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ALTERN UND KREBS
Die Entdeckung des Anti-Aging - oder etwa nicht?
Jahrtausendelang sah die Menschheit ihrem körperlichen Zerfall zu - wie der niederländische Künstler Rembrandt, der seinen Alterungsprozess in 80 Selbstportraits dokumentierte -, ohne dass wir jemals auf den Gedanken gekommen wären, die Motive des Alterns in Frage zu stellen. Das änderte sich erst vor knapp hundert Jahren: Kurz nach der Weltwirtschaftskrise stolperten Wissenschaftler mehr oder weniger zufällig über eine erstaunliche Entdeckung.
Der amerikanische Börsencrash 1929 trieb Millionen Menschen in Amerika und Europa in die Massenarbeitslosigkeit, Armut und Not. Es bestand berechtigter Grund zur Sorge, dass sich diese Missstände in den darauffolgenden Jahrzehnten auf die Gesundheit und Lebenserwartung der Bevölkerung auswirken würden. In Untersuchungen an Ratten sollte daher geklärt werden, wie sich lebenslanges Hungern ab der Geburt oder nach der Aufzucht auf das Wachstum und die Lebenserwartung der Tiere auswirkte. Mit den daraus resultierenden Ergebnissen hatte allerdings niemand gerechnet.
Wie die Wissenschaftler vermutet hatten, verzögerte die stark kalorienreduzierte Ernährung die Entwicklung der Tiere, was sowohl am eingeschränkten Größenwachstum als auch am verringerten Durchmesser der Fellhaare nachweisbar war. Eine andere Beobachtung jedoch entsprach ganz und gar nicht ihren Vermutungen. Überraschenderweise lebten die Ratten mit begrenztem Nahrungszugang wesentlich länger und gesünder als ihre Artgenossen ohne Essenslimit (ad-libitum-Fütterung). Die Wissenschaftler beobachteten bei ihnen sowohl eine höhere durchschnittliche als auch eine gestiegene maximale Lebenserwartung - wobei Letztere das durchschnittliche Alter der langlebigsten zehn Prozent der Ratten angibt. Das bedeutet, die Tiere wurden nicht nur älter, weil sie insgesamt gesünder waren, wie es normalerweise der Fall ist, wenn die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, die ältesten Tiere lebten auch deutlich länger, als es Laborratten normalerweise tun. Der Effekt war beinahe genauso stark, wenn die Kalorienrestriktion erst nach der Aufzucht einsetzte, und zeigte sich in männlichen Tieren stärker als in weiblichen12.
Bei der Durchführung dieser Experimente vor 90 Jahren ließen die Wissenschaftler bereits eine beeindruckende methodische Klugheit erkennen, denn sie beschränkten lediglich die Kalorien in der Nahrung, also die zugeführte Energie, ohne zugleich lebenswichtige Mikronährstoffe wie Vitamine und Mineralien zu reduzieren. Denn ein verkürztes Leben durch Mangelversorgung mit einzelnen Mikronährstoffen lässt kaum Aussagen über normale Wachstums- und Alterungsprozesse zu.
Es war das erste Mal, dass ein wissenschaftliches Experiment die Möglichkeit offenbarte, die Lebensspanne durch einfache Umstellungen alltäglicher Gewohnheiten zu verändern. Plötzlich betrachtete sich die Menschheit nicht mehr mit den Augen eines alternden Malers. Sie warf ihren Pinsel fort und griff zu ihrem schärfsten Instrument, der wissenschaftlichen Methode, um durch alle Ölschichten und Leinwände hindurch ihr alterndes Selbst zu sezieren und nachzusehen, was sich wirklich dahinter verbirgt.
Inzwischen wurde die Kalorienrestriktion tausendfach in Experimenten an Ratten, Mäusen und anderen Tierarten, einschließlich Primaten, wiederholt. Die Ergebnisse dieser Studien und eine Vielzahl an Wirkstoffen, denen eine lebensverlängernde Wirkung nachgewiesen wurde, sind zum Motor einer milliardenschweren globalen Anti-Aging-Industrie geworden. Allerdings fallen viele dieser Studien, ebenso wie die daraus hervorgegangenen Bücher und Industriezweige, einer fundamentalen Wissenslücke zum Opfer.
Die natürliche Haupttodesursache von Mäusen und Ratten, die als Labortiere leben und nicht von Raubtieren verspeist werden, ist Krebs. Bei bis zu 95 Prozent aller verstorbenen Mäuse lässt sich nach dem Tod Krebs feststellen und bei 70 - 90 Prozent dieser Tiere ist Krebs auch nachweislich die Todesursache. Einige Rattenstämme, die in der Forschung eingesetzt werden, sind sogar noch anfälliger für Krebs als Mäuse. F344-Ratten beispielsweise lassen sich für manche Experimente gar nicht verwenden, weil sie früh und fast ausnahmslos an Leukämien und Hodentumoren erkranken. Man kann also zweifelsfrei sagen, dass Krebs bei diesen Tierarten, die auch heute noch als Goldstandard biomedizinischer Forschungsarbeiten gelten, die lebenslimitierende Pathologie ist. Alle experimentellen Maßnahmen, die in wissenschaftlichen Studien nachweislich die Lebensspanne von Mäusen oder Ratten verlängern, erzielen ihre Wirkung mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließlich durch verbesserte Krebsabwehr13.
Was lernen wir daraus? Die Lebensdauer allein ist in Wahrheit kein sonderlich aussagekräftiger Indikator für das Altern. Wenn wir von Altern sprechen, meinen wir die Gesamtheit aller Veränderungen, die im Laufe der Jahre zwischen jungen und alten Individuen einer Art in Erscheinung treten. Inzwischen haben wir hunderte dieser altersbedingten Veränderungen identifiziert, die man beobachten oder zumindest messen kann, aber nur ein sehr geringer Bruchteil von ihnen ist wirklich tödlich14. Alterserscheinungen wie graue Haare, Hautalterung, Osteoporose, nachlassende Muskelmasse oder grauer Star mögen lästig sein, aber sie bringen uns nicht um. Krebs oder Nierenversagen hingegen werden durch lebenslange Prozesse in unseren Körpern verursacht, die äußerlich lange unsichtbar bleiben. Und dennoch sind sie die lebenslimitierende Pathologie bei vielen natürlich gealterten Säugetieren.
Wer länger lebt, muss nicht automatisch länger jung bleiben. Er muss krebsfrei bleiben. Aus experimentellen und epidemiologischen Anti-Aging-Studien, die als Endergebnis nur die Lebensspanne auswerten, lässt sich in Wahrheit nur wenig über das Altern herauslesen. Ebenso wenig verraten uns diese Studien, ob die untersuchten Wirkstoffe oder Methoden die Krebsentstehung tatsächlich eindämmen, also ursächlich verhindern, oder ob sie das Krebswachstum nur symptomatisch behandeln, also verlangsamen oder im besten Fall stoppen13.
Auch aus dem wegweisenden Experiment zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise lässt sich nicht ableiten, ob die kalorienreduzierte Ernährung der Ratten die Entstehung neuer Tumore hemmt oder ob sie das Wachstum bereits etablierter Tumore lediglich verlangsamt. Solche Aussagen sind ohne geeignete Kontrollexperimente mit jungen Tieren überhaupt nicht möglich. Einige dieser Experimente wurden inzwischen jedoch durchgeführt, und ihre Ergebnisse legen nahe, dass bestimmte Ernährungsformen die Krebsentstehung symptomatisch und möglicherweise sogar ursächlich hemmen. Wie genau das funktioniert, ist Thema von Teil II.
Trotzdem ist nicht jede Form von Anti-Aging eine Farce. Manche Maßnahmen verlangsamen die Krebsentstehung und das Auftreten von Alterserscheinungen gleichermaßen.
Identische Alterungsprozesse laufen in verschiedenen Tierarten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab. Dies spricht dafür, dass es möglich ist, sowohl lebenslimitierende Alterserscheinungen wie die Krebsentstehung als auch diejenigen, die zwar lästig, aber weniger bedrohlich sind, enorm zu verlangsamen oder zu beschleunigen. Sogar Prozesse, die wir ohne Zögern dem Verschleiß zuschreiben würden, wie die Abnutzung von Gelenken und Bändern oder der Elastizitätsverlust von Bandscheiben und Augenlinsen, werden in Wahrheit durch genetische Schalter reguliert, an denen die Evolution und theoretisch auch Wissenschaftler im Labor drehen können15. Was uns im Alter den Ruhestand vermiest und eindeutig nach jahrelangem Verschleiß aussieht, geschieht in Mäusekörpern schon nach zwei Jahren - ein Alter, in dem menschliche Knorpel noch nicht einmal bis fünf zählen können.
In den letzten zehn Jahren wurden mehr Studien über das Altern publiziert als im gesamten Jahrhundert davor438. Anders als die Krebsforschung ist die Anti-Aging-Forschung momentan überfinanziert von privaten und kommerziellen Investoren, die sich das Patent der ewigen Jugend sichern möchten. Die Folge sind verfrühte Start-up-Gründungen, die in die Entwicklung von Wirkstoffen investieren, deren Wirksamkeit noch nicht einmal ausreichend wissenschaftlich bestätigt wurde.
Wir sollten positive Forschungsergebnisse ebenso kritisch hinterfragen wie negative, denn sonst übersehen wir vielleicht die viel wichtigeren und einfacheren Lektionen, die es noch zu entdecken gibt. Manchmal ist auch nur der Blickwinkel entscheidend. Vielleicht verlängert eine Unterversorgung mit Kalorien die Lebensspanne gar nicht durch die Wirkung irgendwelcher mysteriösen und unerforschten »Anti-Aging-Moleküle«, vielleicht liegt der Grund dafür vielmehr darin, dass ein uneingeschränkter Zugang zu hochkalorischer und somit energiereicher Nahrung, über den auch Labortiere gewöhnlich verfügen, unnatürlich und daher gesundheitsschädigend für Tiere ist, die im Laufe der Evolution unter realen Bedingungen niemals einem solchem Überfluss ausgesetzt waren. Eine hochkalorische Ernährung erhöht die Menge an Nährstoffen und wachstumsfördernden Hormonen im Blut. Gleichzeitig behindert langjährige Überernährung aber auch die Arbeit des Immunsystems und somit auch dessen lebenswichtige Überwachungsfunktion auf Krankheitserreger oder Krebszellen. Mit diesen Themen werden wir uns später noch genauer beschäftigen.
Das...
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