Schweitzer Fachinformationen
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»Tooooooo-niii-iooooo …!«
Nie habe ich seinen Namen häufiger gerufen als in den knapp vier Monaten seit dem Schwarzen Pfingstsonntag. Wenn ich hinzufüge »mit der ganzen Kraft meiner Stimme«, so meine ich meine innere Stimme, die unendlich lauter klingt und weiter trägt als das, was meine Stimmbänder im Zusammenwirken mit der vibrierenden Luft hervorzubringen imstande sind. Äußerlich ist mir nichts anzusehen.
Vergleiche das mit Weinen. Ich schäme mich manchmal Mirjam gegenüber, die sich, anders als ich, der Naturgewalt eines plötzlichen Heulkrampfs hinzugeben vermag.
»Auch wenn du keine Tränen siehst, Minchen, ich weine trotzdem mit dir«, habe ich ihr einmal erklärt (mit erstickter Stimme, immerhin). »Bei mir äußert sich dieser furchtbare Kummer wie eine innere Blutung. Er sickert oder strömt irgendwo in mir.«
Zu Beginn von Nabokovs Roman Lolita kostet der Erzähler Silbe um Silbe den Namen seiner Geliebten: »Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.«
Der Name meines Sohnes beginnt mit einem solchen Antippen der Zungenspitze an die Rückseite der Schneidezähne (T …), wonach sich die Lippen öffnen, um den Vokal o in seiner ganzen Vollheit der Luft preiszugeben. Der restliche Atem bringt mit Hilfe der höher gelegenen Nasenhöhle einen leicht quietschenden Nasallaut hervor (niii …) – kaum mehr als eine kurze Unterbrechung im langgedehnten ooo, das nun aus dem nach wie vor geöffneten Mund ungehindert weiterhallt.
Der ideale Rufname, dachten wir – auch im Wortsinn, wenn wir ihn später, ein draußen spielender Junge inzwischen, zum Essen hereinrufen wollten. Das zweite o ließe sich mühelos, anschwellend, bis zum Ende der Straße dehnen, notfalls bis zum Jacob Obrechtplein, wo er eines Tages mit seinen Freunden bei der Synagoge herumhängen würde.
Als Mirjam schwanger war, kam es uns nicht in den Sinn, mit Hilfe einer Ultraschallaufnahme das Geschlecht des Kindes feststellen zu lassen. Auch ohne Bestätigung durch die Medizintechnik waren wir beide überzeugt, es würde ein Mädchen – warum, weiß ich nicht mehr. Wir wollten es Esmée nennen, nach der Oper, die Theo Loevendie gerade komponierte und über deren Fortschritte er uns regelmäßig im Café Welling auf dem laufenden hielt.
Ein paar Wochen vor dem errechneten Stichtag kam Mirjam ins Badezimmer, wo ich verkatert in der Wanne lag. Sie stieß die Tür, die einen Spaltbreit offenstand, mit ihrem Spitzbauch ganz auf, und der schien durch die Art und Weise, wie sie beide Hände ins Kreuz stemmte, nur noch weiter vorzustehen.
»Und wenn es nun ein Junge wird?«
Mein Kopf schmerzte schon zu heftig, als daß ich ihn mir darüber noch hätte zerbrechen wollen. Seit Monaten lagen überall in der Wohnung Blätter mit Notizen für ein Referat, das Mirjam im Rahmen eines Niederländischseminars schrieb: eine vergleichende Untersuchung von Thomas Manns Novelle Tonio Kröger und dem Roman Geur der droefenis von Alfred Kossmann. Ich brauchte eines dieser Blätter nur von fern zu betrachten, schon sprang mir der Name Tonio Kröger ins Auge. Die ganze Wohnung bis hin zur Küche war übersät mit verschiedenen Ausgaben von Tonio Kröger, deutschen und niederländischen. Mirjam las mir Passagen aus ihrer Arbeit vor. Am Telefon hörte ich sie mit dem Dozenten, mit Kommilitonen darüber diskutieren. Immer wieder dieser vollmundige Name: »… wie es in Tonio Kröger heißt …«
»Ein Junge«, wiederholte ich, während ich einen schaumigen Arm nach Mirjam ausstreckte. »Der kann dann nur Tonio heißen.«
Ich bekam einen Klaps auf die Hand, daß die Flocken stoben. »Okay.« Mirjam watschelte wieder aus dem Badezimmer. Offenbar bedurfte es keiner weiteren Diskussion. Wir hielten nach wie vor an Esmée fest, aber jetzt hatten wir wenigstens einen Jungennamen in Reserve, für den undenkbaren Fall, daß.
Ein paar Tage nach der Badezimmerszene wurde, rund drei Wochen zu früh, unser Sohn geboren. Als ich vor dem Brutkasten stand, las ich von dem graurosa Pflaster auf seiner schmalen Brust wieder und wieder flüsternd seinen Namen ab, der mir immer besser zu gefallen begann.
To. Ni. Io.
Es hatte etwas von einer rollenden, brechenden, weiterrollenden Woge. Ni. Ein Name mit einer überwundenen Verneinung.
Na schön, es war ein Wagnis gewesen, aber wie sich herausstellte, paßte Tonio perfekt zu ihm. Als die Augen des kleinen blinden Mannes sich richtig öffneten, sahen sie einen genauso rund und konzentriert an wie die o‘s, die fettgedruckt auf der Geburtsanzeige standen.
Mein Kosename für ihn wurde wie von selbst Totò. Er lachte dann sabberiger, als wenn er seinen richtigen Namen hörte, deswegen würde er mich später also wohl nicht ermorden. Nachdem einige Jahre später der Mafiaboß Totò Riina auf Sizilien verhaftet worden war, sagte ein Besucher, der mich den Kleinen so ansprechen hörte: »Wie kannst du nur deinen Sohn nach einem Mafioso nennen.«
»Bis gestern hatte ich noch nichts von diesem Riina gewußt. Ich habe immer an Antonio de Curtis gedacht. Den neapolitanischen Komiker. Künstlername Totò. Er hat in Uccellacci e uccellini von Pasolini mitgespielt. Ein phantastischer Clown.«
Wenn Tonio in späteren Jahren irgendeinen Blödsinn angestellt hatte, nannte ich ihn Totò le Héros, nach dem Film von Jaco van Dormael. Dann lachte er noch lauter, allerdings auch etwas nervös, denn er wußte aufgrund meiner Erklärung, daß er als »Held« bezeichnet wurde, und das konnte alles mögliche bedeuten.
Mirjam hatte in der Anfangszeit ihren eigenen, eher an van den Vondels Werk erinnernden Kosenamen für ihn: Tonijntje. Wenn sie den aussprach, legte sie so viel Liebe in ihre Stimme, daß er wirklich nichts mehr zu befürchten hatte, und das wiederum ließ er uns selbstgefällig spüren.
»Na gut, noch fünf Minuten, Tonijn, aber dann mußt du wirklich kommen.«
»Ich bin traurig.«
»Wegen Runnertje bestimmt …« (Runner war sein Russischer Zwerghamster, den er vor Monaten tot in der Holzwolle gefunden hatte. Von Zeit zu Zeit, wenn es sich ergab, trauerte Tonio um ihn. So hatte er zusammen mit seinem Gitarrenlehrer ein kurzes Requiem für Runner komponiert.)
»Ich find es so schlimm, daß er tot ist.«
»Traurig, aber du mußt nicht weinen.«
»Ich spüre Tränen, die du nicht siehst.«
Bei all meiner Angst vor seiner Verletzbarkeit ist mir nie aufgefallen, daß die beweglichen o‘s, die mir so lebendig aus Tonios Namen zulachten, typographisch dieselben sind wie die, die mich aus der starren Kongruenz des Wortes »dood«, Tod, anstarren.
Als Mirjam und ich ihn das letzte Mal sahen, ragten zwei Drainageröhrchen aus seiner Stirn, ein kurzes und ein etwas längeres, wie Hörner. Sie waren dort einige Stunden zuvor angebracht worden, um die überschüssige Flüssigkeit aus seinem anschwellenden Gehirn abzuleiten. Bei allem, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, war in meinem eigenen Gehirn offenbar noch Platz für eine Szene aus dem Film Camille Claudel, den ich vor Jahren zusammen mit Mirjam gesehen hatte. Ich wollte sie daran erinnern, aber nein, nicht dort, nicht in dem Moment, unmöglich.
Der Bildhauer Rodin mustert eingehend eine kleine Nashornskulptur. »Es heißt Totò«, sagt eine der Claudel-Schwestern. »Wenn man es von vorn anschaut, hat man seinen Namen.«
Zwei verschiedene Hörner, zwei gleiche Augen. Obwohl das eine Lid ein wenig hochkroch, konnte man getrost sagen, daß Tonio die Augen geschlossen hielt, so daß das Bild nur zum Teil stimmte.
Mit »Antonio« durfte man ihm nicht kommen, aber ansonsten mochte er seinen Namen, inklusive aller Ruf-, Schmeichel- und Kosevarianten. Nur wenn er wieder einmal, bei einer Anmeldung in der Schule oder anderswo, nach seinen übrigen Vornamen gefragt worden war, kam er wütend nach Hause. Ein aufgebrachter Tonio kreuzte die Arme vor der Brust, in einer Art unvollständiger Verschränkung, bei der die gekrümmten Handgelenke wie zornige Buckel hochstanden.
»Warum hab ich nur einen Vornamen?«
»Ach, mein Junge, der Name Tonio ist schon so schön, so perfekt … warum sollte man ihn durch einen zweiten verschandeln?«
»Adri, jeder hat zwei Vornamen. Manche Kinder in der Schule haben sogar drei. Ich nur einen. Du hast auch drei.«
»O ja, und dabei kann ich noch von Glück sagen, daß sie keinen vierten drangehängt haben. Maria war damals sehr in Mode. Besonders für Jungs.«
Eines Tages, als er schon etwas größer war, habe ich ihm die Sache mit dem einen Vornamen erklärt. »Es ist meine Schuld, Tonio. Es liegt an mir, daß du nicht mehr Vornamen hast.«
Eine Selbstbezichtigung seines Vaters, davon wollte Tonio kein Wort verpassen. Er war sofort Feuer und Flamme und strahlte vor Vorfreude. »Dann will ich das jetzt endlich mal hören.«
»Gott, was tu ich mir da wieder an. Nun gut. Mama und Tante Hinde, wie heißen sie hinten? Und jetzt nicht wieder so albern sein und Arsch sagen. Das kennen wir langsam.«
»Rotenstreich natürlich.«
»Was ist der Nachname von Opa Natan?«
»Und du, Sohn von Mirjam Rotenstreich und Enkel von Natan...
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