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Sebastian Schwartz, Auszubildender zum Tierpfleger im Zoologischen Stadtgarten Karlsruhe, der sehr erfahren im Umgang mit aggressiven Mardern, launischen Flusspferden und anderem bissigen Getier war, steckte mal wieder in einer heiklen Situation: Kira Mauerfuchs stand neben ihm, rümpfte die Nase und stemmte die Hände in die Hüften. Eine Drohgebärde, mit der sie ihre Mitmenschen bereits aus sicherer Entfernung davor warnte, sich nicht mit ihr anzulegen.
»Rosa? Warum ausgerechnet rosa?«, fauchte sie ihn an. »Eine furchtbare Farbe. Viel zu langweilig, und vor allem stereotyp. So etwas kann sich doch nur ein Mann ausgedacht haben.«
»Was ist dein Problem?«, fragte er. Trotz allem zählte er zu den wenigen Menschen, die es sich erlauben durften, Kira zu widersprechen. »Du färbst dir doch selbst die Haare. Schau hier: rot, blau, ein Ansatz von grün.« Mehrmals versuchte er, mit dem Zeigefinger eine der bunten Strähnen zu berühren, doch Kira wich ihm mit geschickten Kopfbewegungen aus, als ob jemand Dartpfeile auf sie werfen würde.
»Ja, aber nicht rosa«, protestierte sie. »Und ich habe mich freiwillig dafür entschieden. Im Gegensatz zu denen.«
Sebastian seufzte, dann öffnete er das Gatter zum Flamingo-Gehege. Ein Dutzend Vögel, die zuvor noch die Morgenruhe genossen und entspannt ihre langen Hälse in den Himmel gestreckt hatten, kamen nun mit grazilen Schritten auf ihn zugelaufen. »Siehst du? Sie machen das auch freiwillig«, meinte er, während er aus dem Beutel, der über seiner Schulter hing, eine Handvoll brauner Pellets holte und in einen mit Wasser gefüllten Bottich warf.
Kira antwortete mit angewidertem Blick: »Ich verstehe dich nicht. Du selbst kritisierst ständig, dass Tieren künstliche Zusätze ins Futter gemischt werden, und dann machst du so etwas. Flamingos sind von Natur aus weiß, und das soll auch so bleiben.«
»Ja, aber in ihrer Heimat tragen sie trotzdem alle rosa«, widersprach Sebastian. »Sie färben sich ihre Federn selbst, weil sie eine spezielle Krebsart fressen, die sehr viel Carotin enthält. Und die Leute wollen nun mal rosa Flamingos sehen. Aber ich kann dich beruhigen, Schmetterling, dieser Stoff in den Pellets«, Sebastian warf einen Blick auf die Zutatenliste des Beutels, »Canthaxanthin - er ist völlig harmlos, der kommt sogar in Pfifferlingen vor. Früher hat man versucht, die Federn mit Paprikapulver und Möhren zu färben, aber die Flamingos haben das nicht gefressen. Diese Pellets allerdings sind beliebt, die Flamingos verwechseln sie mit Krebsen, weil sie auf dem Wasser schwimmen. Außerdem enthält das Zeug wichtige Proteine, Kohlenhydrate, und nur ganz wenig Farbstoff. Ich habe da keine Bauchschmerzen, und die Flamingos ebenfalls nicht.«
»Ich schon.« Kira verschränkte die Arme und drippelte mit dem Fuß. »Hey, Fledermaus. Klartext: Ich will in unserem Zoo nur noch weiße Flamingos sehen. Was hältst du davon, wenn wir ab jetzt diese Pellets einfach mal weglassen?«
Sebastian starrte sie kopfschüttelnd an. »Dr. Gimpel wird das aber nicht gutheißen.«
»Der Zoodirektor heißt alles gut, was ich ihm empfehle. Los, komm schon, nimm die Hand aus dem Beutel. Tu es für mich.«
Sebastian zögerte. Immerhin stand hier auch sein Job auf dem Spiel. Der Abschluss seiner Ausbildung war nur noch drei Monate entfernt, und Dr. Gimpel hatte ihm bereits die Übernahme in eine unbefristete Stelle angeboten, was er auf keinen Fall vergeigen durfte. Andererseits war es aber auch keine gute Idee, Kira einen Gefallen abzuschlagen, wenn er sie davon überzeugen wollte, bei ihm im Zoo zu bleiben. »Also gut, Schmetterling«, stimmte er schließlich schweren Herzens zu. »Aber du trägst die Verantwortung. Und falls es Ärger gibt: Ich habe damit nichts zu tun, okay?«
Kira nickte stumm, dann brach Sebastian mit ihr auf, um noch weitere hungrige Mäuler zu stopfen. Mindestens zweimal in der Woche unternahm er mit ihr früh am Morgen einen Rundgang durch den Zoo. Dabei erklärte er, wie sie das Futter vorbereiten und korrekt dosieren musste, und überprüfte mit ihr, ob in den Gehegen alle Sicherheitsvorschriften eingehalten wurden.
»Hast du dich endlich entschieden?«, fragte er, als Kira einem Elefanten einen Apfel ins Maul steckte.
»Was passiert eigentlich, wenn man den Elefanten diese Flamingo-Pellets verfüttert?«, wich sie ihm aus.
»Oh Mann, bitte lenk nicht ab. Dein Volontariat dauert nicht ewig, und ich mache mir langsam Sorgen, weil ich dich schon seit zwei Monaten nicht mehr in der Berufsschule gesehen habe.«
»Was soll ich denn dort?«, antwortete Kira schnippisch. »Ich bin zurzeit in keinem Ausbildungsverhältnis. Meine alte Praxis ist immer noch geschlossen, weil es keinen Nachfolger gibt. Und bei anderen Tierärzten werde ich mich nicht bewerben, weil ich genau weiß, welches Chaos dort herrscht. Mein Ex-Chef hat mir oft genug von der Konkurrenz erzählt. Alles Stümper.«
»Ja, und genau deswegen solltest du hier im Zoo bleiben«, schlug Sebastian vor. »Bei unserem Direktor hast du einen Stein im Brett, und je schneller du mit der neuen Ausbildung anfängst, desto besser. Wenn du unbedingt den Ablauf der zwölf Monate abwarten willst, okay. Aber bitte brich nicht die Berufsschule ab. Du kannst die theoretische Ausbildung unabhängig von einer Lehrstelle weiterführen. Glaub mir: Alles wieder von vorn zu beginnen, wird unheimlich schwierig werden. Bitte, Schmetterling. Du bist jetzt fast fünfundzwanzig. Schmeiß nicht leichtfertig alles hin. Die meisten, die von der Schule abgesprungen sind, habe ich danach nie wieder gesehen. Denk doch zum Beispiel nur mal an Leon. Erinnerst du dich?«
»Leon, der Profi?«, erwiderte sie entsetzt. Sogar der Elefant stoppte das Kauen und blickte Sebastian entgeistert an. »Ist das dein Ernst? Du vergleichst mich mit dem?«
»Zumindest hat er nach der Insolvenz seines Malermeisters keine neue Stelle gesucht und sofort die Schule abgebrochen. Seitdem munkelt man, dass er aus Frust im Baumarkt die rote Malerfarbe mit umetikettierter Tomatensoße vertauscht.«
»Fledermaus, der Typ war selten blöd«, schnaubte Kira. »Er hat am Fahrplan der Bushaltestelle die Abfahrtszeiten immer mit den Ticketpreisen verwechselt.«
Nachdem Sebastian die Zäune auf Schwachstellen überprüft hatte, kletterte er im Zentrum des Elefanten-Geheges einen etwa fünf Meter hohen Baumstumpf hinauf. »Und den Luke, kennst du den noch?«, fragte er, während er an einem schwarzen Kasten herumhantierte, den Kira bisher noch nie wahrgenommen hatte.
»Du meinst Lucky Luke?«
»Richtig. Er hat sich innerhalb kürzester Zeit zweimal das Handgelenk gebrochen, und musste dann jedes Mal den Ausbilder wechseln, weil er für den Job nicht mehr geeignet war. Und irgendwann ist er dann einfach nicht mehr in der Schule aufgetaucht. Man vermutet, dass er inzwischen auf die schiefe Bahn geraten ist und Gras vertickt. Unter der Hand natürlich.« Sebastian wackelte mit den fünf Fingern der einen Hand, während er sich mit der anderen am Baum festklammerte.
Kira verzog keine Miene. »Hey, was willst du mir mit dem Gefasel eigentlich sagen?«
»Was ich sagen will: Schulabbruch lohnt sich nicht. Komm wieder in den Unterricht und nimm die Stelle im Zoo an.«
Kira tätschelte den Elefanten sanft am Hals und reichte ihm einen weiteren Apfel, doch ihr Blick ging ins Leere. »Ach, ich weiß nicht«, erwiderte sie leise.
»Du weißt nicht?«
»Nein, ich weiß nicht, ob ich das will.«
Sebastian wischte den schwarzen Kasten mit einem Tuch ab, dann hangelte er sich frustriert vom Baumstamm zurück auf den sandigen Boden. Mit traurigem Blick näherte er sich Kira. »Sehnst du dich so sehr nach deiner alten Praxis? Oder warum fällt dir die Entscheidung so schwer? Wo liegt das Problem? Bin ich es? Sag es, wenn es an mir liegt.«
Kira schüttelte den Kopf. »Du bist nicht mein Problem.«
Sebastian atmete erleichtert auf. Dass es nicht an ihm lag, zauberte ihm für einen Moment ein Lächeln auf die Lippen. Doch so richtig freuen konnte er sich nicht, denn er wusste: Die Last auf Kiras Schultern wog so schwer, dass auch er an seine Grenzen stieß. »Du kannst die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Du willst die Dinge wieder geraderücken, Rache am Tod deiner Mutter üben. Und solange das nicht erledigt ist, gibt es nichts auf der Welt, das dich glücklich macht. Und ich schaffe es einfach nicht, dir dabei zu helfen.«
»Fledermaus, ich war so nah dran«, sagte sie. »Ich weiß, dass die Tierpension meiner Mutter als illegales Versuchslabor missbraucht wurde. Das Implantat aus deinem Kater, das Geständnis meines Ex-Chefs, und die Daten auf seinem Computer sind eindeutig. Dieser feige Mörder, Dr. Kaltblum, hat das Labor abgefackelt und meine Mutter umgebracht, weil er das Projekt einstellen und alle Beweise beseitigen musste. Aber selbst heute, nach fünfzehn Jahren, ist diese Firma immer noch aktiv, entführt weiterhin Haustiere und pflanzt ihnen verdammte Chips ins Bein. Und wir schauen einfach nur zu.«
»Schmetterling, bitte«, versuchte Sebastian sie zu beruhigen. Doch Kira war nicht mehr zu bremsen. Selbst der Elefant wandte sich erschrocken von ihr ab und trottete in Richtung Dickhäuter-Haus davon.
»Aber es kommt noch besser«, wetterte sie weiter. »Ich weiß, dass dieser Schornsteinfeger, dem du aufgelauert hast, ein Handlanger ist, der schon von Anfang an die Drecksarbeit erledigt und die Versuchstiere für sie beschafft. Und das Allerschlimmste: Wir haben nichts gegen ihn in der Hand.«
»Schmetterling, ich habe wirklich alles versucht«, rechtfertigte sich Sebastian. »Die...