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Tag 2: Sonntag, 29. Oktober
Anna schreckte aus dem Halbschlaf hoch, als die Frau neben ihr einen spitzen Schrei ausstieß. Die Maschine war in Turbulenzen geraten, rüttelte unangenehm hin und her, ächzte und knarzte, als würde der Stahl jeden Moment bersten.
»Sie haben Flugangst«, stellte Anna mehr fest, als dass sie es fragte. »Blödsinn«, gab die Frau zur Antwort, krallte ihre Hände in die Armlehnen und hielt die Luft an. Das Flugzeug sackte kurz nach unten und stabilisierte sich wieder. Anna lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Die barsche Reaktion ihrer Sitznachbarin zeigte deutlich, dass sie nicht zu dem Typ gehörte, der sich das Händchen halten lassen wollte, um mit seiner Panik fertig zu werden. Genau wie Christian. Ein einziges Mal war er mit ihr in ein Flugzeug gestiegen, und es war für sie beide der Horror gewesen. Anna hatte noch nie auch nur leises Unwohlsein beim Fliegen empfunden, nicht mal bei einem Trip mit einer Einmotorigen über ein Gebirge in Costa Rica, wo es so heftig zugegangen war, dass selbst hartgesottene Passagiere nach den Kotztüten gegriffen hatten. Doch nach dem gemeinsamen Flug mit Christian war sie völlig fertig gewesen. Christians Anspannung hatte sich auf sie übertragen, seine Aggression nach der Landung, mit der er den Stress abbaute, führte zum Streit. Sie war wütend auf ihn gewesen, weil er sich zwar aus beruflichen Notwendigkeiten jederzeit in ein Flugzeug setzte, sie ihn aber monatelang hatte bearbeiten müssen, bis er bereit war, mit ihr in die Provence in einen Urlaub zu fliegen, den sie beide bitter nötig hatten. Die ersten beiden Tage nach der Landung machte er ihr zur Hölle, gewissermaßen als Strafe für die Todesangst, die sie ihm aufgezwungen hatte, und zwei Tage vor dem Rückflug sank seine Laune schon im Voraus unter den Nullpunkt. Vier beschissene Tage, die, gemessen daran, dass sie nur eine Woche unterwegs waren, den ersten gemeinsamen Urlaub komplett vergifteten. Da gab es nichts zu verklären, auch nicht im Nachhinein.
Anna stellte ihre Rückenlehne senkrecht, unter ihnen waren schon Hamburgs Lichter zu sehen. Ärgerlich verscheuchte sie ihre Gedanken an Christian. Immerhin hatte sie sich zwei Monate in die Natur von Kanada zurückgezogen, um ihn zu vergessen. Zeitweilig war es ihr sogar gelungen. Je länger sie einsam und wie besessen über die Seen in British Columbia gepaddelt war, je mehr ihre Muskeln von den ausgedehnten Touren schmerzten, desto weiter schienen die traumatischen Erlebnisse des letzten Sommers in die Ferne zu rücken und mit ihnen die frustrierende Beziehung. Als sie sich gestern von ihrer Freundin Helga in Vancouver verabschiedete, fühlte sie sich leicht und befreit. Kanadas Größe hatte ihr den inneren Frieden zurückgegeben, glaubte sie. Was für ein Irrtum! Mit jedem Meter, den die Maschine dem Hamburger Flughafen entgegensank, verspürte sie einen stärker werdenden Sog, sich Christians Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Seine ungekämmten dunklen Locken, die tiefen Furchen in seiner braun gebrannten Haut, diese Landkarte von Schmerz, Wut und Enttäuschung, die grünen Augen, die so wild und auch so sanft blicken konnten .
Anna riss sich los und blickte zum Fenster hinaus. Die Maschine taumelte durch ein paar Wolken, sank und sank, sie hatten die Wolken nun über sich, es war bereits dunkel, Hamburgs Straßenbeleuchtung glitzerte verheißungsvoll, lange Autoschlangen, die sich im Stop-and-go-Verkehr durch die Straßen wanden, so viele Menschen unterwegs, Rushhour, Hektik, und irgendwo da unten, mittendrin war auch Christian, bloß nicht daran denken, lieber an ein heißes Bad, hatte sie eigentlich noch Holz für den Kamin? Es goss in Strömen, es stürmte, und die Landung war alles andere als sanft.
Nach schier endlosem Herumstehen am Gepäckband verließ Anna die Sicherheitszone und drängte sich durch die Menge der Wartenden. Sie nahm die begehrlichen Blicke der Männer, die ihr folgten, nicht wahr. Plötzlich rief jemand ihren Namen. Anna reagierte nicht. Nur ihre Mutter wusste, dass sie heute wiederkommen würde, aber ihre genaue Ankunftszeit hatte Anna bewusst verschwiegen. Sie wollte nicht abgeholt werden, schon gar nicht von ihrer Mutter. Doch dann wurde sie am Arm gepackt und festgehalten. Erschrocken drehte sie sich um. Vor ihr stand ein unverschämt gutaussehender Mann Anfang dreißig, in edlem Designeranzug und mit strahlendem Lächeln.
»Pete! Was machst du hier?«, rief sie.
»Ich bin dein Chauffeur und Gepäckträger. Wenn ich bitten darf?« Pete nahm ihr den Gepäckwagen aus der Hand und wies mit einer kleinen Verbeugung in Richtung Parkhaus.
Anna schüttelte unwillig den Kopf: »Woher weißt du .?«
Pete eilte los, und Anna hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten. Sie war müde und ausgelaugt von der langen Reise.
»Ich habe deine Mutter angerufen. Sie wusste zwar nicht, mit welcher Maschine du kommst, aber wozu bin ich Polizist?«
»Und was ist der Grund für diese Eskorte?«, fragte Anna misstrauisch. Sie fuhren im Aufzug auf Parkdeck sieben.
»Freundschaft?« Pete lächelte.
Anna sah Pete nur stumm an.
»Erklär ich dir im Auto«, fügte er hinzu.
Während Pete das Gepäck im Kofferraum seines Dienstwagens verstaute, ließ sich Anna mit bösen Vorahnungen auf dem Beifahrersitz nieder. Sie hatte Pete letzten Sommer kennengelernt und spontan eine Affäre mit ihm begonnen. Dann war alles aus dem Ruder gelaufen. Ihre Verbindung zu Pete, der damals als Profiler eines bundesweit ermittelnden Sonderkommandos Jagd auf einen Kindermörder machte, und die Tatsache, dass sie Psychologin war, führte auf verschlungenen Pfaden zu ihrer Verstrickung in den Fall. Dadurch hatte sie auch Hauptkommissar Christian Beyer kennengelernt, sich in ihn verliebt und versucht, nach Abschluss des Falls eine Beziehung mit ihm aufzubauen. Die allerdings aufgrund von äußeren Umständen und inneren Verletzungen grandios gescheitert war.
Wenn Pete nun hier auftauchte, um sie an einem Sonntagabend vom Flughafen abzuholen, war das kein gutes Zeichen. Sie hatten sich seit Monaten nicht gesehen. Sicher, ihre damalige Affäre war nach einigen Wirrungen in eine Art lockere Freundschaft übergegangen, aber allein schon aus Taktgefühl Christian gegenüber hatten sie sich trotz ihrer Verbundenheit eher distanziert verhalten. Und als die Beziehung zwischen ihr und Christian vollends in die Brüche gegangen war, gab es auch keinen Kontakt mehr zu Pete. Anna wollte Abstand gewinnen, von Christian und seiner ganzen Soko.
»Wie war es in Kanada?«, versuchte Pete Konversation zu machen, als er mit dem Wagen in den Verkehr einfädelte.
»Pete. Was ist los?«
Pete atmete ruhig durch. »Wir brauchen deine Hilfe.«
»Nein. Nein, vergiss es.« Anna schüttelte so vehement den Kopf, dass ihre Ohrringe hin und her flogen. Der Knoten, zu dem sie ihre schulterlangen brünetten Haare zusammengebunden hatte, löste sich auf und einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Es stand ihr gut.
»Hör mir doch erst mal zu!«, bat Pete sie.
»Nicht mal das!«
»Es geht nur um eine Zeugenaussage. Nichts Wichtiges vermutlich, die Frau ist höchstens eine Ergänzungszeugin. Sie ist die Mutter von Mohsen und glaubt, etwas zu wissen. Das Ganze ist garantiert Blödsinn, sie kennt weder das Opfer, noch hat sie in irgendeiner Weise mit dem Fall zu tun. Nicht im Entferntesten. Aber wir würden Mohsen gern den Gefallen tun, er nervt uns, weil seine Mutter ihn nervt.«
»Wer ist Mohsen?«
Pete wechselte ruhig die Spur und überfuhr eine Ampel, just als sie auf Rot umsprang. »Ein Rechtsmediziner. Stammt aus dem Iran. Seit ein paar Monaten der Assistent von Karen. Sie hält große Stücke auf ihn.«
»Und was habe ich damit zu schaffen?«
Pete warf Anna einen kurzen Blick zu, bevor er wieder die Spur wechselte. »Keine Ahnung. Glaub mir, ich würde dich gerne raushalten, aber sie will nur mit dir reden. Schätze, Mohsen hat ihr von deiner Beteiligung am Bestatter-Fall erzählt. Er hat selbst keinen Schimmer, was seiner Mutter im Kopf herumspukt, sie sagt es ihm nicht. Vielleicht möchte sie mit dir reden, weil du Psychologin bist, vielleicht, weil du eine Frau bist, ich weiß es nicht. Vermutlich ist sie eine gelangweilte, von ihrem muslimischen Mann unterdrückte Mutti, die sich bei ihrem Sohn wichtigmachen will. Aber du würdest uns einen großen Gefallen tun. Hör dir einfach an, was sie zu sagen hat, und das war's.«
Pete bog nach rechts ab.
»Warum fährst du durchs Nedderfeld? Das ist ein Umweg«, bemerkte Anna.
»Frau Hamidi wohnt in Lokstedt«, antwortete Pete so beiläufig wie möglich.
»Wo wir in einem großen Bogen vorbeifahren werden«, meinte Anna wütend, »und zwar bis vor meine Haustür. Oder du stoppst jetzt sofort und rufst mir ein Taxi!«
»Schon gut. Ich fahre dich nach Hause.«
Obwohl Pete nachgegeben hatte, begann sie, sich für ihre Absage zu rechtfertigen: »Ich will nicht, verstehst du? Egal, ob sie was zu sagen hat oder nicht. Ich will nie wieder vor eurer Pinnwand stehen und Fotos von Leichen betrachten, ich will nie wieder einem Mörder in die Seele blicken, ich will nie wieder gefesselt und bedroht werden und einen Toten mit offener Schädeldecke auf meinem Küchenboden liegen haben. Ist das deutlich genug?« Den letzten Satz schrie sie fast.
Anna öffnete das Fenster. Sie fühlte sich beklommen und atmete abwesend die feuchte, vom am Straßenrand herumwirbelnden Herbstlaub leicht modrig riechende Luft ein.
»Klar. Sorry«, murmelte Pete.
Anna beruhigte sich ein wenig. Nach ein paar Schweigeminuten fragte sie leise: »Wie geht es Chris?«
»Wer weiß das schon? Er hat den Kontakt nach seinem Weggang...
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