Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ist die Jahreszeit wichtig? Ja, wahrscheinlich. Am 8. November knallt der Himmel durch die Fensterfronten der Sportschule wie eine Stahlwand, in der sich Abgase spiegeln, sie zieht ihre Schuhe aus, verbeugt sich mit gekreuzten Unterarmen und sagt ein Wort, das sie seit zehn Jahren wiederholt, ohne seine Bedeutung zu kennen oder wissen zu wollen. Oss. Sie unterwirft sich damit keiner Gottheit. Sie unterwirft sich einem ehemaligen Türsteher. Jürgen antwortet. Shomen ni Rei. Bedeutet irgendwas Richtung Demut. Demut, Anerkennung, Respekt für die, deren Wissen er weitergibt. Samurai, von denen keine Sau mehr weiß, wie sie hießen. Dann atmet er ein und zählt die Namen der Kämpferinnen auf, gegen die sie in Tiflis antreten wird. Er hält ihr ein Schlagpolster hin, flüstert, dass sie diesen ganzen, halb zu Tode gebotoxten Chayas jetzt mal richtig schön in die Fresse hämmern und sich mehr wie ein Handwerker hinstellen solle, nicht wie ein Boxer, wenn sie irgendeinen Vorteil in diesem Sport habe, dann den, dass sie kein Mann sei, das müsse sie doch langsam gerafft haben.
Danach schmeißt er ihr einen Medizinball gegen die Bauchdecke. Zwanzigmal. Vierzigmal. Er ist sechsundfünfzig, hat ein Jagdgewehr und einen Zweitwohnsitz in Kapstadt. In der DDR hat er illegale Kämpfe in Bunkern organisiert, sie weiß bis heute nicht, wer an diesen Kämpfen teilgenommen hat, vermutet aber, dass da eine Menge Nazis am Start waren. Er selbst ist keiner. Er ist Unternehmer. Halbkubaner, sieht man aber nicht. Hat was von Clint Eastwood. Verachtet Versager. Es gibt ein Video, aufgenommen in einer Turnhalle, in dem ein oberkörperfreier Teenager auf einer Bank liegt. Auf dem Bauch des Teenagers liegt eine Melone. Jürgen steht hinter ihm und hat ein Schwert in der Hand. Er schafft es, die Melone mit diesem Schwert zu spalten, ohne den Jungen zu verletzen. Danach grinsen beide händeschüttelnd in die Kamera, als hätten sie gerade einen Staatsakt vollzogen. Figuren aus einem Tarantinofilm, die jemand in die falsche Kulisse gephotoshoppt hat.
Jürgen würde besser in irgendeinen japanischen Tempel passen, stattdessen steht er in dieser Ostberliner Turnierhalle zwischen Tapeziertischen und Wasserspendern rum und liest sich im Internet Bewertungen von Handstaubsaugern durch. Er schwitzt nicht, nie. Er scheißt seine Schüler auch nicht unkontrolliert zusammen. Bei Kämpfen ist er der einzige ihr bekannte Coach, der hinter dem Käfiggitter nicht brüllt, sondern flüstert.
Er sagt ihr, dass er sich Videos von Ronda Shephard angesehen habe. Dass Ronda gerade nichts anderes mache, als aus Thailand angereiste Sparringspartner in Nahdistanz zu verdreschen. Dass die Sache klar sei, dass sie mit den herkömmlichen Trainingsmethoden bei ihr nicht weiterkomme, sie müsse sich auf diesen Fight gegen Ronda Shephard vorbereiten wie auf einen dreckigen Straßenkampf, »sonst hast du keine Chance. Wenn du normalerweise im Käfig deinen Job machst, alles geil und so, das ist aber immer wieder so rein und raus und auseinander und zusammen. Das klappt mit der nicht, die ist ein Berserker geworden, seit sie dich ausgeknockt hat, da kommst du nicht weit, die bleibt an dir dran, die ganze Zeit, und haut dir so lange in die Fresse, bis du auf dem Arsch liegst.«
»Können wir das nächste Woche besprechen?«
»Nein.«
Er sagt ihren Namen, damit sie sich konzentriert. Zweimal hintereinander.
»Hör mir zu. Auf der Straße hast du keine Angst davor, getötet zu werden. Du hast Angst, jemanden töten zu müssen. Guck nicht so verständnisvoll, du tust so, als würdest du wissen, worum es hier geht. Aber du hast keine Ahnung. Die Angst, töten zu müssen, um nicht selber draufzugehen, wird zu einer Spannung, die du nicht lange aushältst. Zumindest solange es keine Fluchtmöglichkeit gibt und du nur Feinde siehst. Wenn diese Feinde stolpern oder stürzen, baut sich die Spannung nicht ab. Sie ändert nur ihre Richtung. Und diese Richtungsänderung -«, er hält kurz inne, um ihr endgültig klarzumachen, dass es sich hier um eine Lektion handelt: »Das ist der Killerinstinkt.«
Dann atmet er aus. Fünf Sekunden. Sechs Sekunden. »Das instinktive Verlangen, zu töten. Es setzt ein, wenn der andere längst verloren hat. Im Krieg bedeutet das unfassbare Zerstörung, im Zweikampf einfach nur unfassbare Brutalität. Hat die Natur scheiße eingerichtet. Man will die Situation, in der man unter Umständen jemanden töten muss, beenden. Deshalb tötet man ihn. Und deshalb beobachten auch alle immer die Hände, sie warten auf einen schwachen Moment. Du vermeidest Augenkontakt und guckst dir die Hände an, einfach kurzer Freeze, ah, kommt da jetzt noch was von dem oder nicht, und in beiden Fällen muss er vernichtet werden. Dauert zwanzig Sekunden, nicht länger.«
Er deutet die Schläge an, zieht seine Karatejacke aus, hat nur ein Unterhemd drunter, man sieht einen Teil der Skyline von Greifswald, die er sich kurz vor der Bundeswehr auf die Brust hat tätowieren lassen, daneben das traditionelle Thaitattoo und die Babyfaces seiner Kinder.
Die Angst, jemanden umbringen zu müssen, löst sich erst dann auf, wiederholt er, wenn das Opfer am Boden liegt. Und dann killt man es. Einfach so. Das sei in militärischen Auseinandersetzungen ähnlich, könne sie ruhig mal ihrer Affäre aus dem Verteidigungsausschuss erzählen. Wenn der Gegner sich zurückziehe oder panisch fliehe, passierten die grausamsten Tötungsakte.
Sie wird an diesem Nachmittag ohnmächtig. Jürgen behauptet, sie habe zu wenig gegessen. Aber sie kennt ihren Körper gut genug, um zu wissen, dass er nicht einfach so aus Unterzuckerung zusammenbricht.
Ein Teenager aus Albanien donnert sein Schienbein auf ihren Oberschenkel, sie verliert das Gleichgewicht, knallt auf den linken Rippenbogen und merkt, dass ihr Quadrizeps zittert. Der Typ hat was von einer Lokomotive. Zu viele Muskeln für sein Alter. Einer dieser affektierten Bulldozer, deren Väter sich schon vor dem Brutkasten geschworen haben, ihren Säugling zu einer Kampfmaschine zu machen. Es gibt eine Menge davon. Irgendwann, sofern sie sich dagegen nicht gewehrt oder angefangen haben, Gedichte zu schreiben, sehen die sich alle ähnlich, haben den gleichen Gesichtsausdruck und enden depressiver und fetter und bekloppter, als ihre Väter es sich hätten vorstellen können. Er ist einer der wenigen hier, die Aggressivität in diesem Sport für effektiv halten. Hat letzte Woche einem Anfänger das Jochbein gebrochen. Wiegt achtundzwanzig Kilo mehr als sie.
Sie steht wieder auf, verdrängt den Schwindel, tritt zurück, lässt seinen nächsten Tritt, statt ihn abzufedern oder aufzunehmen, an ihrem angewinkelten Schienbein abprallen, greift mit der rechten Hand in seinen nassen Nacken, zieht mit ihrem rechten Bein einen Halbkreis, stellt sich dabei vor, sie wäre die Spitze des Zirkels, mit dem sie in der Grundschule ganze Weltkriegsgefechte in den Umschlag ihres Mathehefts geritzt hat, und schafft es, weil er mit dieser Bewegung nicht gerechnet hat und sein Gleichgewicht verliert, ihn in eine Position zu bringen, in der sie einen Kniestoß in sein für den Bruchteil einer Sekunde zu Boden gerichtetes Gesicht landen könnte. Lässt sie aber. Kurz vor seiner Stirn bremst sie ab. Spürt, wie ihre Knie nachgeben, fällt hin, kämpft sich wieder ins Stehen, merkt, dass ihr schlecht wird. Sie stützt sich mit durchgestreckten Armen auf den Oberschenkeln ab und verliert das Bewusstsein, das heißt, ihr wird schwarz vor Augen, nur kurz, drei oder vier Sekunden. Sie fällt, steht auf. Schafft zwei Schritte. Und sackt sofort wieder in sich zusammen, wie eine fallen gelassene Marionette.
Nachts wird sie zum ersten Mal von Schritten wach. Ein schnelles Gehen, immer im Kreis. Es klingt nicht nach Einbrechern, eher, als würde jemand unter Zeitdruck ein religiöses Ritual ausüben. Die Schritte dröhnen durch die Decke. Sie wohnt im fünften Stock. Über ihr ist der Dachboden. Er ist zu niedrig, um darin stehen zu können, deshalb hält sie die Schritte für Einbildung und schläft wieder ein. Nein. Sie schläft nicht ein, nie, sie lässt sich von ihrem Körper zu Erholungsphasen zwingen, aus denen sie beim leisesten Windhauch aufschreckt.
Der nächste Sound ist sanft und abgehackt und dringt durch das gekippte Küchenfenster, bisschen wie Meeresrauschen, als würde jemand meditative Wellenklänge auf einem Tonband abspielen und immer wieder die Stopptaste drücken.
Als sie die Augen öffnet, ist es hell. Sie guckt von ihrem Bett aus durch das Küchenfenster. Selbst im Hochsommer erweckt dieser Ausblick den Eindruck einer komplett im Nebel versunkenen Umgebung, weil sie jeden Morgen die Brandmauer, die ihr die Sicht versperrt, mit dem Himmel verwechselt. Es wirkt, als hätte jemand seinen Aschenbecher in der Fassadenfarbe ausgeleert, eine trübe Fläche, die nicht zu durchdringen ist. Heute ist etwas anders. Sie begreift nicht sofort, was, sieht nur, dass das Grau von massiven schwarzen Strichen durchzogen wird.
Sie stürzt zum Fenster, wie ein Tier, das von einem Schuss aufschreckt. Die Wand ist mit Zeichen bemalt. Keine Buchstaben, keine Hieroglyphen. Eher runenartig. Jedes der Zeichen ist knapp einen Meter groß. Wirkt wie eine verlorene Sprache. Ein archäologischer Fund. Mit der linken Hand tastet sie auf der Fensterbank nach Zigaretten, die rechte ballt sie zur Faust. Die Zeichen bedeuten etwas. Das spürt sie. Sie spürt es nicht nur, sie weiß es. Sie starrt und starrt, in derselben, aussichtslosen Heftigkeit, mit der sie versuchen würde, durch Telepathie einen Stahltresor zu knacken. Und sie wird ungeduldig, weil das Starren...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.