er ist krank? Vielleicht die Tollwut? Oder eine Psychose? Wissen Sie, heutzutage haben sogar Hunde psychische Probleme.«
»Frau Gütlich, könnte vorhin noch jemand in der Wohnung gewesen sein? Haben Sie noch eine andere Stimme gehört?«
»Nein, Herr Kommissar. Ganz sicher nicht.« Gütlich runzelte die Stirn. »Wieso? Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich will nur alle Eventualitäten ausschließen. Welche Kontakte hat Herr König gepflegt? Was ist mit Angehörigen? Wissen Sie vielleicht, wer alles einen Schlüssel zu seiner Wohnung hat?«
»Ach, der Herr König lebt allein. Da gibt es niemanden. Absolut niemanden. Also gut. Bis auf diese Haushaltshilfe mit dem seltsamen Akzent. Keine Ahnung, wo die herkommt.« Die Rentnerin verdrehte die Augen. »So ein junges Ding eben. Sie besitzt einen Schlüssel und wischt bei Herrn König jeden Dienstag ordentlich durch. Auf die eine oder andere Weise, wenn Sie wissen, was ich meine?« Dora Gütlich zuckte seltsam mit den Augenbrauen, zügelte sich aber rasch wieder. »Und dann ist da noch unser Vermieter, Herr Miesbauer. Er hat sicherlich einen Generalschlüssel.«
»Sonst niemand?«
»Nein. Niemand. Nicht, dass ich wüsste.« Dann schlug sie sich mit der Hand gegen die Stirn. »Ach, natürlich! Da wäre noch sein Sohn, fällt mir gerade ein. Der treibt sich seit Neuestem wieder in Karlsruhe herum. Frisch geschieden und vor die Tür gesetzt, obwohl er zwei kleine Kinder hat. Vor dem Rauswurf hat er unten in München...