Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Rudolf Gabler stand am Fenster seines Pensionszimmers und schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach neun und er wusste, dass er nur noch wenig Zeit hatte. Das Wetter hatte sich geändert. Der Wind hatte zugenommen und peitschte die Wellen heftig gegen das Land. Er griff nach seinem Fotoapparat und überprüfte zum letzten Mal die Batterieanzeige. Zufrieden packte er den Apparat wieder zurück in die Tasche.
Er kannte sich aus mit der Fotografie. Seine Fotos waren keine bloßen Abbildungen der Realität. Die Bilder sollten immer auch seinem künstlerischen Anspruch genügen. Darauf legte er Wert, das war sein Markenzeichen.
Die Fotografie war nur eine seiner Leidenschaften, doch die andere hatte er längst schon vergessen.
Er war alt geworden, die Zeit hatte ihn eingeholt und seine einstmals pechschwarzen und vollen Haare waren jetzt grau und dünn.
Ehe er ins Badezimmer ging, warf er noch einmal einen sorgenvollen Blick nach draußen. Die Dunkelheit legte sich über die Insel und bedeckte das schäumende Wasser der aufbrausenden See. Noch regnete es nicht und er hoffte sehr, dass es in dieser Nacht trocken bleiben würde.
Plötzlich klingelte das Telefon. Gabler erschrak. Eilends lief er hinüber zum Apparat. Wer konnte ihn zu dieser Zeit noch anrufen? Neugierig nahm er den Hörer ab und meldete sich mit einem leisen »Hallo«.
Er erkannte ihre Stimme sofort. »Soll ich Ihnen zwei Brötchen für das Frühstück besorgen?«, fragte Frau Melsung, die Betreiberin der Ferienpension.
Sein Körper entspannte sich. »Nein, danke. Ich muss heute noch einmal hinaus. Es kann sein, dass es den ganzen morgigen Tag dauert, ehe ich zurückkehre.«
Sie sprachen noch eine Weile miteinander, dann verabschiedete er sich.
Er blickte erneut auf die Uhr. Es wurde Zeit. Er nahm seine dicke Windjacke von der Garderobe und zog sich die Gummistiefel an. Dann griff er nach seinem Fernglas und hängte es sich um den Hals. Es war ein exzellentes Glas, bot eine hervorragende Vergrößerung und war extrem lichtstark.
Als er hinaus ins Freie trat, fröstelte er. Der kalte Wind traf ihn mit voller Wucht. Er kniff die Augen zusammen und machte sich auf seinen Weg.
Sein Verleger würde staunen. Ein Foto des seltenen Austernfischers im Morgenlicht wäre eine Bereicherung für den geplanten Bildband. Noch immer war er sich über den Titel des Buches nicht im Klaren, doch darauf kam es auch gar nicht an. Zuerst einmal mussten die Vorarbeiten geleistet werden. Über dreihundert Fotografien lagen zu Hause in der Schublade, unzählige Textseiten hatte er geschrieben, redigiert, verworfen und neu verfasst. Schon sein erstes Werk war ein echter Erfolg in ornithologischen Fachkreisen gewesen.
Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als er den Verleger bei einer Ausstellung seiner Fotografien im Rathaus von Wilhelmshaven getroffen hatte. Sie waren ins Gespräch gekommen und der Verleger hatte sich nur lobend über seine Arbeiten geäußert. Er hatte den künstlerischen Wert in Gablers Bildern sofort erkannt und nicht lange gewartet, bis er ihm ein Angebot machte. Für sein Vorhaben suchte er noch einen Fotografen, dessen Werke eine unverwechselbare Ausstrahlung besaßen. Kunstwerke, die voller Ästhetik und Anmut die Schönheit der Vogelwelt darstellten. Rudolf Gabler hatte diese seltene Gabe. Der Vorschlag des Verlegers war mehr als akzeptabel und so unterschrieb Gabler den Vertrag. Ein paar Tage später war er auf Kosten des Verlages in den Schwarzwald gereist, um seinen ersten Auftrag zu erfüllen.
Es hatte damals gut getan, nach all der verlorenen Zeit wieder eine echte Aufgabe gefunden zu haben. Seit seiner unrühmlichen Entlassung vor sieben Jahren hatte er sich nicht mehr so geachtet gefühlt. Er war noch nicht bereit gewesen für die Pensionierung. Der Schulamtsleiter hatte ihm erklärt, dass es das Beste für ihn sei. Er hatte es schließlich eingesehen und schweren Herzens zugestimmt. Die Wochen und Monate zuvor, als er noch voller Kampfeskraft gewesen war und die Herausforderung annehmen wollte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Jeder neue Tag in der Schule kam einem Spießrutenlauf gleich und jedes neue Wortgefecht mit seinen Vorgesetzten ähnelte einem Kampf gegen Windmühlen. Egal was er tat, egal wie er sich verhielt: Er wurde den Makel nicht mehr los. Wenn er das Lehrerzimmer betrat, dann verstummten die Gespräche. Wenn er sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen unterhalten wollte, blieb es bei höflichen, aber nichtssagenden Floskeln, ehe sie ihn stehen ließen.
Schließlich hatte er kapituliert, die Flagge gestrichen und war zurück nach Jever gezogen. Er wusste, dass es am Ende nicht mehr darum gegangen war, ob er Schuld auf sein Gewissen geladen hatte; schon der leise Verdacht hatte genügt, ihm das Kainsmal auf die Stirn zu drücken. Sieben Jahre später redete niemand mehr davon. Nur er konnte nicht vergessen.
Er nahm den Weg am Bahnhof entlang. Die letzten Lichter von Wangerooge blieben hinter ihm zurück. Über die südliche Route wanderte er hinaus zu den Ostdünen.
Er liebte die Vögel und wusste, dass er sie bei der Brut nicht stören durfte. Er hatte einen lichtstarken Film eingelegt und würde in seinem Unterstand warten, bis sich die Gelegenheit ergab. Bei Tagesanbruch waren die Tiere am aktivsten. Ein schwebender Austernfischer und im Hintergrund nur die stürmischen Wolken des Küstenlandes, das wäre eine Aufnahme, wie er sie sich vorstellte. Trotz aller Geduld, die er brauchte, wusste er, dass er schnell handeln musste. Oft genug spielte das Wetter an der Nordsee Kapriolen. Gestern war es noch mild und trocken gewesen. Und heute? Für alle Fälle hatte er seinen Blitz aufgeladen.
Als Rudolf Gabler am Rollfeld des Flugplatzes vorüberging, begegnete ihm ein Pärchen, das in dieser stürmischen Nacht ebenfalls die Ruhe und Abgeschiedenheit des Ostteils der Insel suchte. Der sandige Weg beschrieb einen Linksbogen. Mittlerweile war es dunkel geworden. Gabler holte seine Taschenlampe hervor und richtete den hellen Lichtstrahl auf den Weg. Der Sand glitzerte. Dünen umgaben ihn. Drei Kilometer hatte er bereits zurückgelegt, er war das Wandern gewohnt. Es strengte ihn überhaupt nicht an. Er war fünfundsechzig und fühlte sich noch lange nicht alt, auch wenn ihm sein Spiegelbild oft genug das Gegenteil beweisen wollte.
Freunde aus vergangenen Tagen hatte er keine mehr. Sie wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Seine Frau war schon lange tot und Kinder hatte sie ihm nie geschenkt. Sie hatte nie diesen innigen Kinderwunsch in sich getragen, so wie er es von anderen Frauen kannte.
Seit über einem halben Jahr war er nicht mehr an ihrem Grab gewesen. Er schämte sich dafür. Andererseits war es gut, dass sie nicht mehr miterleben musste, welchen Streich ihm das Leben gespielt hatte. Seine Frau war immer zart und zerbrechlich gewesen. Sie wäre daran zugrunde gegangen.
Er war alleine mit seinen düsteren Gedanken, mit sich, mit dem Wind und den rauschenden und tobenden Wellen der Nordsee. Die Luft schmeckte frisch und er spürte einen salzigen Belag auf seinen Lippen.
Kurz hinter der Weggabelung zweigte ein Trampelpfad ab und führte mitten hinein in die Dünenlandschaft Wangerooges. Hier hatte er gestern bei Tageslicht den Weg verlassen, um nach dem Gelege eines Austernfischers zu suchen. Vorsichtig war er einige Meter weit durch die Dünen gegangen und plötzlich auf brütende Vögel gestoßen. Zuerst hatte er angenommen, die Brutstätten einiger Silbermöwen ausgemacht zu haben, doch dann hatte sein Blick das schwarz-weiß gefleckte Gefieder eines Vogels gestreift, der sich tief ins Gras duckte. Ein langer, gelber Schnabel und kleine, rote Augenpunkte, die nervös hin und her flogen. Sieben Gelege hatte er am Ende gezählt.
Doch die Einstellungen hatten ihm noch nicht zugesagt. Die Vögel saßen träge auf ihren Nestern. So hatte er beschlossen, den kommenden Morgen zu nutzen. Er hatte ein Nest ausgewählt, das im Schatten einer Düne lag. Eine ganz besondere Einstellung, wie er fand. In der Nähe hatte er sich mit einem Tarnnetz einen kleinen Unterstand gebaut. Dann war er einige Zeit geblieben. Die Vögel sollten sich an seine Anwesenheit gewöhnen. Am Nachmittag war er zurückgegangen, hatte sich hingelegt und vier Stunden geschlafen. Er wusste, dass es lange dauern konnte, bis er zufrieden war. Rudolf Gabler war ein Perfektionist. Er wusste genau, was er wollte, und war nicht bereit, auch nur einen Zentimeter davon abzuweichen. So war es eigentlich immer gewesen.
Damals, als er die neunte Klasse in Schortens übernommen hatte, war dieser Perfektionismus wohl auch einer seiner Angriffspunkte gewesen. Mit Schrecken dachte er an die Zeit zurück. Diese kleine durchtriebene Göre hatte es aber auch auf die Spitze getrieben. Ihm war die Hand einfach ausgerutscht. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Und alles nur, weil sie beinahe durchgefallen wäre. Er hatte es immer gesagt: Die Welt war schlecht, die Menschen waren schlecht und auch die Jugend wurde immer schlechter. Und er wusste, wovon er sprach, schließlich war er vom Fach.
Seine Frau hatte immer nur den Kopf geschüttelt, wenn er so redete. Sie wusste es vielleicht nicht besser. Sie hatte es immer nur mit den Jüngsten zu tun gehabt. Sechs- bis Achtjährige. Die waren noch leicht zu bändigen. Waren noch wirkliche Kinder, Kinder mit großen Augen und kleinen Stupsnasen. Er hingegen unterrichtete ältere. Dreizehn, vierzehn, manchmal sogar schon sechzehn Jahre alt. Sie ahnte ja gar nicht, welche Gemeinheiten diese Teufel in ihren Köpfen ausbrüteten.
Seine Frau hatte einen leichten Tod gehabt. Früh morgens...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.