Schweitzer Fachinformationen
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Freitag, 24. Juni
»Ab hier müssen wir zu Fuß weiter. Ein kurzes Stück.« Der Beamte, der Christian und sein Team vom Flughafen abgeholt hatte, parkte das Auto an einer Verbreiterung des Weges, ganz eng an den Bäumen, durch die sich ein Pfad hindurchschlängelte. Christian öffnete die Beifahrertür und stieg entschlossen aus dem Wagen. Sein rechter Fuß landete in einer tiefen Pfütze. Er nahm es mißgelaunt zur Kenntnis und schlug den Kragen seiner zerknitterten Sommerjacke hoch. Dennoch lief ihm der Regen sofort durch die dichten schwarzen Locken in den Nacken. Er fluchte laut.
Eberhard, Volker und Karen entstiegen kommentarlos dem Fond des Autos, nahmen ihre Einsatztaschen aus dem Kofferraum und folgten Christian und dem Beamten bergab, den schlammigen Pfad entlang. Seit Stunden schüttete es wie aus Kübeln. Der Waldboden war inzwischen so aufgeweicht, daß er die Schuhe der Fußgänger ansaugte und sie bei jedem ihrer Schritte nur mit widerwilligem Schmatzen wieder freigab. Innerhalb weniger Minuten waren die fünf vollkommen durchnäßt, denn die Bäume standen nicht so eng, daß ihr Blätterdach Schutz bot vor den heftigen Sturzbächen, die sich aus dicken, bedrohlich tief hängenden dunklen Wolken ergossen.
Christian verdammte leise vor sich hin brummelnd das beschissene Wetter, den dieses Jahr viel zu kalten Juni, die feindselige Natur, die nutzlosen Meteorologen, die sich wieder mal geirrt hatten und also schuld waren, daß er das falsche Schuhwerk trug, er verfluchte sich selbst, weil er dem Wetterbericht geglaubt hatte, er verfluchte die Schuhindustrie, die nicht mal in der Lage war, ihre überteuerten Produkte zu imprägnieren, weswegen er schon nach dem ersten Schritt das Gefühl einer schweren, nassen Zeitung an den Füßen hatte, er verfluchte die profitgeile Wirtschaft, die korrupten Politiker, das Leben im allgemeinen und schließlich und ganz besonders und vor allem den Tod im speziellen, denn der führte ihn hierher in dieses unwirtliche, klamme Schlammbad.
Er war stinksauer. So sauer, daß seine grünen Augen noch grüner blitzten als sonst. Er war immer stinksauer, wenn er aus einem Flugzeug stieg. Weil er überhaupt wieder in eines eingestiegen war. Weil ihn die Angst völlig fertigmachte. Weil er wußte, wie seine Kollegen sich bemühten, es nicht zu bemerken. Weil er innerlich zu einem sabbernden Jammerlappen mutierte, der die zitternden Knie, den flauen Magen und den Selbsthaß nach der Landung einzig und allein mit dieser Stinkwut bekämpfen konnte. Er mußte einfach Dampf ablassen. Vor allem nach diesem besonders elenden Flug in dem elenden kleinen Cityhopper, der in einem elenden Auf und Ab und Hin und Her durch die Wolkenschichten getaumelt war, ständig damit drohend, sich den Naturgewalten zu ergeben und einfach nach unten zu stürzen, während die Passagiere in einem kollektiven Aufschrei ihre elenden Leben an sich vorbeiziehen sähen bis zu ihrem elenden Tod, wenn ihnen die Wucht des Aufpralls ein Ende bereiten würde.
»Wir sind da.« Der Beamte, dem sie den Trampelpfad entlang gefolgt waren und dessen Namen Christian schon wieder vergessen hatte, trat zur Seite und gab den Blick frei auf eine in trübem Grün, Braun und Grau komponierte Szenerie. Der Pfad mündete auf einen Waldweg vor einer Lichtung, die nach hinten von einem großen Felsen begrenzt wurde, in den zwei Figuren eingemeißelt waren. Rechts davon öffnete sich der Wald zu einem sanft geschwungenen, vom Regen verhangenen Tal. Vor dem Felsen war behelfsmäßig mit mehreren in den weichen Boden gebohrten Metallstangen eine weiße Plastikplane aufgespannt worden, um die Leiche und ihre unmittelbare Umgebung vor dem Regen und damit dem völligen Verwischen vorhandener Spuren zu schützen. Ein rotweißes Absperrband säumte den in Planquadrate unterteilten Fundort weiträumig. Die Spuren waren mit Tafeln markiert und systematisch numeriert. Etwas entfernt von der Plane, die unter dem Gewicht des Regenwassers bedrohlich durchhing, außerhalb der Spurenschutzzone, stand schweigend eine Gruppe von vor Nässe triefenden Beamten, aus der sich ein kleiner, älterer Mann in Zivil löste und auf Christian zuging. Er streckte die Hand aus. Christian ergriff sie.
»Sie müssen Hauptkommissar Beyer sein. Ich bin Kommissar Günter Philipp, herzlich willkommen im Saarland. Schön, daß Sie so schnell kommen konnten. Wie war der Flug?«
Christian ignorierte die Frage, zwang sich zum Minimum sozial geforderter Höflichkeit und begann, Philipp mit knappen Worten sein Team vorzustellen: »Karen Kretschmer, Rechtsmedizinerin.«
Philipp begrüßte die attraktive, junge Blondine angetan: »Sehr erfreut. Unser Doc war schon hier und hat sich die Leiche angesehen, damit wir keine Zeit verlieren, bis Sie da sind. Er wartet im Institut, um Ihnen bei der Sektion zu assistieren.« Karen nickte nur, wohl wissend, daß jede Verzögerung durch überflüssiges Geplauder Christian in diesem Moment nur verärgern würde.
»Volker Jung und Eberhard Koch«, fuhr er nun ungeduldig mit der Vorstellung fort. Philipp schüttelte ihnen die Hand und faßte zusammen: »Ein Jogger hat die Leiche heute morgen um sieben Uhr vierzehn entdeckt. Er ist im Präsidium und gibt seine Aussage zu Protokoll. Wir waren kurz vor acht Uhr hier, ich habe Sie gleich benachrichtigen lassen. Der Sicherungsangriff ist von unserer Seite so gut wie abgeschlossen, Beweismittel, Pflanzen- und Bodenproben sind gesammelt, Skizzen und Fotos gemacht worden. Viel zu sehen gibt es allerdings nicht. Hier regnet es schon seit Tagen.«
Christian hörte Philipp nur noch mit halbem Ohr zu, sein Blick und seine Konzentration waren auf die Leiche unter dem Plastikbaldachin gerichtet, der er sich nun langsam näherte. Karen, Eberhard und Volker hielten sich still im Hintergrund. Sie wußten von gemeinsamen Tatortbegehungen, daß ihr Chef, bevor er seinen analytischen Verstand einschaltete, erst einmal ein Gefühl für die Atmosphäre am Schauplatz entwickeln wollte. Plötzlich war es still über der Lichtung, keiner sprach mehr, keiner außer Christian bewegte sich. Selbst die Vögel blieben stumm. Nur Christians leise, schmatzende Schritte waren zu hören und das gleichmäßige Trommeln des Regens auf den Blättern.
Der Körper lag in etwa einem Meter Entfernung mittig vor dem Felsen, aufgebahrt auf einem offensichtlich sorgsam zusammengetragenen Bett aus Reisig und Laub. Rechts und links vom Kopf der Leiche standen zwei große cremefarbene Kerzen im Boden, deren Dochte zwar schwarz, aber kaum abgebrannt waren, vermutlich waren sie kurz nach dem Anzünden durch den Regen gelöscht worden. Die Leiche war in ein ehemals weißes Laken gehüllt, das inzwischen durchnäßt und fleckig war. Nur die über dem Tuch gefalteten Hände waren zu sehen. Schmutzige Finger, abgekaute Nägel. Und das Gesicht lag frei, ein Gesicht, so wächsern und bleich wie die Kerzen. Dunkle Haare, klatschnaß. Die Augen geschlossen. Ruhig. Ein Junge. Höchstens neun Jahre alt. Weiß. Rein. Unschuldig. Tot.
Christian blieb einige Minuten stumm vor dem Jungen stehen, betrachtete ihn. Dann wandte er sich langsam um und gab seinen Leuten das Zeichen zu beginnen. Wortlos kamen sie herbei, einer nach dem anderen. Karen begutachtete die Leiche. Volker und Eberhard vollzogen die Tatortarbeit nach, die von den saarländischen Beamten schon geleistet worden war. Doch sie mußten sich ein eigenes Bild machen und dabei überprüfen, ob etwas übersehen oder verfälscht worden war. Während sie wie immer sehr leise ihrer Arbeit nachgingen, fotografierten, filmten, suchten und untersuchten, Vergleichsmaterial sammelten, protokollierten, verpackten, hielten Philipp und seine Beamten respektvoll Abstand, was Eberhard, Volker und Karen angenehm überrascht zur Kenntnis nahmen. Vor einer Woche noch hatten sie bei ihren Ermittlungen wegen der letzten Leiche, die südlich von Augsburg gefunden worden war, mit der arroganten Mißgunst der bayrischen Beamten zu kämpfen gehabt, die sich durch die norddeutsche SOKO bevormundet fühlten.
Unterdessen stellte sich Christian auf die andere Seite der Lichtung in etwa zehn Meter Entfernung, um ein Gesamtbild des archaisch wirkenden Arrangements in sich aufzunehmen. Sein Gesicht, dieses Sammelsurium von attraktiven, aber kaum zueinander passenden Einzelteilen, die durch tiefe Furchen teils voneinander getrennt, teils durch sie verbunden waren, schien trotz völliger Bewegungslosigkeit in den untersten Muskelschichten zu arbeiten.
Christian spürte weder den Regen, der ihm durch die Haare übers Gesicht und in den Kragen lief, noch die Schwere seiner nassen Klamotten. Wie hypnotisiert starrte er auf den toten Jungen, starrte und starrte, als wartete er auf irgendwas, vielleicht ein Wunder, und das Kind könnte sich plötzlich erheben und lächeln, und alles wäre gut, doch das war es nicht, er löste den Blick, ließ ihn wandern, auf die Kerzen, den Felsen, das Leichentuch, den Jungen, die Bäume, er sog den modrig-feuchten Duft des Waldbodens ein, ließ das satte Grün der Laubbäume wirken, das monotone Tropfen des Regens von den Blättern. Wie lange war er schon nicht mehr im Wald gewesen? Monate vermutlich. Nein, fast ein Jahr. Als er noch zusammen mit Mona und ihrer Kampfhundattrappe … Christian unterbrach seine abschweifenden Gedanken energisch, denn ihm war klar, daß der menschliche Geist sich gerne Schlupflöcher sucht, um der Beschäftigung mit einem Anblick, wie er ihn gerade vor sich hatte, zu entkommen. Er atmete schwer, ohne es zu bemerken. Er konzentrierte sich, ohne zu denken. Er nahm Fährte auf.
Etwa eine Stunde später trat Eberhard flüsternd zu ihm: »Nette Kollegen hier im Saarland, sehr dezent – zumindest seit wir hier sind. Aber vorher muß eine Horde Bullen ’ne Stampede über die Spuren gelaufen sein. Sieht nicht...
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