Schweitzer Fachinformationen
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»Ich finde das mutig!«, sagt Uta auf einmal. Sie hält auf dem alten Sofa die Stellung, das man nicht mal geschenkt an einen Selbstabholer loswird. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen, die ausgeleierte Federung macht es unmöglich, ganz aufrecht zu sitzen, doch bewahrt sie Haltung. Bei manchen ist der Wein ein Weichzeichner, bei Uta paradoxerweise ein Austrockner. Wenn sie getrunken hat, ist sie aus sprödem Holz. So klingt ihr Satz auch nicht anerkennend, sondern wie ein Urteil. Ein Urteil, das Uta nach gut fünf Stunden Party fällt.
Dabei war sie es, die Alex ursprünglich die Idee, früher in Pension zu gehen, in den Kopf gesetzt hat. »Schule musst du dir nicht bis zum bitteren Ende geben. Irgendwann wird das ein Abnutzungskampf. Das können deine besten Jahre sein.« Alex' auf dem eigenen Mist gewachsene Idee scheint ihre alte Freundin weniger zu überzeugen. Nun, auch das ist nicht mehr bloß eine Idee, vor den Toren Frankfurts wächst in einer kleinen Halle in einem Industriegebiet ein unroher Rohbau auf sie zu. Es ist zu spät, meine Gute. Etwas an diesem Gedanken beschwingt Alex.
Wie spät ist es eigentlich? Ihr Handy liegt in der Küche, glaubt sie. Und es ist ja auch egal. Sie wird heute niemanden hinauskomplimentieren. Von ihr aus können sie durchmachen, als wären sie noch Studenten. Oder frisch in den Beruf eingestiegene Lehrer, erfüllt von der Liebe ihrer Schüler, erfüllt davon, dass, wenn man die Seiten gewechselt hat, Jungsein auf einmal ein Charisma darstellt. Von ihr aus können sie vier, die übrig geblieben sind, in noch einmal fünf Stunden draußen auf dem Dach sitzen und dem rot glühenden Sonnenball auf der anderen Rheinseite beim unaufhaltsamen Aufstieg zusehen. Vereinzelt, schweigend, verbunden. Der Sack einer Sommernacht würde zugemacht, die Sorte Fracht, die Alex auf leichter Schulter mitnehmen kann. Noch als Frau Mattmann hat sie in der letzten Stunde das berühmte Gedicht behandelt - es geht doch nichts über Ingeborg Bachmann -: Die große Fracht des Sommers ist verladen, / das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.
Eine halbe Stunde mag es her sein, dass jemand sich erhob und sich die meisten anschlossen. Wie es immer läuft. Es hätte auch eine Einzugsparty sein können, so locker bestückt und eigentlich schon nicht mehr eingerichtet, wie die Räume waren. Das hatte die Gäste locker gemacht. Eine gelungene Feier, im Bad wurde sogar getanzt. Partys, wenn sie einmal laufen, sind Partys, von der Zeitschnur abgefädelte Perlen, Auf?führungen ähnlich. Doch in Sichtweite der Tür wurde allen wieder bewusst, das hier war mehr als das Auseinandergehen am Ende eines 63. Geburtstags und - die Mehrzahl der Gäste waren Lehrer - das Hineingehen in die großen Ferien. Diese Verabschiedung war ein Abschied. Heute - oder war es schon morgen? Jemand warf tatsächlich, vermutlich als Übersprunghandlung, die alte partyphilosophische Frage auf -, jetzt und hier trennten sich Wege. Ging einer ab wie ein Ast vom Stamm, wie ein Zweig vom Ast: Wachsen, das nicht vorhat, Runden zu drehen, sondern etwas Abstehendes, wiewohl Federndes, ins Blaue strecken will. Die, die in der Tür stehen blieb, während ein Zufallsrudel aufgekratzt die Treppe hinunterpolterte, war die, die ihre Zelte abbrach. »Wir sehen uns aber wieder, Alex!« Mehrfach war das beschworen worden. Zwei hatten ihr sogar einen temporären Standplatz auf einem Feriengrundstück angeboten. »Standplatz, nicht Stellplatz«, hatte eine noch nach der finalen Umarmung wie eine gute Pointe wiederholt. Lehrer erweisen sich gerne als gelehrige Schüler. Der Unterschied der Begriffe war nach Alex' Erzählung, der man die Überschrift Symbol der Freiheit im Dickicht der Bürokratie hätte geben können, ein Refrain des Abends geworden.
»Ich weiß nicht, ob ich mich mutig finde.« Alex gießt sich noch ein Glas ein. Sie hebt Flasche und Augenbrauen in Richtung der verbliebenen Gäste: »Ihr?« - »Sehr gerne!« Samir, ein Referendar von ihrer Schule, springt auf, sodass sie keinen Schritt tun muss. Eigentlich merkwürdig, dass er noch geblieben ist. Der Höf?lichkeit hat er längst Genüge getan. Er scheint nichts dagegen zu haben, allein mit drei Frauen zu sein, die allesamt seine Mutter sein könnten. Und er scheint auch nicht woandershin zu wollen in dieser Nacht, die für einen Clubbesuch noch jung wäre.
»Mut . Das klingt in unserem Alter doch immer ein wenig verzweifelt, findet ihr nicht? Und verzweifelt bin ich gar nicht. Ein paarmal in meinem Leben war ich nahe dran. Ist wohl normal.« Sie dreht den Kopf zu Samir: »Wirst du auch noch merken. Aber gerade geht's mir gut. Das System ist aufgestellt. Bis jetzt klappt alles. Manchmal, wenn ich nachts im Bett liege, macht mich das misstrauisch, und ich denke, ich habe was Entscheidendes übersehen.
Ich will ja, dass was auf mich zukommt. Etwas, was ich nicht planen kann. Im Rücken das System. An der Anhängerkupplung. Und vor dir -« Statt den Satz zu vollenden, hebt sie die Schultern, breitet die Arme aus, das Glas in der Hand wie Sting die Geige auf dem berühmten Poster aus den Achtzigern, und dreht sich als Achse des Wohnzimmers mit dem Oberkörper nach beiden Seiten. Es ist dann nicht Sting, was sie zitiert, sondern ein anderer Hit aus jener Zeit, als sie so alt war wie Samir jetzt: »Wherever I lay my hat, that's my home.«
»Der wurde letztes Jahr noch zum heißesten Mann der Welt gewählt«, sagt Uta, niemandem zugewandt, in ihren Tunnel. »Mit fünfundsechzig.«
»Wer?«
»Paul Young. Manchmal möchte man ein Mann sein.«
»Ach, ich dachte, der ist tot«, sagt Alex.
»Das ist der andere. Gibt zwei Sänger, die so heißen. Also jetzt nur noch einen.«
»Forever Young.« Die zwei Wörter sind noch vieldeutiger, als Alex dachte, sie deutet ein kleines Lachen an.
»Davon gibt's ein Cover von Bushido mit Karel Gott«, bringt sich Samir ein.
»Wovon?«
»Forever young«, sagt er, leicht verwundert, dass sie das nicht gemeint hat. »Rapper triff?t Schlagersänger. Der, der so aussieht, als ob er Oma ausraubt, triff?t den, von dem sie schwärmt. Das ist gar nicht schlecht. Das Lied, also das Original, wird so oft gecovert und für Filme verwendet, der Sänger von Alphaville kann bis heute von den Tantiemen leben. Da schreibst du mit dreißig ein Lied und hast ausgesorgt.«
»Wie alt ist er heute?«
»Siebzig?«
»Dann passt der Titel doch.« Das war wieder Uta.
»Sorry, Samir«, sagt Alex. »Hast leider den falschen Beruf ergriffen. Als Lehrer macht man keine so großen Würfe und Sprünge.«
»Na, du ja schon. Jetzt.«
Es hat etwas Familiäres, wie er mit ihr spricht, und dass er diesen Ton vor anderen anschlägt, verstärkt das Gefühl. Bei den meisten jungen Kollegen ging es in den letzten Jahren in die andere Richtung. Sie traten wieder als Generation auf, die sich von den Älteren absetzte und abgrenzte, fast wie damals die Achtundsechziger, für die sie etwas zu jung war, zu denen Sebastian jedoch zählte. Manchmal hörte Alex in den letzten Jahren das abfällige Wort Boomer, nicht ihr ins Gesicht, aber trotzdem. Zuvor hatte sie es gar nicht gekannt.
Die Parallele zu den Achtundsechzigern ist bei näherem Hinsehen doch nicht so tragfähig. Damals waren es Revolutionäre. Natürlich war vieles übertrieben. Aber freier. Damals war die Jugend jünger. Heute sind sie mit noch nicht dreißig so angekommen. Manchmal passiv-aggressiv, moralinsauer, besserwisserisch. Besonders bei allem rund um Klima und Digitales. Sie ist nicht gegen das alles. Wie soll man da auch dagegen sein? Natürlich stattet sie ihr Tinyhouse mit entsprechenden Materialien und Dämmungen aus und mit schnellem Internet. Und ein Tinyhouse ist ja, weil es das Gegenteil von Wachstum verkörpert, per se nachhaltig. Was Alex stört, ist, wenn es in den Köpfen eng wird.
Ob das mit Samirs Migrationshintergrund zu tun hat, dass er erfreulicherweise anders ist und mit ihr so unbefangen, offen und humorvoll umgeht wie mit, sagen wir, einer Tante? Dann und wann hat er von Fahrten in die Stadt erzählt, wo er aufgewachsen ist - bei ihm ist das nicht mehr wie bei seinen Eltern Visegrad, sondern Köln -, beiläufig, doch gerade dadurch wurde spürbar, wie viel ihm Familie und Verwurzelung bedeuten. Für ihn waren zweihundert Kilometer, einfache Strecke, ein Katzensprung, das fuhr er an einem Abend, hin und zurück, nur um seinen Eltern etwas vorbeizubringen. Und nach Bosnien ging es ohne Zwischenstopp. Er fährt auch einfach gerne Auto. Und gerne schnell. Das ist das Einzige an dem sanften, gut aussehenden jungen Mann, was dem Klischee vom migrantischen Proll entspricht. Einmal durf?te sie bei ihm mitfahren, in einer Sommernacht. Fenster runter, Musik laut.
Was Alex an Samir sah und was ihr davor nie von so Nahem begegnet war: dass zwei...
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